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Photo: Official U. S. Navy Page

Die Tragik der Europäischen Union ist nicht, dass es keine Regeln gäbe. Die Tragik der EU ist, dass sie im Zweifel soweit verbogen werden, dass anschließend auch das glatte Gegenteil ihres Ursprunges herauskommen kann. Je prekärer die Situation ist, desto größer ist die Rechtsbeugung. Und natürlich finden die Eurokraten einen Randparagraphen oder einen Juristen, der im Zweifel das eigene Handeln legitimiert. Gerade dieser fatale Pragmatismus ist die eigentliche Ursache der Legitimationskrise der EU.

Klar waren die Regeln von Anfang an. Die Maastricht-Kriterien legten die Verschuldungsobergrenzen fest, das Dubliner-Abkommen den Umgang mit Asylbewerbern, der Fiskalpakt das Verschuldungsverbot und Hilfskredite der Eurostaaten setzten eine Schuldentragfähigkeit des Krisenlandes und eine Gefährdung des Euro-Raumes als Ganzes voraus. Bei der jeweiligen Verabschiedung in den Regierungskonferenzen und Parlamenten wurde das neue Recht gefeiert und als wichtiger Meilenstein des europäischen Einigungsprozesses glorifiziert.

Jüngstes Beispiel ist der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM. Was haben sie nicht alle an den einzelnen Paragraphen des ESM-Vertrages herum gefingert, ihn ausgelegt und bis vor das Bundesverfassungsgericht gezerrt. Am Ende war man sich einig, dass der ESM ohne Zustimmung des Deutschen Bundestages nicht tätig werden dürfe, weil der Bundesfinanzminister im Gouverneursrat im Zweifel sein Veto einlegen können müsse, wenn der Bundestag nicht oder noch nicht entschieden habe. Hoch und heilig wurde dies vom Finanzminister, der Bundeskanzlerin und der übergroßen Mehrheit des Bundestages versprochen. Und nun? Immer wenn es eng wird, verfährt man nach dem alten Adenauerschen Grundsatz: „Was geht mich mein Geschwätz von gestern an“.

Wie jetzt die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtete, hat der ESM bereits vor der Zustimmung des Deutschen Bundestages über das dritte Hilfspaket für Griechenland in Höhe von 86 Milliarden Euro am 19. August 2015 faktisch eine Zwischenfinanzierung über 7,8 Milliarden Euro für Griechenland bereitgestellt. Ziel war es, die Zeit bis zur Verabschiedung durch die nationalen Parlamente und die anschließende Zustimmung des ESM-Gouverneursrates zu überbrücken. Eine Zustimmung oder Konsultierung des Bundestages oder eines anderen nationalen Parlaments fand nicht statt. Man agierte stattdessen heimlich im Verborgenen. Der ESM investierte für 7,8 Milliarden Euro in Anleihen, die im Rahmen einer streng geheimen Privatplatzierung von der EU begeben wurden. Anschließend reichte die EU die Gelder an die griechische Regierung weiter, damit diese ihre Anleihen bedienen konnte.

Der Europäische Stabilitätsmechanismus kaufte also mit dem Eigenkapital, das seine Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellt haben, kurzfristige Anleihen, die die Triple-A bewertete Europäische Union selbst begeben hat. Das nennt man im Fachjargon „linke Tasche, rechte Tasche“. Alle waren anschließend zufrieden: Die griechische Regierung konnte ihre Anleihen bei der EZB bedienen, die EZB musste keinen Ausfall befürchten, der ESM musste sein Eigenkapital eh anlegen, der Bundestag konnte in Ruhe beraten und die EU-Kommission konnte sich als Retter in der Not beweisen.

Jetzt sagen die Rechtsverdreher, dass das alles seine Richtigkeit habe. Natürlich dürfe der ESM – er müsse sogar – sein Eigenkapital in Papiere mit bestem Rating anlegen. Warum also nicht in Anleihen oder Krediten der EU. Das sei doch besonders sicher, da es ja die eigenen Verbindlichkeiten seien, die man mit eigenem Geld kaufe.

