Photo: Metropolitan Museum of Art (CC 0)

Von Nikolai Ott, Studentische Hilfskraft am Zentrum für Internationale Studien (ZIS) und am Lehrstuhl für Völkerrecht und Europarecht der TU Dresden.

In diesen verrückten Zeiten muss ich immer öfter an eine Anekdote denken, die in liberalen Kreisen gerne erzählt wird. Im befreiten Paris der Nachkriegszeit hatten sich französische Intellektuelle im Rive Gauche, der südlichen Seite der Seine rund um die Grands Boulevards, in den Cafés zu Aprikosen-Cocktails getroffen, um über die Zukunft Frankreichs zu debattieren. Viele, vermutlich die überwiegende Mehrheit, waren links: Simone de Beauvoir, Maurice Merleau-Ponty und Jean-Paul Sartre neben weiteren. Raymond Aron war eine Ausnahme, seine Teilnahme an diesen Gesprächen auch eher ein Zufall und Produkt seiner langjährigen Freundschaft aus Studienzeiten mit Sartre. Ein Liberaler und der Vorzeige-Marxist der Gegenwart – das konnte nicht lange gut gehen. Immer öfter zerstritten sie sich. Bei einer Streiterei, vermutlich hatte Sartre schon einige Cocktails getrunken, warf er Aron plötzlich vor: „Mon petit camarade, pourquoi as-tu peur de déconner?“

Übersetzt lautet dies in etwa: „Mein kleiner Kamerad, warum hast du solche Angst, Unsinn zu erzählen?“. Diese Anekdote zu erzählen, erfüllte für Liberale auch ein distinktives Bedürfnis. Man wollte sich distanzieren von einer linken Attitüde, die mit jakobinistischem Eifer die großen Welterzählungen propagierte. Der Konflikt zwischen Aron und Sartre war stellvertretend für einen größeren Konflikt zwischen Revolution und Reform, zwischen linkem Ästhetizismus und bürgerlicher Zurückhaltung, zwischen dem Versprechen revolutionärer Anführer und dem Wandel durch stabile Institutionen. Das liberale Selbstbild nach dem Zweiten Weltkrieg verstand sich als Antithese zu den vielen fiebrigen, mit erhobener Stimme predigenden, stets den Untergang ahnenden Intellektuellen, die die Deutschen in der Weimarer Republik in die Arme der Nationalsozialisten trieben. Der französische Intellektuelle Julien Benda hatte hierin in seinem berühmten Essay den „Verrat der Intellektuellen“ konstatiert. Sein Essay wurde in der Vor- und Nachkriegszeit zwar bekannt, aber weitestgehend ignoriert; die französische Neuauflage von 1946 wurde von Linken höchstens belächelt. Rückblickend sollte Jean Améry 1976 resigniert feststellen: „Was sollte in der Stunde Jean-Paul Sartres der staubtrockene Rationalismus Bendas?“

Es schlägt wieder die Stunde von Sartre – nur unter rechtskonservativen Vorzeichen. Da wird gezündelt, von der großen Revolution geträumt, unfehlbare Führer werden ausgerufen und eine Mélange an Feindbildern grassiert. Auch manch Rechtsliberaler scheint sich in dieser Bewegung freiwillig einzugliedern. Anders lässt sich die Faszination mit Donald Trump, mit Elon Musk – teilweise auch mit Javier Milei – nicht erklären. Der Fall der amerikanischen Institutionen wird von manchen bejubelt, von anderen heimlich unterstützt (man spart doch schließlich Steuern) und von weiteren totgeschwiegen. Elon Musk, dessen Tweets mittlerweile wie eine Mischung aus Martin Heideggers Rektoratsrede und Ernst Jüngers Berichten aus dem Schützengraben klingen, wird als Prophet der Disruption gefeiert. Der Ton wird härter; manch einer sagt, so hart wie die Zeiten es erfordern. Nur so jemand wie Trump könne den Untergang des Abendlandes noch stoppen, tönt es in jenen Kreisen. Dass wegen dieser Regierung bald kein Oppositionsmedium in Osteuropa mehr finanziert wird, ist den selbsternannten Rettern des Westens egal. „Wer Menschheit sagt, will betrügen“, hatte der deutsche Jurist Carl Schmitt einst den linken Humanisten vorgeworfen. Heute muss das Zitat den rechten Zivilisationsrettern gelten.

Ein „Opium der Intellektuellen“ diagnostizierte der erwähnte Raymond Aron mit Blick auf die anziehende Wirkung des Sozialismus gesprochen. Das Versprechen einer besseren Welt, schnellen Umschwüngen, großen Führern und einer gleichzeitig tiefen Frustration mit dem Status quo hatte viele Denker gepackt. Es radikalisierte sie, brachte sie gewaltsam gegen die noch unstabilen Institutionen auf und zerstörte zahlreiche Freundschaften. Sartre hatte nicht nur Aron verschmäht, auch der demokratische Sozialist Albert Camus musste nun öffentlich denunziert werden. Was damals der Sozialismus war, ist heute der Kulturkampf. Er hatte zuerst manche linken Intellektuellen dazu gebracht, die Voraussetzungen des Westens zu relativieren – nur damit Rechtskonservative ihn heute ganz einreißen können. Der liberale Professor Jan-Werner Müller stellte unlängst resigniert die Radikalisierung eines Niall Ferguson fest. Ausgerechnet die selbsternannten Retter des Westens tanzen in ihrer Radikalisierung nun an den Tischen von Mar-a-Lago zu „YMCA“. Neben Ferguson wären hier beispielsweise seine Frau Ayaan Hirsi Ali oder Douglas Murray zu nennen, und selbst von Bari Weiss ist kaum Widerstand zu erwarten. In Deutschland sind es Ulf Poschardt oder Anna Schneider, die nach der Pfeife der Disruption tanzen.

