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Klassische Szene aus einer Vorabendserie im ZDF: Die verwitwete junge Gräfin ist auf dem Deck des Kreuzfahrtschiffs bewusstlos zusammengebrochen. Der braungebrannte junge Doktor bahnt sich den Weg mit den Worten „Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!“ Die Nummer funktioniert immer. Warum? Weil wir uns in einer Notsituation befinden, in der ein Experte gebraucht wird. Durch seinen Satz weist der Arzt sich als Experte aus. Auch Politiker verhalten sich so. Sobald eine (vermeintlich) bedrohliche Situation auftaucht, sind sie zur Stelle. Der Haken an der Sache ist: Sie sind in der Regel nicht daran interessiert, die Situation tatsächlich zu lösen – oder sie sind gar keine Experten und verfügen nicht über das dazu nötige Wissen.

Unerfüllbare Versprechen

Wir haben Tag für Tag mit kleineren und größeren Problemen zu kämpfen: Vom nervigen Arbeitskollegen und der hohen Stromrechnung bis zum Verlust der Arbeitsstelle und der Demenzdiagnose des Großvaters. In solchen Situationen ist man immer froh, wenn einem die Schwester oder der Freund beistehen. Hilfsbereitschaft erleichtert unser Leben ungemein. Wenn Politiker Lösungen versprechen, drücken sie genau diesen Knopf. Sie bieten sich als Helfer an und wecken in den Bürgern spontan das Gefühl von Dankbarkeit und Sicherheit, das sich auch einstellt, wenn der Kollege unseren Computer wieder zum Laufen gebracht hat.

Es gibt aber zwei erhebliche Unterschiede zwischen dem Politiker und dem Kollegen: Der Politiker würde von einer tatsächlichen Lösung nicht profitieren und er kennt nicht unsere konkrete Situation. Der Kollege am Nebentisch kennt das Computerprogramm, das die Firma benutzt, und ist sich vielleicht sogar unserer Eigenheiten bewusst, die das Problem hervorgerufen haben. Er kann sich ein Bild von der konkreten Situation machen. Probleme, die Politiker zu lösen versprechen, sind dagegen oft viel allgemeiner, vielfältiger und beziehen sich auf einen nicht zu überblickenden Personenkreis. Wenn beispielsweise eine Mietpreisbremse beschlossen wird, kann das in vielen Fällen zu einer Verknappung des Wohnraums führen. Die Einführung des Mindestlohns droht Entlassungen zu befördern. Die generationenübergreifende Solidarität des Rentensystems gilt nur noch für die Babyboomer. Die versprochene Sicherheit vor Terrorismus bringt hemmungslos herumspionierende Geheimdienste hervor … Die Liste unerfüllbarer Versprechen von Politikern ist lang.

Politiker, die Probleme lösen, machen sich überflüssig

Der Kollege, der uns bei unserem Computerproblem hilft, hat ein genuines Interesse daran, dass das Problem aus der Welt geschafft wird. Andernfalls nerven wir ihn nämlich die ganze Zeit oder er muss unsere Arbeit auch noch mit übernehmen. Wenn ein Politiker wirklich und definitiv unsere Probleme löst, macht er sich überflüssig. Denn anders als der Kollege, dessen Aufgabe vorrangig darin besteht, seine Probleme zu lösen, macht es sich der Politiker zur Aufgabe, unsere Probleme zu lösen. Wenn wir keine Probleme mehr hätten, bräuchten wir ihn nicht mehr. Wenn ein Arzt das Problem seines Patienten nicht behebt, geht der Patient in Zukunft nicht mehr zu ihm. Wenn der Politiker das Problem nicht wirklich löst, kann er es meist so weit nach hinten verschieben, dass er die nächste Wahl noch übersteht.

Natürlich gibt es auch unter Politikern Idealisten, die wirklich Probleme lösen wollen. Selbst die haben freilich noch mit dem Informationsproblem zu kämpfen: die eine Pauschallösung für viele Millionen Menschen in einem Land gibt es eben nicht. Leider gibt es aber auch genug Politiker, die nicht so sehr die Problemlösung im Auge haben, sondern andere Dinge: ihre Wiederwahl zum Beispiel. Oder auch einfach nur das gute Gefühl, das entsteht, wenn die Bürger begeistert ihre Dankbarkeit dafür äußern, dass sich nun endlich einmal jemand ihres Problems angenommen hat. Das ganze System einer Demokratie verführt Politiker dazu, sich Dankbarkeit zu sichern, um die Wiederwahl zu garantieren.

