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Photo: Navin75 from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,

vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass Sie am 11. Oktober 2011 in einem von der NSA abgehörten Telefongespräch Ihre Sorge geäußert haben, dass selbst ein zusätzlicher Schuldenschnitt die Probleme in Griechenland nicht lösen könnte. Einen Tag zuvor hatte ich die notwendigen 3500 Unterschriften für einen Mitgliederentscheid in der FDP gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus und weitere Hilfen für Griechenland beim damaligen Generalsekretär der FDP, Christian Lindner, abgegeben. Insofern hat uns beide zum gleichen Zeitpunkt die Sorge umgetrieben, dass die von Ihnen angestoßene Griechenland-Rettung nicht funktionieren wird.

Wie Sie wissen, habe ich am 7. Mai 2010 beim 1. Griechenland-Paket im Deutschen Bundestag erklärt, dass Griechenland nicht in der Lage sein werde, mit seiner Wirtschaft die Mittel zu erwirtschaften, die zur Schuldenreduzierung notwendig seien, solange Griechenland Mitglied der Eurozone sei. Notwendig wäre dafür ein Produktivitätsfortschritt der griechischen Wirtschaft von 30 Prozent, der in dieser kurzen Zeit nicht erreicht werden könne.

Der von Ihnen befürchtete Schuldenschnitt kam in zweifacher Ausführung im Frühjahr und Herbst 2012. Trotz des größten Schuldenerlasses in der Nachkriegsgeschichte hat Griechenland heute mehr Schulden als vor der Krise. Doch anders als zum Zeitpunkt Ihres nun bekanntgewordenen Telefonats sind die Gläubiger nicht mehr private Investoren, sondern fast ausschließlich staatliche Geldgeber. Es ist das eingetreten, was die Linken uns immer vorwerfen: Die Gewinne werden privatisiert und die Verluste sozialisiert.

Doch das ist vergossene Milch. Was können Sie in dieser Situation jetzt und heute tun? Meine Empfehlung ist: Sorgen Sie dafür, dass das Recht in Europa wieder zur Geltung kommt. Die griechische Regierung darf innerhalb des Euros kein weiteres Hilfspaket bekommen, da die Schuldentragfähigkeit bislang nicht gegeben war und sie auch künftig nicht gegeben ist.

Bedenken Sie bitte, dass die neue griechische Regierung unter Alexis Tsipras seit dem 27. Januar 2015 im Amt ist. Seitdem hat diese Regierung faktisch nichts unternommen, um die Einnahmen zu erhöhen sowie die Ausgaben zu reduzieren. Nach wie vor werden die Reeder in Griechenland nicht besteuert, fast 70 Milliarden Steuerforderungen werden nicht eingetrieben, und nach wie vor hat Griechenland einen der größten Militäretats pro Kopf der Bevölkerung in der Welt. Ich glaube inzwischen, dass dahinter nicht die Unfähigkeit der dortigen Regierung steckt, sondern eine Strategie, die zum Ziel hat, dass die Regierung Tsipras schon längst die Zeit nach dem Euro plant. Nur sie wollen nicht selbst den Euro aufgeben müssen, sondern sie wollen Sie, Wolfgang Schäuble, Mario Draghi und Jean-Claude Juncker für die Übergangsprobleme verantwortlich machen. Diese Strategie hat im Januar schon zum Wahlsieg von Syriza geführt. Die Maßnahmen der Troika und der Staatengemeinschaft wirkten wie Doping für die radikalen Kräfte in Griechenland.

Die Staatengemeinschaft sollte der Wahrheit ins Gesicht schauen und mit Griechenland über den Ausstieg aus dem Euro verhandeln. Der Ausstieg als Gegenleistung für einen Schuldenschnitt und anschließende Aufbauhilfen. Das wäre für beide Seiten ein akzeptabler Kompromiss. Es wäre in gegenseitigem Interesse. Heute infiziert Griechenland mit der ständigen Rechtsbeugung alle anderen Krisenstaaten in Europa. Gleichzeitig zwingt die Staatengemeinschaft Griechenland einen immer stärkeren Souveränitätsverzicht auf. Das hält keine Demokratie auf Dauer aus.