So wie es in den 1950ern zum guten Ton gehörte, nach Kuba zu reisen, um mit Fidel Castro eine Zigarre zu rauchen, müssen radikalisierte Konservative heute die Genialität von Elon Musk anerkennen. Diesem ach so großartigen Unternehmer nimmt mancher nicht mal übel, dass er täglich etwa zehnmal lügt. Anderen stolzen Kulturkämpfern reicht es, dass ihnen Trump ein Verbot von Transsexuellen im Frauensport oder ein Ende von DEI-Praktiken als Häppchen hinwirft. Der Pate des Weißen Hauses hat als talentierter Clanchef verstanden, wie man in einer Teile-und-Herrsche-Logik auch noch die verbittertsten Feinde irgendwann hinter sich versammelt. Gleichzeitig zeigt er, wie manche Bürgerliche in einer grassierenden Prinzipienlosigkeit, einem tiefen Nihilismus folgend, den Weg zur Knechtschaft ganz freiwillig ebnen – in der Hoffnung, nach dem Systemsturz eine weniger „woke“ Welt vorzufinden.

Der Liberalismus als politische Bewegung ist in seiner noch jungen Geschichte viele strategische Bündnisse eingegangen – mal mit Sozialisten, mal mit Konservativen. Was er jedoch überwiegend vermieden hatte, war, den „Versuchungen der Unfreiheit“ nachzugehen. In seinem letzten Buch mit diesem Titel skizzierte Ralf Dahrendorf einst den Archetyp liberaler Intellektueller, die im Jahrhundert des doppelten Totalitarismus dem „Opium der Intellektuellen“ nie erlagen. Dahrendorf nannte diese Persönlichkeiten „Erasmier“, nach dem Vorbild von Erasmus von Rotterdam in den Zeiten der Reformation. In seiner „Gesellschaft Erasmiana“ versammelte er neben dem erwähnten Raymond Aron die Liberalen Isaiah Berlin und Karl Popper. Sie einte, dass sie in Zeiten von Faschismus und Kommunismus ihren liberalen Überzeugungen treu blieben. Ein Erasmier, so Dahrendorf, zeichne sich zunächst durch die Fähigkeit aus, sich – auch wenn man allein bleibt – nie vom eigenen Kurs abbringen zu lassen. Zweitens durch die Rolle als „engagierter Beobachter“, der sich von niemandem vereinnahmen ließ. Und schließlich durch die „leidenschaftliche Hingabe an die Vernunft“, die es ermöglicht, mit den Widersprüchen der Welt zu leben.

Gott sei Dank muss Ralf Dahrendorf heute nicht miterleben, wie die „Versuchungen der Unfreiheit“ zurückgekehrt sind. Wer folgt heute noch der bürgerlichen Zurückhaltung eines Raymond Aron, der aus lauter Angst, etwas Falsches zu sagen, zunächst schwieg? Wer hört in Zeiten des Kulturkampfes noch auf Isaiah Berlins Gedanken, dass man in einer pluralistischen Gesellschaft miteinander auskommen muss? Wo Isaiah Berlin damals mit Kant den Menschen als „krummes Holz“ beschrieb, wird heute ein nietzscheanischer Musk-Geniekult gefeiert. Und wer denkt in diesen Zeiten der Disruption noch an Karl Poppers offene Gesellschaft, die sich nicht durch Revolutionen, sondern durch eine behutsame Reformpolitik der kleinen Schritte auszeichnet?

Der Umgang mit Elon Musk und Donald Trump ist ein guter Lackmustest dafür, wie ernst es jemand mit liberalen Prinzipien meint. Selbst aus libertärer Sicht hat die Philosophin Deirdre McCloskey einst festgestellt, wie eng eine liberale Marktgesellschaft mit den „Tugenden der Bourgeoisie“ zusammenhängt – fehlen die Werte, stirbt auch der freie Markt. In Anlehnung an den deutschen Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde ließe sich sagen, dass es sich hierbei um jene „Voraussetzungen“ handelt, „die der Staat selbst nicht garantieren kann“. Wir sehen heute in den USA, wie eine liberale Gesellschaft zu zerbrechen droht. Die Stunde von Sartre hat auch auf unserem Kontinent wieder geschlagen. Werden sich Bürgerliche an der Demontage des freiheitlichen Staates in Europa beteiligen? Das ist die Gretchenfrage dieses Jahrzehnts.

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Von Martina Maria Wozniok, Research Fellow bei Prometheus im Januar 2024. Martina ist Masterstudentin der Philosophie an der Universität Hamburg, lebt ihre feministische Haltung sowohl in ihrem ehrenamtlichen Engagement als auch in ihrer Forschung aus. Sie beschäftigt sich in ihrem Masterstudium mit den politischen Auswirkungen vermeintlich negativer Emotionen.

Im Frühjahr 2024 erschien das Buch Radikal emotionalWie Gefühle Politik machen von Maren Urner, Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpädagogik. Urner beschreibt, dass Emotionen nicht aus der Politik wegzudenken seien. Das, worüber wir uns streiten, wenn es um den Klimawandel, Einwanderungspolitik, Steuererhöhungen oder gendergerechte Sprache geht, hänge unweigerlich mit unseren Emotionen zusammen.

