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Tausende neue Stellen zur Verwaltung der Kindergrundsicherung sind symptomatisch für den Wohlfahrtsstaat der Moderne, der aus der Überzeugung heraus operiert, mit Formularen und Geldscheinen könne man Menschen helfen. Dabei entstehen gigantische Fehlallokationen zu Lasten der Ärmsten.

Bürokratisierung tritt an die Stelle von Begegnung

Die Kindergrundsicherung dürfte zumindest an der Arbeitsplatzfront wirken: Viele tausende Menschen werden neu in Lohn und Brot gebracht. Im Auftrag der Bundesregierung werden sie Anträge überprüfen und Leistungen zuweisen. Etliche Hunderttausende von Menschen in unserem Land, wenn nicht noch mehr, haben einen Arbeitsplatz, weil sie die administrative Maschinerie des Wohlfahrtsstaates am Laufen halten. In Rentenkassen, Jobcentern, Finanzämtern und vielen ähnlichen Einrichtungen sind sie damit beschäftigt, zu sichten, zu genehmigen, zu verweigern, zu dokumentieren … Denn jede neue Leistung des Staates muss ja ordnungsgemäß an die Bürgerin und den Bürger gebracht werden. Das Unternehmen Deloitte hat kürzlich im Auftrag des Normenkontrollrates die Komplexität des Wohlfahrtsstaates in den Blick genommen. Die Visualisierung, die sie angefertigt und mit dem blumigen Titel „Haus der sozialen Hilfen und Förderung“ versehen haben, erinnert stark an „Das Haus, das Verrückte macht“ in dem Film-Klassiker „Asterix erobert Rom“.

Hinter dieser Entwicklung stecken zwei fundamentale Perspektiven, die möglicherweise etwas schräg sind. Die erste ist die Vorstellung, dass man mehr Gerechtigkeit bekommt, wenn man möglichst viele und präzise Regeln aufstellt. Zwar ist es richtig, dass der Blick auf den Einzelfall immer besser ermöglicht, jemandem gerecht zu werden. Aber dafür braucht man auch die Möglichkeit, den Einzelfall kennenzulernen und beurteilen zu können. Das genaue Gegenteil dieser Einzelfallgerechtigkeit bildet im klassischen Rechtsstaat das Instrument der Gesetzes, das so gefasst sein sollte, dass es möglichst allgemein gehalten ist und nicht individuelle, sondern strukturelle Herausforderungen adressiert. Leider verspricht der Gesetzgeber inzwischen aber, sich  um jeden spezifischen Fall zu kümmern, und so entsteht dann zum Beispiel § 49 Sozialgesetzbuch, Vierzehntes Buch: „Anstelle der Versorgung mit Zahnersatz können Geschädigte für die Beschaffung eines Zahnersatzes wegen anerkannter Schädigungsfolgen einen Zuschuss in angemessener Höhe erhalten, wenn 1. sie wegen eines nicht schädigungsbedingten weiteren Zahnverlustes einen erweiterten Zahnersatz anfertigen lassen und 2. es sich bei dem erweiterten Zahnersatz um eine nicht teilbare Leistung handelt.“

Armut ist oft keine Geldfrage

Die zweite schräge Perspektive ist, dass mehr Geld die Situation von Menschen verbessert. Das soll nicht heißen, dass Geld unwichtig wäre. Wenn man es schafft, dass jedes Kind ausreichend Ernährung bekommt, mit auf die Klassenfahrt kann und Zugang zu Nachhilfe hat, tut jede Gesellschaft aus moralischen und auch aus langfristig-ökonomischen Gründen gut daran, das zu ermöglichen. Aber machen 20, 50 oder 200 Euro mehr wirklich einen Unterschied bei den Lebenschancen junger Menschen? Ist die prekäre Zukunft von Kindern überhaupt ein Phänomen, das sich an einem Kontostand ablesen lässt? Die Erfolgsgeschichten von Menschen, die sich mit der Unterstützung ihrer Familien aus bitterster Armut herausgearbeitet haben, sprechen ebenso gegen diese Lesart von Armut wie die viel zu zahlreichen Biographien von Mitbürgern, die keinen Ausweg aus prekären Verhältnissen finden, auch wenn sie in einem der üppigsten Sozialstaaten der Welt leben.