Nur wenn Risiko und Verantwortung wieder eine Einheit werden, nur wenn Regierungen und Staaten auf der einen Seite und Banken und andere Investoren auf der anderen Seite für ihr Handeln haften, nur dann hat der Euro als Gemeinschaftswährung eine Chance.

Mit freundlichen Grüßen
Frank Schäffler

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 4. Juli 2015.

Photo: Steffen Zahn from Flickr (CC BY 2.0)

Von Justus Lenz, Leiter Haushaltspolitik bei Die Familienunternehmer/Die Jungen Unternehmer

50,1 Prozent – das ist nicht etwa die Staatsquote in Deutschland (die liegt aktuell laut Bundesfinanzministerium bei 44 Prozent). Nein, es handelt sich um die Wahlbeteiligung bei der jüngsten Landtagswahl in Bremen. In den vergangenen Jahren gab es natürlich auch höhere Beteiligungsraten – die Tendenz ist jedoch deutlich rückläufig. Dies gilt gerade auch für Kommunalwahlen. Je höher die Quote der Nichtwähler, desto lauter das Lamentieren über die niedrige Wahlbeteiligung. Die einen schütteln resigniert den Kopf über die Menschen, die einfach nicht begreifen wollen, wie wichtig das Wählen ist. Die anderen wollen gleich eine Wahlpflicht durchsetzen.

Trotz aller Empörung: Vielleicht verhalten sich die Menschen einfach nur rational, wenn sie nicht zur Wahl gehen? Ein möglicher Grund hierfür könnte unser komplexes und verworrenes föderales System sein. Zurzeit gibt es keine klare Zuordnung von Entscheidungskompetenzen auf die verschiedenen Ebenen, wodurch die politische Verantwortung verschwimmt. Politiker können sich leicht hinter anderen Ebenen verstecken, während die Bürger die Folgen politischer Handlungen kaum mehr nachvollziehen können. Vor allem können sie in solch einem System die Folgen politischer Handlungen mit ihrer Wählerstimme kaum noch belohnen oder bestrafen. Die Wählerstimme verliert massiv an Wert.

Geprägt wird diese ineffiziente Anreizstruktur vor allem auch durch die verflochtenen Finanzbeziehungen. Das regionale Steueraufkommen wird über mehrere Stufen – eine davon ist der eigentliche Länderfinanzausgleich – so lange umverteilt, bis die Unterschiede nivelliert, ja teilweise umgekehrt werden. Gleichzeitig fehlt den Ländern die Autonomie, über ihre Ausgaben und Einnahmen selbst zu bestimmen. Stattdessen entscheidet der Bund beispielsweise über die Höhe der Steuersätze bei der Erbschaftsteuer, die dann an die Länder fließt. Die Situation der Kommunen ist vergleichbar. Auch sie haben nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, über die Höhe ihrer Einnahmen zu entscheiden. Auf der Ausgabenseite kann der Bund sowohl Ländern als auch Kommunen Zusatzlasten aufbürden, ohne für deren Finanzierung zu sorgen.

Die Vereinfachung der komplexen föderalen Finanzbeziehungen würde sicher nicht von heute auf morgen zu rasant steigenden Wahlbeteiligungen führen. Aber die Transparenz von politischen Entscheidungen würde so gestärkt und damit auch die demokratische Kontrolle. Dies könnte die Attraktivität von Kommunal- und Landtagswahlen deutlich steigern.

Praktischerweise müssen die föderalen Finanzbeziehungen ohnehin bis 2020 neu geordnet werden. Der Länderfinanzausgleich läuft Ende 2019 aus, ebenso der Solidarpakt II. Zugleich tritt die Schuldenbremse ab 2020 für die Bundesländer in Kraft. Diese historisch einmalige Situation sollten wir nutzen, um unsere Demokratie zu stärken. Die große Koalition könnte hier zeigen, dass sich das Adjektiv „groß“ nicht nur auf die Zahl der Sitze im Bundestag bezieht, sondern auch auf den politischen Gestaltungswillen.

Photo: Tony Webster from Flickr (CC BY 2.0)

Asyl für Edward Snowden forderte vor zwei Jahren eine Petition von Campact. Ehrenwert. Aber wer daraus schließt, dass Snowden ähnliche Überzeugungen vertritt wie Campact, liegt definitiv daneben. Er will einen beschränkten Staat – sie wollen einen Staat, der ihre Ziele verfolgt.