Dass es in politischen Debatten lediglich um das rationale Abwägen von objektiven Fakten gehe, kann niemand ernsthaft behaupten. Ob es überhaupt objektive Fakten geben kann, ist schon strittig in der Philosophie. Denn jedes Wissen, das wir erlangen, kommt von jemandem, der oder die es herausgefunden, niedergeschrieben und weitergegeben hat. Wie sich diese Person in der Welt bewegt, wie sie diese wahrnimmt, welche Schlüsse sie aus ihren Eindrücken und Erfahrungen zieht, ist abhängig von der gesellschaftlichen Stellung, die sie einnimmt. Ein weißer, wohlhabender Mann bewegt sich anders durch die Welt als eine arme, schwarze Frau. Es sind andere Hürden, die er überwinden muss, andere Gefahren, die auf ihn lauern, andere Sorgen, die ihn betreffen, andere Dinge, die seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Würde die Wissenschaft objektiv mit Fakten umgehen und diese unvoreingenommen verbreiten, hätte Leonie Schöler ihr Buch „Beklaute Frauen“ gar nicht schreiben müssen – ein Buch, in dem die Historikerin über Frauen schreibt, die in der Geschichtsschreibung ausgelassen worden sind, obwohl sie Großes bewirkt haben. Unser Wissen ist nicht objektiv. Fakten sind nicht objektiv. Lösungen sind nicht objektiv. Und was Rationalität ausmacht, erst recht nicht.

Frauen wird häufig die Disposition zugeschrieben, emotional zu sein, während Männer als rational eingeordnet werden. Das ist eine Unterscheidung, die einerseits sehr stereotypisch, andererseits nicht besonders hilfreich ist. Was soll es heißen, emotional zu sein? Und was soll es heißen, rational zu sein? Warum soll das eine besser als das andere sein? Und warum kann man nicht beides gleichzeitig sein?

Der Begriff der Emotionalität wird häufig auf Frauen angewendet. Und damit wird ihnen zugleich ihre Rationalität abgesprochen. Eine Frau, die ihre Trauer oder Wut zum Ausdruck bringt, wird häufig als hysterisch bezeichnet – es wird so getan, als müsse ihr nicht zugehört werden, sie solle sich erstmal beruhigen. Andererseits wird von Frauen erwartet, dass sie empathisch, fürsorglich und zum Wohl der Familie selbstlos sind. Das sind Eigenschaften, die den Zugang zu Emotionen und die Fähigkeit, mit ihnen umzugehen, voraussetzen. Ich fasse zusammen: Emotionalität ist etwas Gutes bei Frauen, wenn es sich um das Familienleben Zuhause handelt. Emotionalität ist aber etwas Schlechtes bei Frauen, wenn sie sie ausleben, um Ungerechtigkeiten aufzuzeigen und politische Debatten einzuleiten – da macht es sie unzurechnungsfähig oder unglaubwürdig.

Woher kommt der Irrglaube, dass Emotionalität Irrationalität bedeutet? Wenn jemand im Lotto gewinnt, ist Glück eine vollkommen passende Emotion. Wenn jemand stirbt, der mir nahesteht, würden wir behaupten, dass Trauer eine angemessene Reaktion ist. Und wenn jemand systematisch Ungerechtigkeiten erfährt, ist Wut eine angebrachte Reaktion darauf. Wenn ein Geschehen eine angemessene Reaktion hervorruft, sollten wir dann nicht davon sprechen, dass es rational ist, so zu reagieren? Wäre es nicht eher irrational, bei dem Tod der eigenen Mutter Freude zu empfinden oder gar nichts zu spüren? Philosoph:innen argumentieren, dass der Ausdruck von Emotionen als etwas Gutes gelten kann, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Die Emotion sowie das Ausmaß des Ausdrucks dieser Emotion müssen eine angemessene Reaktion auf das Geschehen sein. Und das Geschehen muss die Welt tatsächlich widerspiegeln. Stellen wir uns vor, dass ich wütend auf meine Freundin bin oder von ihr enttäuscht bin, weil sie meinen Laptop geklaut hat. Das ist eine angemessene Reaktion auf das Geschehen. Wenn sich aber herausstellt, dass sie ihn gar nicht geklaut hat, sondern ich ihn in der Uni vergessen habe, dann war die emotionale Reaktion unangemessen. Wenn ich darauf wütend bin, dass Männer mit der Gleichberechtigung von Frauen schlechtere berufliche Perspektiven haben, kann das eine angemessene Reaktion auf ein empfundenes Unrecht sein. Doch spiegelt das Objekt der Wut ein tatsächliches Unrecht wider bzw. ein Geschehen, das die Welt tatsächlich widerspiegelt? Nein. Bei gleicher Eignung werden auch Männer weiterhin gute berufliche Perspektiven haben. Das heißt, Wut ist in dieser Situation keine angemessene Reaktion auf das Geschehen.

Wenn ich davon spreche, dass Emotionalität etwas Gutes ist, meine ich damit, dass angemessene und gerechtfertigte Emotionen etwas Wünschenswertes sind. Diese Art der Emotionalität stellt keineswegs einen Gegensatz zur Rationalität dar und ist keine Bedrohung für die Gesellschaft. Im Gegenteil, der bewusste und angemessene Ausdruck von Emotionen kann Debatten erhellen, gegenseitiges Verständnis stärken und konstruktive Problemlösungen befördern.