Selbstvertrauen oder Abhängigkeit

Wir kennen das von Kindern: Eine Zeit lang sind sie ziemlich hilfebedürftig. Im Laufe der Jahre entwickeln sie aber immer mehr und bessere Fähigkeiten und sind damit immer weniger auf unsere Unterstützung angewiesen. Spätestens in der Pubertät wollen die meisten ausdrücklich nicht mehr auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen sein (außer wenn es darum geht, sie von einer Party abzuholen). Selbständig Schwierigkeiten zu bewältigen, ist offenbar ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Es ist der Motor unserer Entwicklung: der individuellen wie auch unserer ganzen Gattung und menschlicher Zivilisation.

Leider gibt es aber auch die andere Seite in uns: Bequemlichkeit. Und diese Seite ist das Einfallstor für Politiker, die versprechen, unsere Probleme für uns zu lösen. Was passiert dann? Es wird zur Gewohnheit, sich bei der Bewältigung von Schwierigkeiten auf Politiker zu verlassen. „Da muss doch der Staat was machen“ – dieser Satz ist erschreckend häufig zu hören. Diese Haltung ist im Prinzip nichts anderes als ein Misstrauensvotum gegenüber sich selbst oder gar eine Bankrotterklärung. Wer sich trotzdem noch darauf einlassen will, seine Selbständigkeit aufzugeben, sollte sich zumindest die Frage stellen, ob denn der Politiker tatsächlich das Interesse hat, die Probleme ein für alle Mal zu lösen.

Wie war das noch mit der Aufklärung?

Der Philosoph Immanuel Kant definierte Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Viele Zeitgenossen meinen, sie hätten diesem Ideal Genüge getan, indem sie aus der Kirche ausgetreten sind oder sich haben scheiden lassen. Weit gefehlt! Denn viele von uns sind nach dem Rückgang von Religion und der Auflösung traditioneller Lebensmodelle mit wehenden Fahnen in eine neue Abhängigkeit geflüchtet: in die Abhängigkeit von der Politik und vom Staat. Diesbezüglich – das muss man leider sagen – hat die Aufklärung noch nicht einmal angefangen zu wirken.

Zurück ins ZDF: Was würde unser junger Arzt auf dem Kreuzfahrtschiff wohl tun, wenn er Politiker wäre? Er würde höchstwahrscheinlich seine Bemühungen weniger darauf richten, die Gräfin zu heilen. Stattdessen würde er alles in seinen Kräften stehende dafür tun, dass die Gräfin weiterhin von seiner Fürsorge abhängig bleibt. Und anstatt einfach nur wieder auf die Beine zu kommen, findet sich die Gräfin wenige Monate später auf dem Standesamt wieder und hat dem Arzt die Hälfte ihres Vermögens überschrieben … Es ist definitiv an der Zeit, dass wir lernen, selbst auf die Beine zu kommen!

Photo: Com Salud from Flickr

Von Prof. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Business and Information Technology School (BiTS) in Berlin.

Man reibt sich die Augen: Griechenland bietet vor aller Welt ein Beispiel für kolossales Staatsversagen, und ausgerechnet diejenigen politischen Kräfte in Europa, die traditionell für mehr Staatseinfluss plädieren, feiern eine Party. Endlich, so die euphorische Hoffnung, sei Schluss mit der angeblich neoliberalen Knechtschaft und der Volkswille könne nun über die Herrschaft der Technokraten triumphieren. Nicht nur in Griechenland sollen nach dieser Lesart die Paradedisziplinen sozialistischer Wirtschaftspolitik – Interventionismus, Umverteilung und gefügige Geldpolitik – die Wende bringen, also jene Instrumente, deren übermäßige Anwendung über Jahrzehnte hinweg zur heutigen Krise geführt hat.