Es steht aber leider zu befürchten, dass findige Advokaten bald daraus ein neues Modell der EU-Finanzierung zimmern werden. Wenn die EU sich für vier Wochen beim ESM verschulden kann, wieso dann nicht für ein Jahr, 10 Jahre oder 50 Jahre. Wieso kann man dann nicht den EU-Haushalt insgesamt darüber finanzieren und damit die Mitgliedsstaaten von ihren EU-Beiträgen entlasten. Gut, dagegen stünde noch das Verschuldungsverbot der EU in den europäischen Verträgen. Doch Papier ist geduldig – nicht erst seit Beginn der Griechenlandkrise.

Schon jetzt werden neue Begehrlichkeiten mit einer neuen Institution, dem EU-Finanzminister, geweckt. Sie soll mit einem eigenen Etat ausgestattet werden, damit sie Wohltaten in ganz Europa verteilen kann. Wohltaten, die kein Regierungschef mit Geld aus seinem eigenen Haushalt finanzieren will. Da trifft es sich gut, dass die EU jetzt ein Fuß in der Tür zur eigenen Verschuldung hat. Doch die Europäische Union ist dadurch immer mehr eine europäische Willkürherrschaft, wo sie eigentlich eine europäische Rechtsgemeinschaft sein sollte. Um es mit Ralf Dahrendorf zu sagen: „Eine Europäische Rechtsunion hat weit größere Priorität als die Europäische Währungsunion. Europa muss Rechtsstaat und Demokratie verkörpern, pflegen und garantieren; sonst ist es der Mühe nicht wert.“

Photo: Massachusetts Historical Society by WikiCommons

Gelegentlich wünschte man sich mehr revolutionären Geist in diesem Land statt dieser Mehltau-Lethargie. Man stelle sich einmal vor, der Beschluss des Parlaments, eine Steuer auf Milch und Honig (Mehrwertsteuer), auf die Rente (Finanztransaktionsteuer), auf das Eigentum (Erbschaftsteuer) oder eine Abgabe auf Brot und Spiele (Rundfunkbeitrag) einzuführen, würde eine Revolution auslösen? Die Bürger würden sich zentral versammeln, die Steuereintreiber in die Wüste schicken und es würde sich daraus eine Volksbewegung im ganzen Land entwickeln, die am Ende sogar zur Sezession und Unabhängigkeit führt.

Steuern? Revolution!

Doch es gab Zeiten, da wurde eine Revolution begonnen, als die Regierung eine Stempelsteuer beschlossen hatte. Das war damals so eine Art Mehrwertsteuer oder Finanztransaktionsteuer. Die Bürger versammelten sich an zentralen Plätzen und hängten symbolisch die Strohpuppen des Ministerpräsidenten und des örtlichen Steuereintreibers auf. Okay, das war sicherlich nicht die feine englische Art. Es ist ja auch schon lange her – 250 Jahre.

1765 versammelten sich junge Männer unter einer Ulme in Boston, in der damaligen britischen Kolonie in Massachusetts, um gegen die vom englischen Parlament beschlossene Stempelsteuer zu protestieren. Der Aufstand dieser „Sons of Liberty“ richtete sich nicht nur gegen eine Steuer, sondern gegen die damit einhergehende Zensur. Sie wollten nicht alle Dokumente, Verträge und Waren der Zentralgewalt vorlegen. Sie wollten frei handeln, ohne staatliche Willkür und sie wollten selbst über die Steuern und ihre Höhe abstimmen. Daraus entstand der Grundsatz „no taxation without representation“, der heute mehr denn je Richtigkeit hat.

Bäume als Freiheitssymbol

Das Symbol der Proteste war der Baum, die Ulme, die fortan überall in Amerika als „Tree of Liberty“ gepflanzt wurde und unter denen sich die „Söhne der Freiheit“ überall im Lande versammelten.