Gentechnik und höhere Steuern

Art und Ausmaß staatlicher Überwachung jenseits und auch diesseits des Atlantiks sind erschreckend. Das erkennen auch viele Aktivisten auf der linken Seite des politischen Spektrums. Die punktuelle, aber wiederholte Verletzung von Persönlichkeitsrechten haben sie ebenso als Problem erkannt wie die pauschale Dauerverdächtigung der Bürger. Ganz zu Recht schätzen sie den Mut Edward Snowdens, mit seinen Enthüllungen die Abgründe der Geheimdienste ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Und dennoch liegen Welten zwischen dem, was Campact sonst vertritt und fordert, und der Vorstellung, die Snowden von Staatstätigkeit hat.

Schaut man auf die Rubrik „Über Campact“ auf deren Website, dann kann man dort Forderungen finden wie: „Die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen lehnen wir ab“ oder „Höhere Einkommen und Vermögen müssen stärker an der Finanzierung unseres Gemeinwesens und des Sozialstaates beteiligt werden“. Dies sind Ziele, die ein gerütteltes Maß an staatlicher Präsenz bedingen. Ein Verbot von Gentechnik kann nur mit massiver Behörden- und in der Konsequenz Polizeipräsenz durchgesetzt werden. Man muss dafür zwar keine Telefone abhören, aber doch Felder und Gewächshäuser überwachen. Auch die stärkere Beteiligung höherer Vermögen und Einkommen an der Finanzierung des Sozialstaats wird nicht ohne zum Teil massive Überwachung vonstattengehen können. Denn mit steigenden Steuern würde natürlich auch die Steuerflucht zunehmen.

Der Zweck heiligt die Mittel

Campact ist gegen die staatliche Überwachung, wenn sie pauschal und flächendeckend geschieht, wie etwa bei der Vorratsdatenspeicherung. So weit so gut. Aber viele ihrer Ziele können nur erreicht werden mit dem Einsatz von gezielter Überwachung, die freilich nicht weniger tief in Persönlichkeitsrechte eingreift als pauschale Überwachung. Gerechtfertigt wird dann dieser Eingriff in die Grundrechte der Bürger implizit mit der Überlegenheit des Ziels. Mit anderen Worten: der Zweck heiligt die Mittel. Gentechnik ist so bedrohlich, mehr Umverteilung so wünschenswert, dass staatlicher Zwang zum legitimen Mittel wird.

In einem freiheitlichen Rechtsstaat dürfen aber gerade nicht unsere persönlichen Präferenzen die Leitlinien der Gesetze sein, sondern einzig und allein der Schutz der Freiheit jedes einzelnen. Ein Gesetz, das aus einem anderen Grund erlassen wird, erodiert diesen Rechtsstaat und öffnet der Willkür Tor und Tür. Diese Gesetze, die durch Privilegien oder Verbote politische Ziele durchsetzen sollen, widersprechen zutiefst der Tradition, die wir in unseren freiheitlichen Demokratien über Jahrhunderte entwickelt haben: Dass das Recht immer den Primat über die Politik haben muss.

Wenn Regierungen mehr darüber nachdenken, was sie tun können als was sie tun sollten

Diesen Primat geben diejenigen auf, die wie Campact konkrete politische Ziele über Vorschriften, Verbote und Steuern durchsetzen wollen. Snowdens Ansatz ist da ein fundamental anderer. Er hat seinen sehr mutigen Schritt nicht getan, weil er sich irgendwie unwohl fühlte angesichts des Überwachungssystems oder weil es seiner persönlichen Präferenz entsprochen hätte, nicht überwacht zu werden. Er hat das Treiben der NSA enthüllt, weil er den Primat des Rechts bedroht sah. Lassen wir ihn selbst zu Wort kommen:

„Unsere Rechte werden uns nicht von Regierungen gewährt. Sie sind Teil unserer Natur. Für Regierungen liegt der Fall genau andersrum: deren Rechte sind einzig auf das beschränkt, was wir ihnen zugestehen. Wir haben uns mit diesen Fragen in den letzten Jahrzehnten nicht so ausführlich beschäftigt, weil sich unser Lebensstandard in fast jeder Hinsicht signifikant verbessert hat. Das hat zu Bequemlichkeit und Selbstzufriedenheit geführt. Doch wir werden im Laufe der Geschichte immer mal wieder in Zeiten geraten, in denen Regierungen mehr darüber nachdenken, was sie tun können als was sie tun sollten. Und was gesetzeskonform ist, wird dann immer stärker von dem abweichen, was moralisch ist. In solchen Zeiten tun wir gut daran, uns zu erinnern, dass nicht das Gesetz uns verteidigt, sondern wir das Gesetz. Und wenn es sich gegen unsere moralischen Maßstäbe wendet, haben wir sowohl das Recht als auch die Pflicht, es wieder auf den Pfad der Gerechtigkeit zu führen.“

Wer fordert, Gentechnik zu verbieten und Steuern zu erhöhen, der fordert in letzter Konsequenz eine Regierung, die – um Snowden zu zitieren – darüber nachdenkt, was sie tun kann. Campact und ihre Unterstützer täten gut daran, sich mit Snowdens Motivation etwas genauer auseinanderzusetzen. Der Staat, den er sich wünscht, ist nämlich ein möglichst schlanker Staat, der sich so weit wie möglich aus dem Leben der Bürger heraushält. Das wäre das Gegenteil von dem Staat, den wir hätten, wenn Campact sich mit seinen Vorstellungen durchsetzen würde.

Photo: European People’s Party from Flickr (CC BY 2.0)

Jean-Claude Juncker ist ein Meister der Inszenierung. Und er beherrscht die Körpersprache wie kein anderer. Wenn er Ungarns Präsidenten Victor Orbán mit „Hallo Diktator“ und erhobenem Unterarm mit gestreckter Handfläche öffentlich begrüßt, dann soll diese wohl scherzhaft gemeinte Gestik sagen: „Victor, mach Dich nicht wichtiger als Du bist. Hier in Brüssel bin ich der Chef.“ Und wenn er dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras seinerzeit bei seinem Antrittsbesuch in Brüssel die Hand gibt und die andere Hand oben auf die Hand des Griechen legt, dann sagt er damit: „Ich kümmere mich um Dich in Deiner schwierigen Situation. Aber eins sollte Dir von Anfang an klar sein: Ich bin der Stärkere von uns beiden“. Und wenn er jüngst in dieser Woche Tsipras eine kleine Ohrfeige zur Begrüßung gibt, sagt er der ganzen Weltöffentlichkeit: „Du kleiner, frecher Kommunist, ich habe Dich durchschaut. Jetzt ist aber Schluss mit Deinen Unverschämtheiten“.

Wenn seine besondere Freundin Angela Merkel gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Francois Hollande eigene Vorschläge vorlegt, die eine engere Zusammenarbeit in der Euro-Gruppe ohne eine Änderung der europäischen Verträge anstreben, dann kann Juncker das natürlich nicht auf sich sitzen lassen, denn er ist der Präsident der EU. Er bestimmt die Richtlinien der europäischen Politik und nicht Merkel oder Hollande.

Und deshalb holt er in dieser Woche, wo die Medien rauf und runter über die Folgen eines Grexits berichten und die Aktienmärkte nervös zucken, zum Gegenschlag aus. „In enger Zusammenarbeit“ mit Donald Tusk, Jeroen Dijsselbloem, Mario Draghi und Martin Schulz legt er einen 10-Jahresplan zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion Europas vor.

Keiner sollte das ab und an körperliche Schwanken Junckers mit einer geringen geistigen Zielstrebigkeit verwechseln. Er will, aus einem kleinen Land kommend, nicht nur Präsident einer Kommission ohne Land sein, sondern Jean-Claude Juncker will Präsident eines europäischen Superstaates sein. Er will nicht dauernd am Katzentisch der Staats- und Regierungschefs sitzen müssen, sondern vorne – ganz vorne. Er will die Richtlinien der Politik bestimmen, sonst keiner. Dies ist im Kern auch der Duktus des 10-Jahres-Planes der 5 Präsidenten. Sie wollen die Gunst der Krise wieder einmal nutzen, um einen größeren Schluck aus der Zentralismus-Pulle zu nehmen, damit das Ziel der Politischen Union unumkehrbar wird. Spätestens bis 2025 soll die Union ein Hort der Stabilität und des Wohlstandes sein, steht es jetzt geschrieben.