Nun sind es in politischen Debatten nicht immer angemessene und gerechtfertigte Emotionen, die die politische Haltung bestimmen. Wenn ich Angst davor habe, dass durch die Aufklärung über Queerness in Schulen die Kinder reihenweise schwul und lesbisch werden, ist es eine Angst, die die Welt nicht tatsächlich widerspiegelt. Genauso wie die undifferenzierte Wut gegen Vermögende aus der Überzeugung heraus, ihr Reichtum sei stets auf Ungerechtigkeiten gebaut und stehe ihnen nicht zu. Sollten wir solche unangemessenen Emotionen nicht einfach loswerden? Leider ist das leichter gesagt als getan. Fest steht: Wir gewinnen keinen Diskurs, indem wir Menschen ihre Emotionen absprechen und versuchen, sie rein faktenbasiert zu überzeugen. Ihre Emotionen müssen gesehen, anerkannt und zum Diskussionsthema gemacht werden.

In jeder politischen Entscheidung, in jeder Debatte, in jedem Problem stecken Emotionen, die wir nicht ausklammern dürfen. Wir müssen uns mit genau diesen Emotionen auseinandersetzen, damit wir fruchtbare Diskussionen und zufriedenstellende Lösungen finden können. Für eine liberale Gesellschaft müssen wir auch die Freiheit der Emotionen zulassen und sie feiern. Sie ernst nehmen. Nur dann können wir wirklich auf den Grund unserer politischen Haltungen gehen und Probleme konstruktiv lösen. Mut zur Emotionalität! Für Frauen, für Männer, für alle!

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Von Dr. Benedikt Koehler, Historiker in London.

Für Hegel gründete Freiheit auf dem Recht auf Eigentum. Das Eintreten der Französischen Revolution für die Freiheit des Eigentums war ihm so wichtig wie das Eintreten des Christentums für die Freiheit der Person: “Es ist wohl an die anderthalb tausend Jahre, daß die Freiheit der Person durch das Christentum zu erblühen angefangen hat …. Die Freiheit des Eigentums aber ist seit gestern, kann man sagen, hier und da als Prinzip anerkannt worden.” Die Französische Revolution war lange vorbei ind viele ihrer Errungenschaften waren kassiert, als Hegel 1821 seine Vorlesungen zur Philosophie des Rechts hielt. Aber das Recht auf Privateigentum, das diese Revolution durchgesetzt hatte, verankerte der Code Civil von 1804 im Gesetz.

Der Liberale Hegel übernahm viel von Adam Smith. Manche Passagen zur Philosophie des Rechts lesen sich wie Entnahmen aus The Wealth of Nations: “Dies ist das Grosse in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Selbstsucht befördert die Interessen der anderen.” Andere wie aus der Theory of Moral Sentiments, etwa, die Zivilgesellschaft verbinde Menschen “indem jeder für sich erwirbt, produziert und genießt, er eben damit für den Genuß der Übrigen produziert und erwirbt.” Weitere Auslassungen zu Kolonialpolitik und zur Sklaverei könnten ebensogut von Adam Smith stammen: “Die Befreiung der Kolonien erweist sich selbst als der größte Vorteil für den Mutterstaat, so wie die Freilassung der Sklaven als der größte Vorteil für den Herrn.”

Hegel folgte aber nicht nur Adam Smith, er führte ihn weiter. Der Liberalismus der Französischen Revolution verband liberté mit égalité. Hegels Liberalismus trennte liberté von égalité. Hegel schenkte seinen Lesern reinen Wein ein: dass nämlich Freiheit die “die Ungleichheit des Vermögens und der Geschicklichkeiten der Individuen zur notwendigen Folge hat.” Er legte die Begründung nach. Die Illusion der Gleichheit aller Menschen “gehört dem leeren Verstände an, der dies sein Abstraktum und sein Sollen für das Reelle und Vernünftige nimmt.” Die “Ungleichheit der Individuen” ist schon in der Natur angelegt, mit der Verteilung “der schon für sich ungleichen natürlichen körperlichen und geistigen Anlagen.”

Ohne Eigentum, so Hegel, ist Freiheit nicht denkbar. Die Auswirkungen sind doppelgesichtig, teils positiv, teils negativ, oder – wenn man den Begriff bemühen möchte – dialektisch.

Einerseits fördert Eigentum die“Vervielfältigung und Spezifizierung der Bedürfnisse, Mittel und Genüsse.” Ein gehobener Lebensstandard ermöglicht Freiheit zu entfalten. Andererseits erzwingt ein hoher Lebensstandard eine Anpassung der Lebensführung: “Das, was die Engländer comfortable nennen, ist etwas durchaus Unerschöpfliches und ins Unendliche Fortgehendes, denn jede Bequemlichkeit zeigt wieder ihre Unbequemlichkeit, und diese Erfindungen nehmen kein Ende. Es wird ein Bedürfnis daher, nicht sowohl von denen, welche es auf unmittelbare Weise haben, als vielmehr durch solche hervorgebracht, welche durch sein Entstehen einen Gewinn suchen.” Die moderne Wirtschaft darf nicht ruhen, sie wächst – weil sie muss. Ihre Triebfeder ist die Jagd nach Ertrag. Wer ihre Vorteile geniessen will, muss ihre Dynamik verinnerlichen. Die moderne Eigentumsgesellschaft ist eine Konsumgesellschaft.