Die zentrale Argumentationsfigur finden die sich nun im Aufwind wähnenden politischen Kräfte darin, dass sie sich demonstrativ auf das Ergebnis demokratischer Wahlen berufen. Mit dem Prädikat „demokratisch“ sollen offenbar Staatseingriffe per se gegen Kritik immunisiert werden. Hierin zeigen sich entweder gravierende Missverständnisse oder schlimmstenfalls sogar bewusste manipulative Absichten, um kollektivistischen Politikentwürfen neuen Glanz zu verleihen. „Demokratisieren“ avanciert mehr und mehr zum Nachfolger des alten „sozialisieren“, meint aber im Ergebnis dasselbe. Es hilft, sich die Grundlagen und Konsequenzen dieser Verheißung ohne verklärende Zurückhaltung vor Augen zu führen.

Erstens: Das Ergebnis einer demokratischen Wahl ist nicht der Volkswille. Willensträger können nur Individuen sein, aber niemals Gruppen oder gar ganze Völker. Jede Vereinnahmung eines demokratisch zustande gekommenen Mehrheitsvotums als „Entscheidung des Landes“ trägt zutiefst freiheitsfeindliche Züge, weil sie den Respekt vor der Minderheit vermissen lässt. Auch die Wähler der sich nach der Wahl in der Oppositionsrolle wiederfindenden Parteien gehören weiterhin zur Bevölkerung und Überzeugungen ändern sich nicht, nur weil ihre Vertreter in der Abstimmung unterlegen waren. Die neue griechische Regierungskoalition aus Links- und Rechtsextremisten kann sich zwar auf der Basis der dortigen Wahlverfahrensregeln als legitimiert betrachten, auch wenn sie die Mehrheit der Wähler nicht repräsentiert (sondern nur 41 Prozent). Gleichwohl wäre mehr Zurückhaltung im Anspruch und öffentlichen Auftreten geboten. Und selbst wenn 90 Prozent der Wähler hinter ihr stünden, so geböte es der Respekt vor der Person jedes griechischen Bürgers, dessen individuelle Auffassungen nicht mit denen der Mehrheit gleichzusetzen.

Zweitens: Wenn durch Kollektivvokabeln wie „Volkswille“, „Landesinteresse“ oder „die Griechen“ Aggregate zu Akteuren stilisiert werden, tritt das Denken bereits schleichend den Weg in die intellektuelle Knechtschaft an. Im kollektivistischen Gesellschaftsentwurf sind sich Links- und Rechtsextremisten einig. Beide setzen auf Großgruppen (Klassen, Volksgemeinschaft), deren Zusammengehörigkeitsgefühl typischerweise dadurch nachgeholfen wird, dass man sich gegenüber anderen Gruppen in aggressiver Weise abgrenzt, sei es nach innen (Klassenkampf) oder nach außen (Kriege). Nicht zufällig gingen bislang alle links- und rechtsextremistischen Experimente mit Geheimpolizeien und militaristischen Exzessen einher, sah man doch das Kollektiv immer von inneren und äußeren Feinden bedroht. Hierzu liefert die liberale Sozialphilosophie den kontrastreichsten Gegenentwurf: durch freiwillige Interaktion erfahren Menschen in ihren Kontraktpartnern eine entscheidende Hilfe zu eigenem Wohlergehen – die Gesellschaft ist als Netzwerk individueller Beziehungen ein Mittel, kein Selbstzweck. Tausch ist immer freiwillig, weil er nur zustande kommt, wenn beide Seiten davon profitieren. Keine andere menschliche Interaktion hat die Belohnungsprämie für kooperatives Verhalten so sichtbar eingebaut, wie die Tauschhandlung; nicht umsonst spricht man von Tauschpartnern und nicht von Tauschgegnern. Aus demselben Grund bedanken sich nach einem Geschäftsabschluss immer beide Parteien gegenseitig. Damit liefert die auf individueller Selbstverantwortung aufbauende liberale Gesellschaft eine zutiefst befriedende Basis für das Zusammenleben. Liberale brauchen keine Feindbilder, weder im eigenen Land noch andernorts.