Viele wichtige Elemente eines erfolgreichen Aufwachsens wie die Möglichkeit von Nachhilfe, Zugang zu kulturellen Angeboten oder auch Schulmahlzeiten lassen sich über pauschalisierte Lösungen rascher und wahrscheinlich auch günstiger zur Verfügung stellen als über komplizierte neue Leistungsgebilde. Vielerlei Möglichkeiten zur Unterstützung sind auf diesen Gebieten heute schon gegeben, etwa durch das so genannte „Bildungspaket“. An dieser Stelle muss wirklich nicht gespart werden, denn auch bei Erhöhungen einzelner Posten wird es sich um kaum erkennbare Summen in den öffentlichen Haushalten handeln. Solange Subventionen in zweistelliger Milliardenhöhe für Industriegiganten rausgeballert werden und die Rentenerhöhungen in Dauerschleife laufen, ist eine Sparsamkeitsdebatte an dieser Stelle wirklich zynisch. Und der riesige Vorteil des Bildungspakets gegenüber der Kindergrundsicherung besteht darin, dass hier wirklich der Einzelfall ins Auge genommen werden kann mit konkreten Unterstützungen.

Kluger Ressourceneinsatz ist gefragt

Wenn man Kinder und junge Menschen zukunftssicher machen will, ist ein Aspekt freilich ungleich wichtiger als Geld: menschliche Zuwendung und Förderung. Wohl jeder wird sich an die ein, zwei, drei Lehrer, Sporttrainer oder Gruppenleiter erinnern, die einem in der Zeit des Aufwachsens an entscheidender Stelle beigestanden und weitergeholfen haben. Menschlich eingebunden und ernstgenommen zu werden, ist wohl das wichtigste Element beim Aufwachsen. Kinder und Jugendliche in prekären Verhältnissen haben da mitunter aus unterschiedlichen Gründen Mangel: Die schrecklichen Fälle, wo Familien aus eigener Kraft keine Inspiration mehr bieten können, weil sie zum Teil schon in zweiter oder dritter Generation in Langzeitarbeitslosigkeit und Abhängigkeit leben. Die Situationen, wo – oft alleinerziehende – Eltern zu sehr in ihrem Beruf eingespannt sind, um genügend Ressourcen aufzubringen. Oder wenn die Familien, bisweilen im klinischen Sinne traumatisiert, sich völlig verunsichert in einer fremden Umgebung zurechtfinden müssen, in die sie vor Not und Krieg geflohen sind.

Anstatt also tausende neue Verwaltungsstellen zu schaffen, sollte man das Geld lieber in Menschen investieren: in Sozialarbeiterinnen, Kita-Erzieher, Lehrerinnen, Psychologen, Ärztinnen und Streetworker. Wir können deutlich mehr davon gebrauchen und können sie auch durchaus besser entlohnen. Eine regelmäßige Unterstützung durch Menschen ist so viel mehr wert als ein paar mehr Euros im Portemonnaie. Das entspricht natürlich nicht dem (Un-)Gerechtigkeitsempfinden, das wir in den letzten Jahrzehnten herangezüchtet haben, und das sich an Kennzahlen orientiert à la „die zehn bestbezahlten Dax-Vorstände verdienen so viel wie alle saarländischen Busfahrer“. Denn diese Ungerechtigkeiten kann man nur durch blanke und oft ineffektive Umverteilung beseitigen. In Menschen zu investieren, die vor Ort helfen können, kann allerdings den einzelnen benachteiligten Kindern gerecht werden und ihnen eine Perspektive für das Leben bieten.