Hegel war als Sozialpsychologe seiner Zeit weit voraus. Hegel zeigte mit dem Finger auf eine modernes soziales Phänomen, den Pöbel: “Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel; dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw.” Seine Beobachtung ist aktuell. Eine amerikanische Politikerin gab vor einigen Jahren der Schicht der Abgehängten, der Verlierer, aller derjenigen die im wirtschaftlichen Wettbewerb leer ausgehen, einen Namen. Sie nannte sie die deplorables. Das war unklug. Die derart Beschimpften stimmten, wie zu erwarten, für ihren Gegner. Solche deplorables gibt es nicht nur in den USA. Anderswo sammeln sie sich hinter dem Banner des Populismus.

Wirtschaftliche Auslese sortiert Sieger und Verlierer. Die Konzerne kommen mit immer knapperen Margen aber steigenden Umsatz auf ihre Rechnung. Das ist gut für Unternehmer, schlecht für Arbeiter: “es hat z.B. einer eine grössere Geschicklichkeit in irgendeiner Arbeit, so vermehrt sich seine Kundschaft. Dies beschleunigt Ungleichheit. Er erwirbt sich dadurch ein grösseres Kapital, dadurch braucht er weniger Gewinn von einer einzelnen Arbeit zu machen. Indem er hier ist, so können die anderen nicht mehr leben. Denn wie sie so wenig nehmen, bei ihrer eigenen Arbeit, so können sie nicht leben.” Angst um Arbeitsplätze führt “zum Verluste des Gefühls des Rechte, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen.” Diese Ohnmacht verursacht die“Erzeugung des Pöbels hervor, die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt.” Die Kehrseite einer ungezügelten Industriegesellschaft ist eine  “eine ebenso unendliche Vermehrung der Abhängigkeit und Not.”Die Mentalität der sozial Deklassierten ist toxisch:“Somit entsteht im Pöbel das Böse, daß er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch, seine Subsistenz zu finden, als sein Recht anspricht.” Der Pöbel ist ein Produkt der modernen Industriegesellschaft.

Zur Lösung des Problems empfiehlt sich, sagen manche, die Abschaffung von Privateigentum. Hegel hielt Enteignungen für einen Holzweg. Diese Forderung hatte sich doch schon in der Antike erledigt. Damals hielt Epikur seine Freunde, wie sie, einen solchen Bund der Gütergemeinschaft zu errichten, vorhatten, gerade aus dem Grunde davon ab, weil dies ein Mißtrauen beweise und die die einander mißtrauen, nicht Freunde seien.” Schade, dass Karl Marx dies nicht beherzigt hat, es wäre viel Unheil verhindert worden. Das Kommunistische Manifest schlug vor, durch “Abschaffung des bürgerlichen Eigentums” die Spannungen des Kapitalismus zu lösen, und diese und ähnliche Formulierungen laufen noch heute um. Die DDR hat die Probe auf’s Exempel einer Gesellschaft des Kollektiveigentums durchexerziert. Kollektiveigentum ersetzte die Unfreiheit der wenigen durch die Unfreiheit aller, und stützte sich, auf allseitige Überwachung und Misstrauen. Ganz wie Epikur vorhersagte. Die DDR ging denn auch daran zugrunde.

Hegel hatte einen klaren Begriff von dem, was wir heute die Armutsfalle nennen: “Ferner die Armut kommt auch so, der Arme kann sich keine Geschicklichkeit erwerben. Arme Kinder haben die Mittel nicht, Geschicklichkeit zu erwerben.” Die medizinische Versorgung ist unzureichend:“Die Armut erschwert die Mittel, die Gesundheit zu erhalten oder herzustellen.” Keine Gesellschaft kann es sich leisten die Kluft zwischen arm und reich immer grösser werden zu lassen. Aber wer sollte sich dann der Besitzlosen annehmen, und wie? Zu Lebzeiten Hegels, vor 200 Jahren, waren soziale Einrichtungen auf Staatskosten kaum vorhanden. Hegel machte konkrete  Vorschlägen zu Infrastruktur und Bildungswesen (“Armenanstalten, Krankenhäuser, Straßenbeleuchtung, Erziehung der Kinder”). Aber er beschönigte nicht dass Sozialausgaben das Problem nicht aus der Welt schaffen: “Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende.”

Adam Smith hatte viele begeisterte Leser in Deutschland. Ein gewisser Johann Schiller in Leipzig, verwandt mit dem Dichter Friedrich Schiller in Jena, übersetzte ihn schon vor der Revolution von 1789. Der Libertäre Max Stirner, Verfasser von Der Einzige und sein Eigentum übersetzte ihn im Vorfeld der Revolution von 1848. Zwischen Schiller und Stirner nahm GWF Hegel das Gedankengut von Adam Smith in sich auf und machte es sich zu eigen.

Adam Smiths Vision des Liberalismus war die allseitiger, stetig fortschreitender gesellschaftlicher Harmonie. Hegel war fasziniert von “der Staatsökonomie, einer Wissenschaft, die dem Gedanken Ehre macht, weil sie zu einer Masse von Zufälligkeiten die Gesetze findet.”  Ist man nicht versucht, an Hayeks Begriff der spontanen Ordnung zu denken? Aber die Masse der Zufälligkeiten die Hegel freilegte zielten nicht durchweg auf Harmonie. Ganz im Gegenteil, sie zielten auf Fortschritt der Allgemeinheit unter Inkaufnahme von Belastungen für Einzelne. Die moderne Wirtschaft schafft Wohlstand, aber sie verteilt ihn ungleich. Hegel verwahrte sich zwar gegen Eingriffe in Eigentumsrechte, aber er mahnte an dass “alle Menschen ihr Auskommen für ihre Bedürfnisse haben sollen.”