Drittens: Demokratie ist ein Abstimmungsverfahren (freies, gleiches, geheimes Wahlrecht), nicht mehr und nicht weniger. Es sagt noch nichts darüber aus, was sinnvollerweise zur Abstimmung gestellt und damit überindividuell entschieden werden soll. „Demokratisch“ ist ein Gütesiegel für das „wie“, nicht für das „was“ im kollektiven Entscheidungsprozess. Worüber überhaupt demokratisch abgestimmt werden soll, lässt sich nicht demokratisch entscheiden, sonst würde man sich in einem endlosen Regress verlieren. Daher kann man die Grenzen für Gruppenentscheidungen am besten über ihre Konsequenzen bestimmen. Je größer das Spielfeld für Kollektiventscheidungen, desto kleiner die individuellen Freiheitsräume und damit auch die Quellen für Selbstbestimmung, Wohlstand und Fortschritt. Daraus ziehen Liberale den Schluss: Möglichst viel individuelle Freiheit, möglichst wenig Kollektivzwang – und die dann noch nötigen, eng begrenzten Kollektiventscheidungen sollten selbstverständlich demokratisch ablaufen. Die undifferenzierte Überhöhung des Demokratieprinzips, wie sie heutzutage vor allem von sozialistischen Kräften betrieben wird, ist hingegen der Versuch, einem Gesellschaftsentwurf den Weg zu bahnen, der letztlich nur durch massive Unterdrückung von individuellen Freiheitsrechten denkbar ist. Auch demokratisch zustande gekommene Entscheidungen sind (abgesehen von Einstimmigkeitsvoten) ein Akt staatlicher Zwangsausübung – nicht aus böser Absicht, sondern aus der Natur der Sache heraus. Der individuelle Einfluss ist umgekehrt proportional zur Anzahl der Wähler und damit in den meisten Fällen praktisch null. Allzuständigkeit für Kollektiventscheidungen („gut ist, was die Gruppe will“) ist im Ergebnis totalitär: Wer die Demokratie vergöttert, wird eine teuflische Diktatur im Namen der Mehrheit ernten. Weil die Mehrheit als Gruppe nicht handeln kann, nimmt der zentralistische Machtzuwachs in Händen weniger Entscheider seinen Lauf. Wird das Demokratieprinzip zu einem weitgreifenden Kollektivismus deformiert, dann fallen den Vollstreckern des vermeintlichen Mehrheitswillens grenzenlose Befugnisse zu. Trotz des zuweilen miefig-kleinbürgerlichen Ambientes technokratischer Politbüro-Runden ist den dort Tagenden dann meist kein Zwangsmittel zu brutal, um die Kollektivinteressen durchzusetzen. So schlimm muss es nicht immer kommen, es gibt Staatsversagen auch ein paar Nummern kleiner. Bringt man Kollektiventscheidungen dort in Stellung, wo freiwillige Marktkooperationen angezeigt wären, dann bleiben die Ergebnisse enttäuschend, und sie werden nicht dadurch besser, dass alle formal mitentscheiden durften. Auf Wettbewerbsmärkten entscheidet die eigene Leistung, im Etatismus werden Beziehungen zur wichtigsten Währung. Korruption und Nepotismus sind die zwangsläufige Folge. Der „Staat“ handelt nicht, sondern seine Bürokraten müssen es tun – je größer der Staatseinfluss, desto lukrativer die Bestechung. Ein schlanker Staat ist transparenter und kann seine Bürokraten so bezahlen, dass sie weniger anfällig werden für kriminelle Verfehlungen. Privatisierung von Staatsbetrieben ist der beste Weg, den Bestechungssumpf auszutrocknen. Wie man ein von Misswirtschaft und Klientelismus gebeuteltes Gemeinwesen wie Griechenland ausgerechnet durch stärkeren Staatseinfluss auf privatwirtschaftliche Entscheidungen aufrichten will, bleibt das Geheimnis der Kollektivisten.

Viertens: Es ist bezeichnend, dass die EU-Kommission, der Internationale Währungsfonds und die Europäische Zentralbank als Vertreter der Steuerzahler in den Gläubigerländern von interessierter Seite immer nur dann als undemokratisches Herrschaftsinstrument verunglimpft werden, wenn die Entscheidungen den politischen Zielen der Kritiker zuwider laufen. So war wieder und wieder zu hören, dass die Troika längst darauf hätte drängen sollen, die Einkommen und Vermögen der griechischen Oberschicht stärker zu besteuern. Das mag sinnvoll sein – aber wo liegt hier die demokratische Rechtfertigung? Niemand hat die griechischen Parlamentarier in den letzten Jahren daran gehindert, genau diese Reformen auf den Weg zu bringen. Offenbar endet der apodiktische Anspruch an demokratische Legitimierung immer schon dann, wenn die eigene Meinung auch über die Bande internationaler Institutionen oktroyiert werden kann. Das lässt tief blicken und entlarvt die Demokratieprosa als das, was sie in vielen Fällen ist: ein opportunistisches Begründungsvehikel.