 

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Vor einigen Tagen bin ich auf eine Aussage gestoßen, die mich in ihrer Klarheit überrascht hat. Darin wurde behauptet, dass die Wirtschaftskraft der Eurozone 2008 ungefähr auf dem Niveau der USA lag und heute – 16 Jahre später – die Wirtschaftskraft der USA doppelt so hoch sei wie die der Eurozone. Zwar ist mir klar, dass sich die USA ökonomisch dynamischer entwickelt als das alte Europa, dennoch erschien mir eine Verdoppelung doch etwas übertrieben.

Bei näherer Betrachtung stimmt die Aussage fast, wenn man nominale Werte in US-Dollar (USD) unterstellt. Dann hat die Eurozone bis Ende 2023 lediglich ein Wachstum von 9 Prozent hingelegt. Die Vereinigten Staaten jedoch von 82 Prozent. In absoluten Zahlen konnten die USA bei gleicher Ausgangsbasis in 2008 ihre Wirtschaftskraft um über 12.000 Milliarden USD erhöhen, die Eurozone jedoch lediglich um 1.200 Milliarden USD.

Ökonomische Vergleiche zwischen Volkswirtschaften sind nicht ganz einfach. Die Währung, die Kaufkraft, das Basisjahr und die Inflation sind wichtige Parameter für so einen Vergleich. Daher wird bei solchen Vergleichen das Basisjahr definiert, die reale Wirtschaftskraft (inflationsbereinigt) und auch die jeweilige Kaufkraft herangezogen. Das alles spiegelt besser die wahre Entwicklung wider.

Hier sieht es zwischen der Euro-Zone und den USA etwas differenzierter aus. Bis 2022 wuchs die US-Wirtschaft um real 28 Prozent (4.550 Mrd. USD, Basisjahr 2015, Kaufkraft wurde nicht berücksichtigt), die Eurozone um 13 Prozent (1.493 Mrd. USD). Anders als bei der nominalen Betrachtung starteten beide Regionen nicht mit dem gleichen BIP in 2008. Schon 2008 hatte die USA einen reales BIP von über 16.000 Mrd. USD, die Eurozone lediglich von 11.500 Mrd. USD. Das heißt, die Eurozone lag damals schon 40 Prozent hinter der Wirtschaftskraft der USA. Doch heute sind es bereits 60 Prozent. Das ist dramatisch. Auch die gesamt Europäische Union verliert Anschluss. 2008 betrug der Abstand zum BIP der USA noch 24 Prozent, heute sind es 37 Prozent.  Ein Grund der Entwicklung in der Eurozone und der Europäischen Union ist, dass große Länder wie Italien und Spanien in diesen 16 Jahren gar nicht und Frankreich nur leicht gewachsen sind. Es waren verlorene Jahre, die das ökonomische Auseinanderdriften innerhalb der Eurozone zum Problem für die gemeinsame Währung werden lassen. Der Weg der EU-Kommission, mit einem staatlichen Konjunkturprogramm (Next Generation EU, 750 Mrd. Euro) diesen Rückstand wieder aufzuholen, ist sehr fraglich. Denn auch Deutschland schwächelt.

Wenn man die USA mit Deutschland vergleicht, sehen wir auch nicht gut aus. 2008 hatte Deutschland noch eine Wirtschaftskraft, die 19 Prozent derer der USA entsprach. 2022 waren es nur noch 17 Prozent. Zum Erfolg der USA gesellt sich (womöglich auch ursächlich), dass die Bevölkerungszahl in der betrachteten Zeit von 310 auf 340 Millionen Menschen angewachsen ist. Heute ist das reale BIP pro Kopf in den USA 19.500 USD höher als in Deutschland. 2008 waren es noch 15.500 USD. Wir werden also relativ ärmer – zumindest im Verhältnis zu den USA.