Schon ein Jahr nach ihrer Einführung hatten die Proteste Erfolg und die Stempelsteuer wurde vom englischen Parlament wieder aufgehoben. Wenn man heute das Schicksal des Solis, die Entwicklung des Rundfunkbeitrages oder die Regelungsmissgriffe bei der Mehrwertsteuer betrachtet, kommt einem charakterfesten Menschen mindestens die Zornesröte ins Gesicht – anderen die Tränen. Wo ist die Abschaffung des Solis, der Erbschaftsteuer, wo die des Zwangsbeitrages und wo ist die niedrige Mehrwertsteuer ohne Ausnahmen?

Lasst uns die Saat für mehr Freiheit aussäen!

Wenn ich die Augen zumache, stelle ich mir manchmal vor, dass wir Freiheitsfreunde eine dieser Ulmen pflanzen, uns dort versammeln und daraus eine Bewegung vieler Freiheitsliebenden wird. Alle pflanzen plötzlich einen Freiheitsbaum, schmücken ihn und versammeln sich dort, um gegen Fremdbestimmung, Eigentumsverletzung und willkürliches Recht zu protestieren.

Doch wenn ich die Augen wieder öffne, kommt mir in den Sinn, dass die Ulme eine gefährdete Baumart ist. Sie kommt zwar in 40 bis 50 Arten weltweit vor und ist wegen ihres wertvollen Holzes begehrt. Doch insbesondere die europäischen und amerikanischen Ulmenarten sind von einer tödlichen Krankheit bedroht, die inzwischen mehrere hundert Millionen Bäume zum Absterben gebracht hat. Erst welkt die Krone. Die Blätter werden braun und vertrocknen. Dann stirbt der Baum.

Doch es gibt unempfindliche Ulmenarten, die widerstandsfähig sind, wachsen und gedeihen. Diese Bäume sollten wir pflanzen – immer und überall. Wenn viele dies tun, dann wird aus vielen einzelnen Ulmen bald ein großer Wald. Ein Wald voller Freiheitsbäume. Nach 250 Jahren ist jetzt die richtige Pflanzzeit.

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick

Von Klaus-Peter Willsch, Mitglied des Deutschen Bundestages (CDU)

Im Mai 2010 drohte der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy offen damit, dass Frankreich die Eurozone verlässt, wenn sich Deutschland nicht am ersten Griechenland-Hilfspaket und dem (damals noch temporären) Euro-Rettungsschirm beteiligen würde. Gleichzeitig begab sich die Europäische Zentralbank außerhalb ihres Mandats und begann massiv Staatsanleihen von Schuldenstaaten aufzukaufen.

Drei entschlossene Franzosen in Schlüsselpositionen – EZB-Präsident Jean-Claude Trichet, IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn und Sarkozy – hatten im Handstreich die Stabilitätsarchitektur der Währungsunion hinweggefegt. Die damalige französische Finanzministerin und heutige IWF-Chefin Christine Lagarde, gab offen zu: „Wir haben alle Regeln gebrochen, weil wir zusammenhalten und die Eurozone retten wollten.“ Nachdem die Euro-Retter kollektiv europäisches Recht gebrochen hatten, gab es zwar viele Kläger, aber keinen Richter. In dieses rechtsstaatliche Vakuum stößt Frankreich nun erneut vor, um die de facto bereits erfolgte Umwandlung der Europäischen Union in eine Transferunion auch rechtlich abzusichern.

Unverhohlen forderte nun der „begeisterte Europäer“ und französische Finanzminister Emmanuel Macron in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: „Meine Generation muss Europa von Grund auf erneuern. […] Wollen wir die Neugründer Europas sein – oder seine Totengräber? So wie bisher darf es nicht weitergehen. Es genügt nicht mehr, nur in kleinen Schritten voranzukommen – wir müssen das Wesen Europas verändern. […] Und auch von Deutschland verlangt das Tabubrüche: Falls die Mitgliedstaaten wie bisher zu keiner Form von Finanztransfer in der Währungsunion bereit sind, können wir den Euro und die Euro-Zone vergessen.“