Adam Smith hatte noch keinen Blick für das Phänomen einer Unterschicht, erst recht nicht für das Phänomen des modernen Pöbels. Hegel hingegen sprach die Spannungen einer Wohlstandgesellschaft an. Die Verantwortung für dieses Auskommen liegt aber nicht in der Wirtschaft, sondern “gehört einer anderen Sphäre, der bürgerlichen Gesellschaft, an.” Adam Smith war ein Liberaler der Aufklärung, GWF Hegel ein Liberaler der Moderne.

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Von Vincent Klass, Praktikant bei Prometheus, studierte an der Universität Passau Staatswissenschaften.

We know only too well that war comes not when the forces of freedom are strong, but when they are weak. It is then that tyrants are tempted.“ Ronald Reagan

Eine der wichtigsten Lektionen der konfliktreichen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist, dass es zur Bewahrung des Friedens nicht nur geschickter Diplomatie, sondern auch der beständigen Aufrechterhaltung eines robusten militärischen und zivilen Abschreckungspotenzials bedarf. Wie die historische Erfahrung zeigt, ist der Westen immer dann einem schweren Konflikt am nächsten gekommen, wenn er als schwach wahrgenommen wurde und es versäumt hat, seinen Gegnern glaubhaft zu vermitteln, wo seine roten Linien liegen. Anstatt Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, sollten wir aus ihnen lernen und mit Stärke und Entschlossenheit unsere Werte verteidigen.

Nie war die Welt dem Ausbruch eines Dritten Weltkrieges so nahe wie im Oktober 1962. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Sowjetunion Mittelstreckenraketen auf Kuba stationiert, unmittelbar vor den Toren Amerikas. Eine Aktion, die sich als schwerwiegende strategische Fehlkalkulation herausstellte. Anders als von Moskau erwartet, reagierten die Vereinigten Staaten mit Härte auf die sowjetische Provokation und verhängten eine Blockade über die Karibikinsel. Eine Eskalation des Konfliktes drohte. Vorausgegangen waren dem viele Jahre westlicher außenpolitischer Zurückhaltung. Während der Suez-Krise von 1956 entschieden sich die USA aus Sorge vor einer Annäherung der arabischen Staaten an die Sowjetunion dazu, ihren Alliierten Großbritannien, Frankreich und Israel keine militärische Unterstützung zukommen zu lassen. Als im selben Jahr der Ungarische Volksaufstand von der sowjetischen Besatzungsmacht gewaltsam niedergeschlagen wurde, überließ der Westen die Revolutionäre ihrem Schicksal und bewies zur Zufriedenheit des Kremls, dass man Osteuropa vollends der sowjetischen Einflusssphäre überlassen hatte. Schließlich begann die DDR 1961 auf Anweisung Moskaus mit dem Mauerbau. Über viele Jahre hinweg zeigte die westliche Welt innere Zerrissenheit, Verbündete wurden im Stich gelassen, über Menschenrechtsverletzungen wurde hinweggesehen. All dies geschah aus der Angst vor einem Atomkrieg. Doch trotz aller Zugeständnisse an Moskau befand sich die Welt im Jahr 1962 am Rande einer nuklearen Eskalation. Die Sowjetunion ging davon aus, dass der Westen abermals nicht auf ihre Provokation reagieren würde. Man täuschte sich. Die Kubakrise zeigte eindrücklich, dass unklare Kommunikation und die fehlende Bereitschaft, mit Entschlossenheit der Aggression seiner Gegner entgegenzutreten, strategische Fehlkalkulation begünstigen und den Weg für Situationen mit hohem Eskalationspotenzial ebnen.

Ein Rückblick auf das Jahr 1980 verdeutlicht, dass es auch anders gehen kann. Damals sah sich die freie Welt erneut der wachsenden Aggression autokratischer Kräfte gegenüber. Im November 1979 besetzen Ajatollah-treue Studenten im Zuge der Islamischen Revolution die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen 52 Diplomaten als Geiseln. Nur einen Monat darauf marschierte die Sowjetunion in den blockfreien Staat Afghanistan ein. Unterdessen erschienen die USA verwundbar: Ihre Wirtschaft befand sich in einer Rezession und ihr Militär war unterfinanziert. Die Gegner des Westens sahen die Zeit gekommen, ihre Truppen in Bewegung zu setzen. Als Ronald Reagan im Jahr 1980 zum Präsidenten gewählt wurde, lautete seine Antwort daher: „Peace through strength“. Die Vereinigten Staaten erhöhten ihre Verteidigungsausgaben und begannen den Feinden des freien Westens entschlossen die Stirn zu bieten. Unter der Devise „rollback Soviet gains“ wurden anti-kommunistische Widerstandsbewegungen weltweit unterstützt. Nicht jede Aktion entpuppte sich als Erfolg und die Legitimität von destabilisierenden Aktionen gegen völkerrechtlich anerkannte Regierungen lässt sich zweifellos kontrovers diskutieren. Dennoch hatte diese Herangehensweise einen maßgeblichen Anteil daran, dass das geschwächte „Evil Empire“, wie Reagan die Sowjetunion nannte, letztendlich zusammenbrach und dass der Westen als Sieger aus dem Kalten Krieg hervorging.