Was sind die Ursachen? In erster Linie ist es fehlendes Wachstum. Die US-Wirtschaft wächst schneller als die deutsche und die europäische. Das nicht nur über einige Jahre, sondern über einen langen Zeitraum. Dieses Wachstum führt zu Wohlstand. Zu Wohlstand für alle.

Denn nur wenn Unternehmer Ideen und Kapital einsetzen, kann Wachstum entstehen. Und hier liegt des Pudels Kern unserer Wachstumsschwäche. In unserem Land, aber auch in der EU meinen viele, dass der Staat Kapital zur Verfügung stellen müsse, um die richtigen Idee umzusetzen. Deshalb werden Chip-Fabriken subventioniert oder Industrieanlagen umgebaut, um grünen Stahl zu produzieren. Selbst bei Batteriefabriken hilft der Staat. Das machen die USA zwar auch, aber unbürokratischer, schneller und deshalb effizienter. Doch der eigentliche Grund ist, dass es in den USA mehr Unternehmer gibt, die einfach machen und sich in Dimensionen vorwagen, in die sich vorher niemand vorgewagt hat. Dies gibt es in Deutschland nicht oder nicht in diesem Ausmaß. In Deutschland und der EU haben die Bedenkenträger Oberhand. Der AI Act, also die europäische Gesetzgebung zur Künstlichen Intelligenz ist exemplarisch für diese Entwicklung. Das Erste woran hierzulande gedacht wird, ist: wie hegen wir die Entwicklung bei der Künstlichen Intelligenz ein, damit Missbrauch verhindert wird? Nicht die Chance, sondern die Gefahr steht im Mittelpunkt.

Dass sich in Amerika mehrere Milliardäre einen Fight liefern, wer Privatpersonen zuerst ins All bringen kann, wäre bei uns undenkbar. Dass daraus auch ein Wettbewerb generell um die private Raumfahrt entsteht, versteht man in der EU-Kommission oder auch bei der europäischen Raumfahrtbehörde ESA nicht. Hier setzt man auf staatliche Lösungen, die ineffizient und damit teuer sind und deshalb auch weniger nachgefragt werden. Während Elon Musks Raketen wiederverwertet werden können und damit effizienter, schneller verfügbar und preiswerter sind, schleppt sich der Start der Ariane 6 Rakete der ESA hin. Geplant war der Start im letzten Jahr, jetzt plant man den erste Start Mitte 2024. Mal schauen, ob das klappt. Sie löst die Ariane 5 Rakete ab, die seit fast 30 Jahren (!) im Einsatz ist. Diese verschwenderische Mentalität kostet Wachstum und damit Wohlstand. Nicht nur für das Land, sondern letztlich für uns alle. Die Antwort darauf kann nur sein:  Mehr unternehmerischen Mut und weniger Staat.

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Christen begehen gerade die Fastenzeit und für Muslime hat letzte Woche der Ramadan begonnen. Dahinter steckt auch die Erfahrung, dass Verzicht zu üben einen stärken kann. Es täte unserer Gesellschaft gut, das wieder mehr zu verstehen und auch zu bejahen.

Der Stoff, aus dem die Helden sind

Einem unmittelbaren Wunsch nicht sofort nachzugehen, erfordert mentale Stärke. In den meisten Kulturen wurde dieses Zeichen von Stärke mit Bewunderung honoriert. Die Gestalt des Buddha etwa hat mit seiner asketischen Haltung der nach ihm benannten Weltreligion ihr vielleicht deutlichstes Erkennungsmerkmal gegeben. Auch im Hinduismus, in den Philosophien des antiken Griechenlands, in Judentum, Christentum und Islam und in vielen indigenen Gesellschaften gelten diejenigen, die sich etwas abringen, als Orientierung für andere. Womöglich hat Kultur hier die Funktion übernommen, positive Erfahrungen mit etwas Glanz und Gewicht zu versehen: Menschen haben im täglichen Leben bemerkt, dass sie Schwierigkeiten leichter überwinden können und insgesamt robuster werden, wenn es ihnen gelingt, unmittelbare Bedürfnisse zugunsten nachgelagerter Gewinne zurückzustellen.