Macron vergisst dabei, dass in der Europäischen Union mit den Strukturfonds und dem Kohäsionsfonds bereits Finanztransfers etabliert sind. Deutschland ist hier seit jeher Nettozahler. Seit der Einführung des Euro-Bargeldes am 1. Januar 2002 hat Deutschland 114,1 Milliarden Euro mehr in die EU einbezahlt, als über die Fonds zurückfloss. Griechenland bekam im gleichen Zeitraum etwa 58 Milliarden Euro und ist somit der zweitgrößte Nutznießer der europäischen Kohäsionspolitik. Gerade wird EU-intern darüber entschieden, dass Athen 2015 und 2016 zusätzliche zwei Milliarden aus den EU-Strukturfonds erhalten soll. Die Sache ist wieder einmal sehr eilbedürftig. Defizitsünder werden belohnt, immer wieder Fehlanreize gesetzt. Zarten Widerspruch kam nur von Bulgarien und der Slowakei, die daran erinnerten, dass alle Staaten gleich behandelt werden sollten.

Während die Euro-Rettung in Deutschland metaphysisch überladen ist, die gemeinsame Währung schon fast religiös verklärt wird, betreibt Paris knallharte Interessenspolitik. Frankreich steckt seit 2009 im Defizitverfahren. Gebessert hat sich seitdem nichts. Die französische Neuverschuldungsquote liegt auch 2015 mit vier Prozent deutlich über dem erlaubten Wert. Um die französische Verweigerungshaltung nicht (quasi-automatisch) sanktionieren zu müssen, verlängerte die Europäische Kommission das Defizitverfahren um zwei Jahre bis 2017. So umgeht Frankreich ganz nebenbei die Bestimmungen des 2012 viel umjubelten Fiskalpaktes. Gemäß der dort verankerten 1/20-Regel müsste Frankreich eigentlich jährlich fünf Prozent seiner Schulden abbauen, die über der Maastricht-Grenze von sechzig Prozent liegen.

Damit die Europäische Kommission nicht auf dumme Ideen kommt, installierte der französische Staatspräsidenten François Hollande seinen ehemaligen Finanz- und Wirtschaftsminister Pierre Moscovici als Wirtschafts- und Währungskommissar in der Europäischen Kommission. Moscovicis Bewerbungsmappe war relativ dünn: In seiner Zeit als Finanzminister hatte Moscovici kein einziges Mal die Maastricht-Kriterien eingehalten. Als 2013 das französische Defizitverfahren um zwei Jahre verlängert worden war, bejubelte Moscovici dies als Ende der Sparpolitik mit dem Satz: „C’est la fin du dogme de l’austérité, il n’y a plus de fétichisme du chiffre.“ („Das ist das Ende des Dogmas der Sparpolitik, es gibt keinen Zahlenfetischismus mehr.“)

Ein Wirtschafts- und Währungskommissar, der die Einhaltung von Defizitkriterien als Zahlenfetischismus bezeichnet, ist genauso eine Fehlbesetzung wie Kommissions-Chef Juncker höchst persönlich. Noch während seiner Zeit als luxemburgischer Ministerpräsident ließ er keinen Zweifel an seinem Politikverständnis:

„Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“

Macrons Interview ist im Vergleich zur „Methode Juncker“ von einer hochanständigen Ehrlichkeit beseelt. Ich vermisse aber auch hier eine klare (Abwehr-)Haltung der Bundesregierung. Wir brauchen kein europäisches Finanzministerium, das die Verteilung hart erarbeiteter deutscher Steuergelder unter den Schuldensaaten Europas koordiniert. Wir brauchen keine Neugründung Europas sondern eine Rückbesinnung. Nichts ist unglaubwürdiger als die Lüge. Mit Lügen kann man kurzfristig vieles erreichen. Das dadurch langfristig verspielte Vertrauen zurückzugewinnen, ist fast unmöglich. Es geht ein Riss durch Europa. Wer versucht, die Unterschiede zwischen den Nationen Europas zu eliminieren, zerstört den europäischen Geist und ist der wahre Totengräber Europas.