Schon einmal ist dies auf europäischer Ebene versucht worden. Im März 2000 verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der EU in Lissabon ein Programm, das zum Ziel hatte, die EU innerhalb von zehn Jahren, also bis 2010, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Es kam dann doch anders…

Doch vielleicht klappt es ja dieses Mal? Wirtschaftsunion, Finanzunion und Fiskalunion sollen die Grundlage für die Politische Union schaffen. Dafür müsse nationale Souveränität aufgeben und „in zunehmendem Maß gemeinsame Entscheidungen über Teile ihrer jeweiligen nationalen Haushalts- und Wirtschaftspolitik“ akzeptiert werden. Am Ende stehe dann ein Hort der Stabilität und Wohlstandes für alle Bürgerinnen und Bürger der EU-Mitgliedsstaaten, die eine gemeinsame Währung miteinander teilen.

Doch was ist, wenn es nicht klappt? Was ist, wenn die EU als Wirtschaftsraum wie bereits nach dem 10-Jahresplan von Lissabon am Ende nicht zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt geworden ist? Kommt dann der neue 10-Jahres-Plan mit noch mehr Zentralisierung und Machtkonzentration in Brüssel? Vielleicht liegt in der Grundannahme Junckers schon der Fehler, warum es erneut nicht klappt wird. Denn nicht die großen Tanker sind meist erfolgreich, sondern die kleinen und wendigen Boote. Warum sind Länder wie Norwegen, die Schweiz oder Neuseeland vielfach spitze? Zumindest gefühlt liegt Neuseeland am Ende der Welt, die Schweiz hat keine Rohstoffe und die Hälfte des Jahres liegt Schnee und in Norwegen ist es im Winter den ganzen Tag dunkel. Eigentlich keine guten Voraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg. Warum gelingt es ihnen trotz politischer und ökonomischer Übermacht großer Regionen wie die USA oder die EU dennoch viel bessere ökonomische Ergebnisse zu liefern. Vielleicht liegt der Erfolg dieser Länder an ihrer geringen Größe und ihrer Überschaubarkeit. Vielleicht führen der Zentralismus, der Superstaat und der 10-Jahresplan nicht zu Wohlstand, sondern zu Fehlinvestitionen, Arbeitslosigkeit und Verarmung.

Es ist doch entlarvend und bezeichnend, dass im Junckerschen 10-Jahres-Plan nicht einmal die Worte Marktwirtschaft und Wettbewerb vorkommen. Deshalb will ich Juncker und seinen Mannen zurufen, was einer klügsten Köpfe des vergangenen Jahrhunderts, der überzeugte Liberale und Marktwirtschaftler Wilhelm Röpke, über Europa sagte: „Jedes Monolithische, starr Schablonenhafte ist ihm fremd und keine Feststellung ist hier zugleich wahrer wie unbestrittener als die, dass es das Wesen Europas ausmacht, eine Einheit in der Vielheit zu sein, weshalb denn alles Zentralistische Verrat und Vergewaltigung Europas ist, auch im wirtschaftlichen Bereiche.“

Photo: Susanne Nilsson from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Dr. Gérard Bökenkamp, Leiter von Open Europe Berlin

Großbritannien strebt eine Neuverhandlung des Verhältnisses des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union an. Open Europe Berlin sieht darin eine Chance für eine Reform der Europäischen Union als Ganzes, die allen Mitgliedstaaten zu Gute kommt. Stünde am Ende nur eine Art „Britenrabatt“ oder Sonderrechte für Großbritannien, um die Britischen Wähler vor dem Referendum zu besänftigen, wäre eine historische Chance vertan worden.

Deshalb hat unser Partner in Großbritannien Open Europe London eine Blaupause für eine Reform der EU vorgelegt, die mit der klaren Forderung an die Regierung Cameron verbunden ist, die europäische Integration insgesamt auf eine solidere Grundlage zu stellen. Die Reformagenda von Open Europe London identifiziert drei große Reformfelder.

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Erstens: Die EU als flexible Gemeinschaft mit verschiedenen Währungen

Die Europäische Union soll dem Prinzip der Flexibilität folgen und die Rechte der Nicht-Eurostaaten achten. Flexibilität heißt in diesem Zusammenhang den Fakt zu akzeptieren, dass die EU die ganze Vielfalt Europas repräsentieren muss. Europa ist ein vielgestaltiger Kontinent, und darin liegt seine Stärke. Dazu gehört auch, dass sich innerhalb der Union Länder mit unterschiedlichen politischen Systemen und Traditionen wiederfinden müssen, die mit dem Integrationsprozess unterschiedliche Ziele verbinden.