Auch in moderneren Gesellschaften, die ein wesentlich weniger transzendental begründetes Leben führen, wird diese Fähigkeit oft positiv bewertet. Max Weber etwa schreibt den aszetischen Tendenzen in der protestantischen Tradition eine zentrale Rolle bei der Entstehung des Kapitalismus zu. Die Ökobewegungen der vergangenen Jahrzehnte stellen Verzicht in den Mittelpunkt ihrer Ethik. Und auch die Selbstoptimierungsgurus der jüngsten Zeit nutzen Verzicht und Selbstbeschränkung als wichtige Signale sowohl an die zu optimierende Person als auch an das zur Bewunderung aufgerufene Umfeld.

Gegen den Verzicht wird anmanipuliert

Zugleich gibt es aber gegenläufige Trends. Der gigantische Wohlstand, den wir uns in den vergangenen zwei Jahrhunderten erarbeitet haben, zunächst im Norden und Westen und jetzt zunehmend im Rest der Welt, ermöglicht viel schnellere Wunscherfüllung. Das Produkt, für das man vor fünfzig Jahren mehrere Wochen sparen und das man aufwendig in einem großen Geschäft in der entfernten Großstadt besorgen musste, ist jetzt zu einem Bruchteil des Preises und mit einem Mausklick frei Haus erhältlich. Auch die Gelegenheiten, sich in sozialen Medien, mit Computerspielen oder anderen digitalen Produkten eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung und stets verfügbare Glücksmomente zu verschaffen, trägt nicht unbedingt bei zu unserer Fähigkeit zur Selbstüberwindung.

Das ist leider kein ganz geringes Problem. Die wachsende Erwartungshaltung, dass jetzt sofort mein Bedürfnis erfüllt werden möge, ist nicht nur ein Booster für die Produzenten von industriellem Zucker und TikTok-Videos. Auch Politiker profitieren davon. Die Mieten sind immer schwerer bezahlbar – es wird eine Mietpreisbremse durchgesetzt. Die statistische Kinderarmut wächst – die Kindergrundsicherung wird eingeführt. Die Erderwärmung nimmt rasant zu – Verbrennermotoren werden verboten. Die dahinter liegenden Probleme oder davor liegenden Lösungen werden nicht länger erforscht, geschweige denn daran gearbeitet. Denn meist würde das einen Zeitraum voraussetzen, der über die Legislaturperiode hinausreicht und womöglich auch unangenehmere Konsequenzen hätte, die man aber lieber bei künftigen Entscheidungsträgern und Bürgerinnen parkt. Man überbietet sich gegenseitig darin, jede auch nur potentielle Zumutung abzumoderieren mit Subventionen, Verboten, Preisbremsen und anderen immer kreativeren Formen der Manipulation.

Zeitenwende zum Kuscheln

Ein besonders eklatantes Beispiel ist die sogenannte „Zeitenwende“ des Kanzlers. Die Ausnahmesituation nach dem Februar 2022 hätte eine Möglichkeit sein können, die Bevölkerung mit der Realität vertraut zu machen, dass Freiheit einen Preis hat. Doch kein „Blut, Schweiß und Tränen“ weit und breit. Die Freiheit in Europa hatte aus Sicht des Kanzlers nur ein Preisschild, das eine ominöse Entität zu bezahlen hat, nämlich „wir“, also die Bundesregierung. Und so landete die Zeitenwende gegen Ende der Ansprache auch als kuschelig weicher Bettvorleger:

„Deshalb haben wir in dieser Woche ein Entlastungspaket vereinbart: mit der Abschaffung der EEG-Umlage noch in diesem Jahr, einer Erhöhung der Pendlerpauschale, einem Heizkostenzuschuss für Geringverdiener, Zuschüssen für Familien und steuerlichen Entlastungen. Die Bundesregierung wird das schnell auf den Weg bringen. Unsere Botschaft ist klar: Wir lassen die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen in dieser Lage nicht allein.“

Vorsprung durch Verzicht

Damit unsere Gesellschaft wieder etwas auf die Beine stellen kann, müssen wir wieder sehr viel besser im Verzichten werden; in der Fähigkeit, um eines größeren Gutes willen die sofortige Befriedigung zu verschieben. Es müsste selbstverständlich sein, dass Rentner, die nicht von Altersarmut betroffen sind, auf die nächsten großzügigen Erhöhungsrunden verzichten, um der nachwachsenden Generation etwas Luft zum Atmen zu geben. Es sollte selbstverständlich sein, dass man nicht durch Staatsverschuldung, Geldpolitik und Steuererhöhungen einen Konsumexzess nach dem nächsten befeuert, um kurzfristig Bürger ruhig zu halten. Dass man von den 168 Stunden, die eine Woche hat, noch weniger als 38 arbeiten möchte, ist auch nicht wirklich gut nachvollziehbar für die Kioskbesitzerin, den Landwirt oder die Pflegerin. Alle wollen noch mehr haben, während ihre Tribune die Logik des Kapitalismus geißeln, der von ungezügelter Gier getrieben sei.

Verzicht hat etwas mit Prioritäten zu tun. Also was einem wichtig ist – und übrigens auch wer einem wichtig ist. Unser Rentensystem kollabiert in einem Affenzahn und bricht den jüngeren Generationen überm Kopf zusammen. Arbeitskräftemangel und Arbeitszeitmangel drohen die Rezession zu zementieren. Die Erderwärmung nimmt immer mehr Fahrt auf. Die Ukraine bräuchte in ihrem Abwehrkampf gegen den Neofaschismus dringend sehr viel mehr Unterstützung. In all diesen Punkten müssten wir, wenn wir priorisieren wollten, Verzicht auf uns nehmen. Und Politiker müssten das Stehvermögen haben, das auch einzufordern. Wir reden hier übrigens von Verzicht auf sehr, sehr hohem, Niveau, denn wir leben in einer beispiellosen Luxus-Gesellschaft. Wenn es uns wieder gelingt, die Tugenden des Maßhaltens und der Bescheidenheit zu lernen und zu üben, können wir womöglich auch die Grundlage dafür legen, dass es weitere Sprünge des Fortschritts geben wird. Wenn wir uns weiterhin der schnellen Sofortbefriedigung hingeben, sollten wir uns hingegen nicht wundern, wenn uns irgendwann alle Kräfte ausgegangen sind. Das wussten schon die vielen Generationen vor uns, die dem Verzicht eine solch zentrale Stellung eingeräumt haben – und so die Grundlage für unsere heutige Welt gelegt haben.

Photo: Oxensepp from Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0 DEED)

Totalitarismus und Freiheit sind fundamentale Gegensätze. Sie sind wie Feuer und Wasser. Der Totalitarismus ermöglicht das willkürliche und unbeschränkte Einschreiten und Durchsetzen von Maßnahmen einer Macht gegen Einzelne oder Gruppen durch Zwang. Sozialismus und Totalitarismus sind Freunde im Geiste. Willkür und Zentralismus sind ihre Instrumente.

Die Freundinnen der Freiheit sind dezentrale Strukturen und die Gleichheit vor dem Recht. Der Liberale empfindet den Begriff der „Kleinstaaterei“ nicht als pejorativ, auch wenn er in unserem Sprachduktus negativ besetzt ist. Denn Kleinstaaterei ermöglicht Machtteilung, Systemwettbewerb und dezentralen Entscheidungen.