Vor wenigen Tagen ist das Buch von Klaus-Peter Willsch „Von Rettern und Rebellen“ erschienen. In seinem Buch zeichnet Willsch chronologisch die (Fehl-)Entwicklungen der Euro-Rettungspolitik aus der Innenperspektive nach. Mit Informationen, die der Öffentlichkeit bisher nicht zugänglich waren, deckt er minutiös die zentralen Probleme der Euro-Rettungspolitik auf: die Machtlosigkeit des Parlaments gegenüber der Regierung, mangelnder ökonomischer Sachverstand im Bundestag und die mal subtile, mal rigorose Machtsicherung der Führung. Willsch scheut nicht davor zurück, Ross und Reiter zu nennen. Und doch ist „Von Rettern und Rebellen“ kein Blick zurück eines Polit-Veteranen. Denn Willsch ist als engagierter Abgeordneter immer noch Teil des politischen Karussells.

Photo: Metro Centric from Flickr (CC BY 2.0)

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland ist ein einmaliges Phänomen. Nicht nur, weil er der teuerste der Welt ist. Nicht nur, weil er 23 Fernsehprogramme und 63 Radioprogramme unterhält, die immer weniger Menschen sehen wollen. Er ist ein Phänomen, weil er alle mitreden und kontrollieren lässt: Die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände, die katholische Kirche, die evangelische Kirche, organisierte Minderheiten und die Politik sind umfangreich vertreten. Insgesamt werden so 507 Rundfunkräte vorgehalten. Eine Untersuchung des Prometheus-Instituts schlüsselt dies jetzt detailliert auf. Die Politik ist mit fast einem Drittel (31 Prozent) die größte Gruppe, gefolgt vom Ehrenamt (18 Prozent) sowie Arbeitgebern (12 Prozent) und Gewerkschaften (10 Prozent). Innerhalb der Politik haben CDU und SPD jeweils 51 Mitglieder, gefolgt von Grünen (17) und CSU (9). Ein Schelm, der Böses denkt und auf die inhaltliche Ausrichtung schielt.

Eine Gruppe findet man jedoch nicht unter den Kontrolleuren – die Beitragszahler. Das verwundert eigentlich, denn wenn diese schon per Zwang die üppigen Öffentlich-Rechtlichen finanzieren müssen, dann wäre es doch eigentlich recht und billig, wenn sie deren Ausgabenverhalten und Inhalte kontrollieren könnten. So ist es in jedem Kaninchenzüchterverein. Wer dort Mitglied ist und Beiträge bezahlt, der kann den Vorstand wählen, kontrollieren und auch am Jahresende entlasten. Wenn ihm das Programm des Vorstandes nicht gefällt, kann er sogar den Verein verlassen. Das unterscheidet den Kaninchenzüchterverein derzeit noch von ARD und ZDF.

Es ist an der Zeit, dass bei der Besetzung der Rundfunkgremien endlich auch diejenige Gruppe repräsentative Berücksichtigung findet, die die größte Meinungsvielfalt und Staatsferne überhaupt garantiert: Es ist dies die erstaunlicherweise bis heute überhaupt nicht vertretene Gruppe der Beitragszahler selbst! Besser lässt sich schließlich nicht umsetzen, was das Bundesverfassungsgericht schon in seiner maßgebenden Entscheidung vom 25. März 2014 ausgesprochen hat. Bezeichnenderweise ist die von dem Gericht dazu gesetzte Übergangsfrist mit dem 30. Juni 2015 bereits abgelaufen.

Kontrollrecht dürfen den Zwangsbeitragszahlern eigentlich nicht verwehrt werden. Selbst die Deutsche Rentenversicherung, die auch über Beiträge finanziert wird, kennt Sozialwahlen und lässt die Beitragszahler ihr Kontrollgremium selbst wählen.

Die Öffentlichen haben sich bislang sogar auf den absurden Standpunkt gestellt, dass ihr werbefinanziertes Programm überhaupt nicht der Kontrolle der Rundfunkräte unterliegt. So argumentierte zum Beispiel der WDR im Falle des Millionen-Deals mit Thomas Gottschalk. Dessen Vorabendsendung „Gottschalk live“ wurde mit 144 Sendungen geplant, jedoch schon nach wenigen Wochen eingestellt. Bezahlt wurden dennoch alle Sendungen an Gottschalk und die Produktionsfirma. Inzwischen hat der WDR seine Rechtsposition zwar verlassen, es zeigt jedoch, welche Selbstbedienungsmentalität ohne Kontrolle hier wohl über Jahre, wahrscheinlich sogar über Jahrzehnte vorherrschte.