Fünftens: Im Nachgang der griechischen Parlamentswahlen entstand zuweilen der Eindruck, nur die dortige neue Regierung könne sich auf ein demokratisches Mandat berufen, das nun gegenüber den anderen Ländern in der Europäischen Union durchzusetzen sei, ganz so, als ob die übrigen Regierungen nicht auch aus demokratischen Wahlen hervorgegangen wären. Auf dieses Missverhältnis ist bereits vielfach hingewiesen worden. Einem anderen Missverhältnis wird bislang weniger Prominenz zuteil. Der zentrale Unterschied zwischen individuellen und demokratischen Entscheidungen liegt im Grad der jeweils übernommenen Verantwortung. Individuen müssen für die Folgen ihrer Entscheidungen einstehen, Gewinnchancen gehen stets mit Verlustrisiken einher. Falsche Entscheidungen aus der Vergangenheit mag man bedauern, an den Konsequenzen ändert dies nichts. Demgegenüber entstand im Falle Griechenlands zuweilen der Eindruck, die früheren demokratischen Entscheidungen gingen die heutige Regierung nichts mehr an, „das Volk“ habe schließlich neu entschieden und „seine Meinung“ geändert. So leicht kann man es sich natürlich nicht machen, weil hierzu immer ein unbeteiligter Dritter erforderlich wäre, auf den man die Kosten der früheren Fehlentscheidungen abwälzen kann. Dieses Prinzip lässt sich leider nicht verallgemeinern. Allenfalls haben früher oder später alle eine Hand in der Hosentasche ihrer Nachbarn. Das kann man an sich schon für unanständig halten – eine unproduktive Arbeitshaltung ist es allemal. Ein heutiger Erstwähler in Griechenland kann selbstverständlich nicht für die Fehler der vormaligen Regierungen (die jeweils demokratisch gewählt wurden) verantwortlich gemacht werden. Genauso wenig wie ein Wähler, der auch schon früher für verantwortungsvollere Kandidaten gestimmt hatte, die es aber nie in Regierungsämter schafften. Mit jeder Wahl setzt man sich den Konsequenzen der Mehrheitsentscheidung aus – man erteilt einen Blankoscheck an eine Gruppe, die man gar nicht kennen kann. Man sollte sich gut überlegen, in welchen Bereichen man sich auf dieses Risiko einlassen will. Gerade darin besteht ja das Problem kollektiver Entscheidungen. Wird ihr Einfluss zu weit gefasst, resultieren Wahlen in organisierter Verantwortungslosigkeit, die am Ende systematisch den Staat zur Beute von Partikularinteressen macht. Jede Form von unnötiger Kollektivierung führt zu Chaos, gerade weil sich die Menschen individuell rational verhalten. Wenn eine Gastwirtschaft Freibier unter der Bedingung anbietet, dass am Ende die Zeche durch alle Gäste geteilt wird, dann wird man es sich gut überlegen, ob man sich darauf einlassen soll, solange man noch draußen vor der Tür steht. Was aber, wenn man die Kneipe schon betreten hat und die Bezahlmethode kurzerhand auf diesen Flatrate-Tarif umgestellt wird? Dann trinkt man im Zweifel mehr als einem selbst (und der Gemeinschaft) gut tut. In diese Anreizfalle läuft jeder kollektivistische Politikansatz, wenn er dort eingreift, wo marktwirtschaftliche Koordinationsprozesse das Handeln der Akteure besser lenken können, weil sie bis auf wenige, klar umreißbare Ausnahmebereiche individuelle und kollektive Rationalität zur Deckung bringen.