Der Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip sind daher Freiheitsgaranten einer staatlichen Ordnung. Eine freie Gesellschaft organisiert sich in erster Linie selbst, in der Familie und in der Gemeinschaft. Erst dann in der Gemeinde, Stadt und dann in größeren staatlichen Einheiten.

Die Skepsis gegenüber dem Sozialismus sitzt bei Liberalen tief. Dies liegt daran, dass eine freie Gesellschaft von individuellen Plänen lebt, die erfolgreich sind oder auch scheitern. Diese Methode von Versuch und Irrtum führt zu einem lernenden System, das sich anpassen kann. Scheitern diese Pläne, tragen nur wenige die Folgen. Sind die Pläne erfolgreich, profitieren mittelfristig alle davon. Dies kann der Sozialismus nicht leisten, deshalb MUSS er mit totalitären Maßnahmen darauf reagieren, um seine Ziele umsetzen.

Wer individuelle Pläne durch zentrale Pläne ersetzt, vernichtet deshalb die Freiheit des Einzelnen. Denn niemand kennt die Wünsche, die Ideen und die Glücksvorstellungen jedes Einzelnen und kann diese in einen zentralen Plan überführen. Da dies nicht möglich ist, ist auch die Idee der zentralen Planwirtschaft unmöglich.

Die Geschichte des Sozialismus ist gepflastert mit diesen gescheiterten Versuchen. Zentrale Pläne sind auch nur mit den Mitteln des Zwangs und der Gewalt durchzusetzen. Die Herrschenden wollen in der zentralen Planwirtschaft ihre Idee vom Zusammenleben einer Gesellschaft durchsetzen. Gelingt dies mit den bisherigen Methoden der zentralen Planwirtschaft nicht, werden noch intensivere und totalitärere Maßnahmen ergriffen.

Nicht nur der klassische Staatssozialismus à la DDR kennt diese Entwicklung. Auch nach der Wiedervereinigung Deutschlands tendiert dieses Land zur Zentralisation staatlicher und gesellschaftlicher Prozesse. Natürlich leben wir nicht im Totalitarismus oder im Sozialismus sowjetischer Prägung. Aber die Tendenz zum Zentralismus und zur zentralen Steuerung der Wirtschaft und Gesellschaft liegt dennoch vor. Und genau darin liegt auch eine Gefahr. Die Energiepolitik, das Gesundheitswesen und das Bildungswesen sind nur die herausragenden Spielarten dieser zentralen Planung. Individuelle Pläne werden dadurch zerstört und einem höheren Ziel untergeordnet. Und dennoch sind die Ergebnisse bescheiden.

Die einseitige Festlegung auf russisches Gas war genauso falsch wie der Atomausstieg. Beides waren zentrale Entscheidungen, deren unumstößlichen Konsequenzen nicht wenige, sondern alle tragen müssen. Die Ineffizienzen im Gesundheitssystem sind durch die Einschränkung der Berufszugangs-, der Niederlassungsfreiheit und des Krankenkassensozialismus geprägt. Und im Bildungssystem wird zentral festgelegter Einheitsbrei produziert, wo eigentlich individuelle Förderung notwendig ist. Doch diese erfordert dezentrale Entscheidungskompetenz in den Schulen und Universitäten mit eigener Budgethoheit und einer Stärkung der Nachfragemacht nach Bildungsleistungen.

Staaten (oder Staatenverbünde) neigen zur Zentralisation, das sehen wir hierzulande und in der EU. Aber auch in den USA gibt es diese Tendenz. Dort ist es wahrscheinlich der Hauptgrund des stattfindenden Kulturkampfes, der sich jetzt auch im anstehenden Präsidentschaftswahlkampf zeigt. Ein Weg, diesen Kulturkampf zu überwinden ist es, auf den Einzelnen zu setzen, auf weniger Staat und dezentrale Entscheidungen.