Wie schreibt das Bundesverfassungsgericht in seinem oben genannten Urteil so schön: „Die Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks muss als Ausdruck des Gebots der Vielfaltsicherung dem Gebot der Staatsferne genügen“. Solange das Prinzip der Zwangsbeiträge noch besteht, sollte also die Devise lauten: Zwangsbeitragszahler rein, Politik raus.

Photo: Len Matthews (CC BY-ND 2.0)

Der CDU-Fraktionsvorsitzende ist lange im Geschäft. Wenn er im Welt am Sonntag-Interview den Abweichlern seiner Fraktion mit Abberufung aus wichtigen Ausschüssen im Deutschen Bundestag droht, dann weiß er selbst, dass das für eine Fraktionsführung in der Mitte der Legislaturperiode nicht so einfach durchzusetzen ist und wohl nur das letzte Mittel in einer Reihe zahlreicher anderer „Folterinstrumente“ ist. Was beabsichtigt er damit?

Kauder wollte damit nicht die Bosbachs und Willschs in seiner Fraktion überzeugen. Er weiß auch, dass dies nicht gelingen kann, dazu haben diese Abgeordneten ihre Position in der Vergangenheit zu klar und dezidiert geäußert.

Nicht um Abweichler geht es – um die Fraktion

Sein Vorstoß sollte die Masse in der Unions-Fraktion disziplinieren und einschüchtern. Er galt den vielen neuen und jungen Abgeordneten, die am 17. Juli gegen ein neues Verhandlungsmandat für ein weiteres Griechenland-Paket gestimmt haben. Es galt aber auch denjenigen, die auf der Kippe stehen, die überlegen und mit sich ringen, ob sie in der bald kommenden Sondersitzung dem Verhandlungsergebnis zustimmen können. Sie sollten die Konsequenzen für ihr Handeln frühzeitig aufgezeigt bekommen. Wer künftig in den Europa- oder Haushaltsausschuss von der Fraktion entsandt werden will, darf nicht ausbüchsen.

Im Kern zeigt die Äußerung die Schwäche des parlamentarischen Systems in Deutschland. Es fußt in der Praxis nicht auf dem einzelnen Abgeordneten, sondern auf Fraktionen. Die Fraktionen bestimmen die Meinungsbildung, personell und inhaltlich. Wer also in welchen Gremien und Ausschüssen sitzt, welchen Ausschussvorsitz bekommt, wer im Plenum wann und wie lange reden darf, bestimmt die Fraktion unter der Vorgabe des Fraktionsvorstandes. Daher wird im Plenum des Bundestages meist nur das vorgetragen, was die eigene Regierungsmehrheit stützt oder andersherum die Oppositionsrolle unterstreicht. Dazwischen gibt es nichts.

Ein Fenster für andere Meinungen

In der Euro-Krise hatte Parlamentspräsident Lammert jedoch ein kleines Fenster für Abgeordnete, die eine abweichende Meinung zur Fraktion einnehmen, geöffnet. Bei der Debatte zur „Ertüchtigung“ des vorübergehenden Rettungsschirmes EFSF erteilte Lammert meinem damaligen Kollegen Willsch und mir eine jeweils fünfminütige Redezeit in der laufenden Parlamentsdebatte. Dieser mutige Schritt Lammerts war ein Novum. Bis dahin konnten Abgeordnete nur im Rahmen von kurzen persönlichen Erklärungen nach der Debatte oder durch Kurzinterventionen vom Platz aus ihre abweichende Meinung vortragen. Lammert vertrat bereits im Vorfeld öffentlich die Auffassung, dass im Parlament auch die abweichenden Meinungen zu Wort kommen müssten. Danach brach ein Sturm der Entrüstung aus. Schon damals ließ sich Kauder mit den Worten zitieren: „Wenn alle reden, die eine von der Fraktion abweichende Meinung haben, dann bricht das System zusammen.“