Sechstens: Bei weiten Teilen im sozialistischen Lager Europas wird das Verbot der monetären Staatsfinanzierung als undemokratische Beschränkung souveränen fiskalischen Handelns missverstanden und entsprechend kritisiert. Im Gegenteil sichert aber gerade dieses Verbot, dass die Zentralbank die demokratisch getroffenen Fiskalentscheidungen nicht untergräbt und die mit den Staatsaufgaben verbundene Finanzierungslast nicht in diffuser und unkontrollierbarer Weise verteilt wird. Regierungen haben zwei Möglichkeiten, die öffentlichen Ausgaben zu decken. Entweder sie gewinnen das demokratische Mandat für die Erhebung von Abgaben, oder sie müssen sich am Kapitalmarkt dem Votum der Anleger stellen und glaubhaft machen, in Zukunft die Abgaben entsprechend zu erhöhen. Jede darüber hinausgehende Finanzierung über die Notenpresse entlässt die Regierenden aus ihrer demokratischen Verantwortung, nämlich die Verteilung der aus den Ausgaben resultierenden Finanzierungslast für heutige und künftige Wähler zu benennen (wobei der Ausweg über die Staatsverschuldung ohnehin schon eine nur ungefähre Zukunftsbelastung andeutet). Eine Abstimmung nur über die Ausgabenseite des Staatshaushalts ist sinnlos und verhöhnt die Idee der Demokratie. Derartige Wünsch-Dir-Was-Abstimmungen sind populistischer Klamauk; mit der ernsthaften Abwägung von Alternativen im Sinne der res publica, wie man es von mündigen Stimmbürgern erwarten muss, haben sie nichts gemein. Die Knappheit von Ressourcen und die sich daraus ergebenden Budgetrestriktionen sind Fakten, die man als Nebenbedingung jeder Entscheidung akzeptieren muss. Auch über Naturgesetze sind Abstimmungen müßig. Ausgaben, für deren Deckung sich keine Mehrheiten finden, sind im demokratischen Prozess durchgefallen. Eine Finanzierung über die Notenpresse beruht auf Täuschung und Intransparenz hinsichtlich der Frage, wer die tatsächliche Last am Ende tragen soll. Desto mehr muss es verwundern, dass die Zentralbanken zunehmend als undemokratischer Akteur kritisiert werden, um mit dieser Diskreditierung das Verbot der monetären Staatsfinanzierung aufzuweichen. Wer Demokratie ernst nimmt, muss jedem fiskalischen Einfluss durch die Notenbanken einen Riegel vorschieben. Leider geschieht gegenwärtig das Gegenteil.

Das Prinzip „One person, one vote“ ist eine der größten Errungenschaften der Aufklärung und aller Freiheitsbewegungen gegen absolutistische Unterdrückung. Die in der Europäischen Union zusammen geschlossenen Länder können sich glücklich schätzen, allesamt demokratisch verfasst zu sein. Gerade weil die Demokratie ein kostbares Gut ist, müssen Demokraten darauf achten, dass sie nicht für kollektivistische Absichten missbraucht wird. Dies droht, sobald alle nicht staatlich kontrollierten Entscheidungen automatisch als „undemokratisch“ diffamiert oder subtil in die Sphäre des Suspekten gedrängt werden. In der liberalen Gesellschaft muss sich keiner für seinen Freiheitsanspruch rechtfertigen. Sondern jeder, der die private Autonomie in Frage ziehen und der Mehrheitsentscheidung anheimstellen will, hat die Begründungslast zu tragen. Und das ist aus guten Gründen eine sehr schwere Last. Rütteln wir an diesem Prinzip, dann verlieren wir früher oder später beides: die Freiheit und die Demokratie.

Auf Focus Online sprach Frank Schäffler am 24. Februar über die Schwierigkeiten, denen man als Parlamentarier mit einer abweichenden Meinung begegen kann. „Der Deutsche Bundestag“, so Schäffler, „verkommt immer mehr zu einer großen Fraktionsversammlung: Es wird nur noch vorgetragen, was in den Fraktionen bereits abgestimmt wurde. Die Debatte wird aus dem Bundestag heraus verlagert.“

Anlässlich der Ankündigung des CDU-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Bosbach, aufgrund der Euro-Rettungspolitik über einen Mandatsverzicht nachzudenken, schilderte Schäffler die gravierenden Widerstände, mit denen ein Abgeordneter zu rechnen hat, der sich nicht an die Fraktionsdisziplin hält. So beschreibt er die bedrückendsten Erfahrungen aus seiner Zeit als Abgeordneter: „Das kollektive Klopfen. In einer Fraktionssitzung signalisiert man seine Zustimmung zum Gesagten, indem man auf den Tisch klopft. Und wenn der Vorsitzende sich über mich ausgelassen hat, dann haben danach alle geklopft. Wenn ich etwas entgegnet habe, hat keiner geklopft. Das war wirklich hart, sowas steckt man nicht einfach weg.“

Lesen Sie das ganze Interview auf Focus Online.