 

Vor kurzem hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser ihren Wunsch bestätigt, das schon länger geplante Demokratiefördergesetz zu verabschieden. Hinter diesem Gesetz steht die Idee, dass der Staat jene Organisationen fördern sollte, die sich für demokratische Belange einsetzen.

In dieser Gesetzesidee, aber auch ähnlichen Maßnahmen, kommt so manches zum Vorschein. Unter anderem leider auch ein immens großes Misstrauen in große Teile der Bevölkerung. Denn so ehrenwert wie das Ziel der Demokratieförderung auch sein mag, so klar ist doch auch: Wer meint, dass der Staat die Demokratie fördern müsse, der sagt damit auch, dass wir Bürger – du und ich – dazu selbst nicht in der Lage sind. Denn wären wir’s, wäre das staatliche Eingreifen ja obsolet.

Dieses Misstrauen in die Zivilgesellschaft wird ergänzt durch ein großes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Denn nicht nur sind die Bürgerinnen selbst ja anscheinend nicht in der Lage, die Demokratie zu schützen. Gleichzeitig besteht ein ziemlich großes Vertrauen darauf, dass Politik und Bürokratie durchaus in der Lage sind, das zu vollbringen, woran die Zivilgesellschaft scheitert.

Je geringer das Vertrauen in Bürgerin und Bürger, desto größer das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten – dieser Eindruck drängt sich zumindest jedem auf, der das Handeln einer Nancy Faeser, aber auch vieler anderer Politiker dieser Tage betrachtet.

Dabei gibt es ziemlich wenig, was solch einen Blick auf die Welt unterstützen kann. In diversen Bereichen haben sich Politiker eingebildet, mit ihrer Weisheit sinnvolle Maßnahmen anzustoßen, mittels derer wichtige Ziele kostengünstig verwirklicht werden. Die Energiewende ist hier lediglich das schillerndste Beispiel. Es zeigt einen Staat, dessen leitende Akteure viel zu viel Vertrauen in sich selbst und viel zu wenig in den gemeinen Bürger haben. Das Urteil des Bundesrechnungshofs fasst in lakonischer Weise zusammen, welch ein Desaster die Energiewende ist: „Die bisherigen Maßnahmen sind ungenügend.“ Da war das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entschieden zu groß.

Vielleicht noch wichtiger als die Feststellung, dass das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu groß und offenbar unbegründet ist, ist aber die Tatsache, dass das Misstrauen in die Zivilgesellschaft fehlgeht. So gibt es in Deutschland tatsächlich mehr als 650.000 zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich alle für verschiedene Belange einsetzen. Darunter sind auch viele, die für die liberale Demokratie streiten. Dafür ist Prometheus selbst ein gutes Beispiel – und die vielen Menschen, die mittels ihrer Spenden unsere Arbeit unterstützen. Übrigens gibt es in Deutschland allgemein eine beachtenswerte Spendenbereitschaft. Im Jahr 2022 ergab sich ein Spendenvolumen von über 15 Mrd. Euro. Um wie viel größer diese Zahl wäre, wenn der Staat weniger Steuern eintreiben würde, lässt sich mit Blick auf Philanthropie in anderen Ländern nur spekulieren.

Wie wunderbar wäre es, wenn Politiker statt eines überbordenden Vertrauens in sich selbst den Bürgern dieses Vertrauen schenken würden: Das Vertrauen, dass jede und jeder im Großen und Ganzen am besten weiß, was für sie gut ist; das Vertrauen, dass genug Menschen sich für so wichtige Dinge wie die Freiheit und auch die Demokratie einsetzen werden, wenn man sie denn lässt; und das Vertrauen, dass eine starke Zivilgesellschaft Erfolg haben wird. Denn nimmt man politische Vorhaben wie die Energiewende als Indikator, dann wird die staatliche Demokratieförderung vieles tun, aber nicht die Demokratie fördern.