Anschließend wollten die Fraktionsspitzen sogar die Geschäftsordnung des Bundestages ändern, damit so etwas nie wieder vorkommt. Lammert bezog sich damals auf ein internes Gutachten der Bundestagsverwaltung, das zum Schluss kam, dass der Parlamentspräsident Abgeordnete unabhängig davon, ob sie als Redner von ihren eigenen Fraktionen gemeldet wurden, „mit Rücksicht auf ihr verfassungsrechtlich garantiertes Rederecht das Wort erteilen kann“. Doch nur der öffentliche Druck hat am Ende die Fraktionsspitzen von einer Änderung der Geschäftsordnung abgehalten.

Entscheidungsfindung ohne Transparenz

Doch die Debattenkultur hat sich seitdem im Deutschen Bundestag nicht verbessert – im Gegenteil. Das Fraktionsdisziplinierungssystem verhindert dies. Es verlagert das Ringen um die bessere Idee in die Hinterzimmer und Fraktionsräume. Dort wird das Ringen nicht mit offenem Visier geführt, sondern erfolgt intransparent. Den Regierungsfraktionen geht es dabei nur um die Frage, wie ihre Minister und ihre Ministerien dargestellt und präsentiert werden. Den Oppositionsfraktionen geht es dabei nicht wesentlich anders. Deren Spitzen bringen ihre Leute auf Linie, dass ihnen in der Zukunft eine Regierungszeit in Aussicht gestellt wird, wo Milch und Honig fließt und sie mit dabei sind. Die wichtigste Funktion des Parlaments geht durch diese Mechanismen verloren – die Kontrollfunktion.

Warum wird in wesentlichen Debatten nicht die Verteilung der Redner dem Parlamentspräsidenten übertragen, der in der Weisheit seiner Amtsführung für eine ausgewogene Debatte sorgt.

Die Abgeordneten bilden das Parlament

Wer das parlamentarische System reformieren will, muss die Macht der Fraktionen beschneiden und die Rechte und Möglichkeiten der einzelnen Abgeordneten verbessern. Dafür braucht es nicht noch detailliertere Geschäftsordnungen oder Verfahrensregeln, sondern allgemeine Regeln, die von der „Natur der Sache“ als richtig empfunden werden. Die Abgeordneten sind die Basis des Parlamentarismus. Sie sollten im Ideal den Volkswillen wiederspiegeln und nicht die Fraktionen. Wer das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie und den Rechtsstaat stärken will, muss dem Versuch widerstehen, eine „gerechte“ Verteilung von Redezeit, Redereihenfolge, Ausschussbesetzung und parlamentarischem Kleinklein zu erreichen. Dieser Versuch wird auch weiterhin scheitern und die Macht der Fraktionen gegenüber den Abgeordneten weiter stärken. Diese vermeintlich gerechte Verteilung führt nämlich zu einer Zielhierarchie, die entsprechend dem autoritär gesetzten Aktionsplan einer Partei, Regierung oder Fraktionsspitze notwendig ist oder erscheint.

Es ist vielleicht so, wie Papst Benedikt in seiner großen Rede vor dem Deutschen Bundestag 2011 es dargestellt hat. Damals trug er in einem beeindruckenden Plädoyer vor, dass eine ideale Ordnung eines freiheitlichen Rechtsstaats, den einzelnen Abgeordneten in die Lage versetzt „das Gute vom Bösen zu unterscheiden und so wahres Recht zu setzen“. Es ist das Vertrauen in die Vernunft des Menschen und nicht in das Funktionieren eines Systems um jeden Preis. Das Gegenteil ist ein Konstruktivismus, der dem Grundsatz folgt: Not bricht jedes Gebot. Letzteres ist gleichzeitig das Fallbeil für den freiheitlichen Rechtsstaat. Papst Benedikt zitierte dazu den heiligen Augustinus mit den Worten: „Nimm das Recht weg, was ist der Staat dann noch anderes als eine große Räuberbande“.