Wie sich herausstellen sollte, bedeutete der Untergang der Sowjetunion jedoch keineswegs einen ideologischen Endsieg der liberalen Demokratien. Im Gegenteil, die freie internationale Ordnung wird heutzutage mehr denn je von einer neuen neoimperialistischen Achse aus Russland, China und dem Iran bedroht. Während China um Taiwan herum in der Luft und zur See Kriegsspielchen veranstaltet und der Iran und Katar Terrorismus im Nahen Osten verbreiten (lassen), ziehen Putins Großmachtfantasien blutige Spuren durch die Ukraine.  Diese Entwicklungen offenbaren auf eindrucksvolle Weise die gegenwärtige Schwäche des Westens. Das Versagen, den russischen Angriffskrieg zu verhindern, hätte vielen westlichen Regierungen Anlass genug geben sollen, ihre bisherige außen- und sicherheitspolitische Strategie zu überdenken. Haben wir nicht bemerkt, wohin uns Jahre der Appeasement-Politik und der wirtschaftlichen Verflechtungen mit Autokratien geführt haben? Zwei Jahre nach Kriegsausbruch zeigt sich, dass nur geringfügige Lernfortschritte erzielt wurden, wie man exemplarisch am jüngsten Kanzlerbesuch in China erleben musste. Europa sollte endlich sein chronisch unterfinanziertes Militär auf Vordermann bringen und Schritte einleiten, um sich von seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit von China zu lösen. Der Ukraine sollte man die notwendigen Mittel bereitstellen, um sich auf dem Schlachtfeld zu behaupten. Die zögerliche und bruchstückhafte Hilfe des Westens hat bisher lediglich dazu beigetragen, das Kräfteverhältnis mit Russland zu wahren und den Krieg in die Länge zu ziehen. Die Länder Europas sollten daher von der Illusion ablassen, dass der Konflikt durch Diplomatie vorzeitig beendet werden könne. Kriege werden primär auf dem Schlachtfeld entschieden, bevor Verhandlungen in Betracht gezogen werden. Solange Russland keinen Anreiz sieht, sich an den Verhandlungstisch zu setzen, wird der Konflikt weiterhin andauern. Daher sollte ein zentrales strategisches Ziel der westlichen Welt darin bestehen, der Ukraine zu einem militärischen Sieg zu verhelfen. Das Land muss die Möglichkeit erhalten, sich nicht nur zu verteidigen, sondern Russland proaktiv die Fähigkeit zu verweigern, anzugreifen. Die freie Welt muss Einigkeit demonstrieren und darf ihre Verbündeten nicht im Stich lassen. Ein Erfolg der Ukraine wäre ein Zeichen der Stärke des Westens und eine klare Botschaft an China, keine aggressiven Schritte in Bezug auf Taiwan, das Südchinesische Meer und die freie Welt zu unternehmen.

Besonders vor dem Hintergrund der wiederholten Drohungen Russlands, Atomwaffen in der Ukraine einzusetzen, ist es entscheidend, dass der Westen klare rote Linien zieht und eine glaubwürdige Kommunikation über die Konsequenzen eines solchen Handelns führt. Mahnende Worte, die nicht mit militärischer Stärke untermauert sind, werden weder Moskau noch Peking von einer Eskalation abhalten. Klar definierte strategische Ziele, robuste militärische Fähigkeiten, verlässliche Unterstützung seiner Verbündeten und die Entschlossenheit, seine Werte zu verteidigen, sind die Instrumente, zu denen die freie Welt heute zurückfinden muss, um der Bedrohung durch Russland, China und dem Iran zu begegnen. Der Westen braucht erneut eine außenpolitische „Reagan Revolution“. Denn, wie der spätere Präsident schon 1961 in einer Rede sagte: „Die Freiheit ist nie mehr als eine Generation vom Aussterben entfernt.  Wir haben sie nicht mit dem Blut an unsere Kinder weitergegeben.  Der einzige Weg, wie sie die Freiheit erben können, die wir kennen, besteht darin, dass wir für sie kämpfen, sie schützen, sie verteidigen und sie dann an unsere Kinder weitergeben, zusammen mit der Lektion, dass sie in ihrem Leben das Gleiche tun müssen.  Und wenn Sie und ich das nicht tun, dann werden Sie und ich vielleicht unseren Lebensabend damit verbringen, unseren Kindern und Kindeskindern zu erzählen, wie es einst war, als die Menschen frei waren.“

Photo: Dominic Milton Trott from Flickr (CC BY 2.0 DEED)

Von Sina Behrend, Research Fellow bei Prometheus von August bis Oktober 2023. Sina hat an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ihre Bachelorarbeit verfasst über „Das Cannabis-Club-Modell in Deutschland – eine ökonomische Analyse“.

Cannabis-Clubs sind nicht für jeden Konsumenten die Lösung. Die Ampelkoalition plant die Legalisierung von Cannabis – allerdings ohne kommerzielle Anbieter. Dass eine solche Lösung den Schwarzmarkt umfassend eindämmen kann, erscheint unwahrscheinlich.

Laut dem gerade im Bundestag beschlossenen Cannabisgesetz ist vorgesehen, den Besitz von bis zu 25 Gramm Cannabis zum Eigenkonsum für Erwachsene zu legalisieren. Zudem werden der Eigenanbau von bis zu drei Pflanzen sowie der gemeinschaftliche, nicht-kommerzielle Anbau von Cannabis ermöglicht. Für erfahrene Gärtner scheint es allerdings unrealistisch, aus drei Pflanzen lediglich 25 g Cannabis zu ernten. Daher soll für zuhause der Besitz von 50 g getrocknetem Cannabis erlaubt werden. Wird diese Regelungen wirklich in Kraft treten? Es bleibt spannend, denn es droht Einspruch aus den Ländern, der zu einem Vermittlungsausschuss zwischen Bundesrat und Bundestag führen könnte.