Dazu gehört es auch zu akzeptieren, dass Mitglieder der EU der Eurozone nicht angehören wollen oder wegen mangelnder Leistungsfähigkeit auch nicht können. Die EU bleibt ein politischer Raum mit verschiedenen Währungen, in dem der Euro zwar die größte, aber nicht die einzige Währung ist. Das hat auch den Vorteil, dass bei einem möglichen Ausscheiden eines Euromitgliedstaates aus der Währungsunion dieses nicht gezwungen wäre, die EU zu verlassen.

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Zweitens: Binnenmarkt, Freihandel und Abbau von Subventionen

Der zweite große Bereich der Reform besteht in der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der EU und damit der langfristigen Sicherung des Wohlstandes der EU-Bürger. Der europäische Binnenmarkt soll weiter entwickelt werden.

Dazu gehört die Verbesserung der Freizügigkeit für Dienstleistungen in der EU, der Abbau von Barrieren in den Bereichen Energie und Digitales, und die Rückführung überflüssiger Regulierungen.Nach außen soll der Abbau von Handelsbarrieren vorangetrieben und weitere Freihandelsabkommen abgeschlossen werden.

Ebenso sollen die Ausgaben der EU und ihre Subventionspolitik einer Prüfung unterworfen werden. Subventionen sind oft teuer, ineffektiv und schaden oft mehr als dass sie nutzen. Das Gießkannenprinzip sollte deshalb abgeschafft und Hilfen auf die ärmsten Staaten in der EU begrenzt werden.

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Drittens: Die Stärkung der nationalen Parlamente

Open Europe hat verschiedene Bereiche identifiziert, in denen die Kompetenz der nationalen Parlamente gestärkt werden kann. In der Vergangenheit haben die Regierungen den Umweg über die EU oft genutzt, um die demokratische Auseinandersetzung zu umgehen und das Parlament vor vollendete Tatsachen zu stellen. Dieser Weg soll in Zukunft erschwert werden, in dem die Vetoposition der nationalen Parlamente gestärkt wird. Das wird schon im Vorfeld dazu führen, dass die nationalen Parlamente von ihren Regierungen besser einbezogen werden als das bisher der Fall ist.

Ein weiterer Punkt, in dem die Kompetenz der nationalen Parlamente gestärkt werden kann, ist die Regelungsbefugnis über den Zugang zum Sozialstaat. Die Freizügigkeit von EU-Bürgern würde nicht angetastet, aber der Zugang zu sozialen Leistungen würde durch nationale Gesetzgebung geregelt. In Fragen von Justiz und innerer Sicherheit sollte es den Staaten selber überlassen bleiben, wie weit ihre Kooperation in diesen Bereichen reicht.

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Ambitioniert, aber realisierbar

Die Reformagenda, die Open Europe London vorgeschlagen hat, hat den großen Vorzug, dass sie einerseits so weit geht, dass sie zu deutlichen Verbesserungen führt. Gleichzeitig ist sie immer noch so moderat, dass sie nicht auf unüberwindliche Hürden trifft. Anzuerkennen, dass die EU aus Staaten mit unterschiedlichen Zielen, Geschwindigkeiten und Währungen besteht, bedeutet schlicht und einfach politisch zu akzeptieren, was ohnehin Realität in Europa ist.

Es wird oft darauf hingewiesen, dass Vertragsänderungen in der EU der Zustimmung aller nationalen Parlamente bedürfen. Die vorgeschlagene Stärkung der Rolle der Parlamente bei der Annahme der EU-Gesetzgebung und in Fragen des Zugangs zum Sozialstaat dürfte schwerlich einen großen Widerstand in eben diesen Parlamenten rechtfertigen.

Mit den Vorschlägen für den Ausbau des Binnenmarktes, für die Deregulierung und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit liegt außerdem eine positive Agenda für Europa vor. Diese zeigt, dass die Zentralisierung nicht der einzige und keinesfalls der beste Weg ist, um die europäische Integration zu befördern.

Erstmals erschienen auf Open Europe Blog am 11. Juni 2015.