Der Eigenanbau ist für Gelegenheitskiffer zu aufwendig. Der Anbau daheim erfordert Zeit, Leidenschaft, die richtige Ausrüstung und viel Geduld. Für Liebhaber, die gerne gärtnern, mit verschiedenen Samen experimentieren und regelmäßig konsumieren, kann der Eigenanbau zu einer Passion werden. Für alle anderen hat der Gesetzgeber eine Alternative vorgesehen: Personen mit Interesse, aber wenig Erfahrung, können in Zukunft in Vereinen oder Genossenschaften gemeinschaftlich Cannabis anbauen – allerdings ohne Gewinne zu erzielen.

Auch eine Mitgliedschaft in einem Cannabis-Verein ist für Gelegenheitskonsumenten zu aufwändig. Der Straßenpreis für Cannabis lag laut dem European Monitoring Center for Drugs and Addiction  2022 in Deutschland bei etwa 10 € pro Gramm. Dieser Preis entspricht eher dem „Bahnhofsvorplatz-Preis“ als dem „Freundeskreis-Preis“, welcher vermutlich niedriger anzusetzen ist. Die Kosten für Cannabis in einem Verein zu schätzen, ist schwierig. Die Kosten für geeignete Immobilien oder Grundstücke, notwendige Sicherheitsmaßnahmen sowie technische Ausstattung für einen hochwertigen Anbau und regelmäßige Labortests zur Qualitätssicherung sind beträchtlich. Im Cannabisanbau lassen sich Skalenerträge realisieren, eine größere Produktionsmenge kann also den Preis senken. Die Mitgliederzahl in den Vereinen ist jedoch auf 500 begrenzt, und eine aktive Mitwirkung der Mitglieder am Anbau ist vorgesehen. Dies könnte bei einer Mitgliederzahl von 500 schwer umsetzbar sein. Ob Vereine also groß genug sein können, um relevante Skalenerträge zu erzielen, bleibt fraglich. Fest steht: Die Vereine sollen eine Grundgebühr und eine gestaffelte Abnahmegebühr erheben. Interessant ist auch, dass es für den Rechtsstatus einer Person keine Rolle spielt, ob die 25 g Cannabis, die sie besitzen darf, auf legalem Weg erworben wurden.

Daher bleiben Dealer für Gelegenheitskonsumenten eine attraktive Option. Grundgebühr, Abnahmegebühr und der Zeitaufwand für die Mitarbeit stehen im Wettbewerb mit dem Kauf beim Dealer. Cannabis hinter dem Hauptbahnhof von Unbekannten zu kaufen, ist meist keine gute Idee. Der Hanfverband berichtet von Verunreinigungen mit Zucker, Haarspray, Sand, Speckstein und synthetischen Cannabinoiden. Dennoch gibt es auch Dealer, die auf die Qualität ihrer Produkte achten und bei denen sich über einen längeren Zeitraum ein Vertrauensverhältnis zu den Käufern aufbauen kann. Eine Person, die alle zwei Monate mit Freunden in lockerer Runde am Samstagabend Marihuana konsumiert, das sie von einem Bekannten bezieht, wird kaum Anreize haben, ihre Bezugsquelle nach dem neuen Gesetz zu ändern. Der Besitz ist legal, und die Vertrautheit zum Dealer dient als Qualitätsgarantie.

Es ist zu erwarten, dass der Gesetzentwurf den Schwarzmarkt nicht vollständig eindämmen wird. Sollte das eintreffen, werden auch die anderen Ziele, die der Gesetzgeber verfolgt, nicht erreicht werden können. Solange der Schwarzmarkt besteht, sind weder ein umfassender Kinder- und Jugendschutz noch ein vollständiger Gesundheitsschutz gewährleistet. Kritiker der Cannabis-Legalisierung sollten bedenken: Der Aufwand und die Kosten einer Clubmitgliedschaft könnten es für Mitglieder unattraktiv machen, ihren Konsum bei anhaltenden zeitlichen und finanziellen Aufwendungen zu reduzieren. Die nicht-kommerzielle Legalisierung scheint aus einer Mischung aus Angst vor einem unkontrollierten Konsumanstieg durch Kommerzialisierung und Angst vor dem Bruch internationaler und europäischer Verträge entstanden zu sein.

Mehr Mut wäre wünschenswert. Eine halbherzige Legalisierung, die den Schwarzmarkt nicht erfolgreich bekämpft, bietet Kritikern der Legalisierung neue Argumente. Viele Juristen sehen Möglichkeiten, das internationale Vertragsdilemma zu umgehen, und andere Länder haben Legalisierungen durchgeführt, ohne internationale Konsequenzen zu erleiden. Ob eine kommerzielle Legalisierung zu einem Konsumanstieg führen würde, lässt sich seriös nicht abschließend beurteilen. Doch wenn eine kommerzielle Legalisierung den Schwarzmarkt zurückdrängen und damit die Quellen für Jugendliche austrocknen und verunreinigte Substanzen vom Markt nehmen könnte, bleibt die Frage: Ist ein erhöhter Konsum einer sauberen Droge, die im Vergleich zu Alkohol weniger schädlich ist und bei der eine Überdosierung nicht zum Tod führt, wirklich so verwerflich?