Wer zum Kern der Freiheitsidee vordringen will, kommt an der Frage nicht vorbei, wie er oder sie es mit dem Eigentum hält. Wie diese Frage beantwortet wird, daran lassen sich Freiheitsfreunde von deren Gegnern am besten unterscheiden.

Freiheit ist ein Zustand, in welchem die Eigentumsrechte jeder Person an ihrem eigenen Körper und an ihrem legitimen materiellen Eigentum nicht verletzt werden und in sie nicht interveniert wird. Dieser Idealzustand der Freiheit wird vielfach geschleift, missachtet und verletzt. Man muss nicht ins 19. Jahrhundert zu Karl Marx zurück, der Eigentum als Diebstahl betrachtet hat, um Verstöße gegen die Freiheit in der heutigen Zeit festzustellen. Man muss auch nicht Karl-Hermann Flach bemühen, der Anfang der 1970er Jahre noch meinte: „Die Auffassung, dass Liberalismus und Privateigentum an Produktionsmitteln in jedem Fall identisch seien, gehört zu den Grundirrtümern der jüngsten Geschichte, die in unserer Zeit fortleben.“

Es reicht schon, wenn EZB-Chef Mario Draghi das größte Schuldenaufkaufprogramm in der europäischen Nachkriegsgeschichte mit den Worten ankündigt: „Die EZB wird alles Notwendige tun, um den Euro zu erhalten. Und glauben Sie mir, es wird ausreichen.“ Alles drei meint zwar das gleiche, es ist nur dem jeweiligen Zeitgeist angepasst. Alles drei unterstreicht in unterschiedlicher Form das willkürliche Zerstören des Eigentums. Und alle drei waren und sind Wegbereiter des Vergessens und der Unfreiheit.

Denn wenn die Verfügungsgewalt des individuellen Eigentums fortwährend eingeschränkt, unterlaufen und ausgehöhlt wird, verschwindet das Wissen um den Wert der individuellen Freiheit. Ein gesellschaftlicher Gedächtnisschwund macht sich breit. Persönliches Eigentum wird zur Allmende, die von allen genutzt, abgeerntet und verbraucht werden kann. Doch es kümmert sich anschließend keiner mehr um das abgeerntete Feld der Freiheit. Es verkümmert, weil sich keiner mehr traut, neue Idee zu entwickeln, zu investieren und ein Risiko einzugehen. Alle warten nur darauf, dass der Staat die Ernte bereitstellt. Aber wenn es keinen mehr gibt, der das Feld bestellt, es hegt und pflegt, ja dann haben die gewonnen, die dem allmächtigen Staat permanent das Wort geredet haben.

Und natürlich kennt die individuelle Freiheit auch Grenzen. Derjenige, der in einem gefüllten Theater böswillig „Feuer!“ ruft, ist ein Verbrecher. Nicht deshalb weil seine sogenannte „Redefreiheit“ aus pragmatischen Gründen beschränkt werden müsste, sondern weil er klar und offensiv die Eigentumsrechte einer anderen Person verletzt hat.

Doch der Geist der Allmende scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, da diese Eingriffe ins Eigentum fortgesetzt stattfinden. Wenn Andrea Nahles in ihrer Arbeitsstättenverordnung vorschlägt, dass jedes Betriebsstätten-Klo ein Fenster haben muss, dann verschlägt es einem die Sprache oder man hält es bestenfalls für einen Witz. Wenn der gesetzliche Mindestlohn dazu führt, dass die Lohnfindung an den Staat delegiert wird und Unternehmer die Arbeitsleistung ihrer Minijobber minutiös dokumentieren müssen, damit der Zoll nicht mit seinen 1.600 neugeschaffenen Stellen aus dem Nichts anrückt, wird man schon nachdenklicher. Aber wenn die Deutsche Bundesbank laut über eine Vermögensabgabe zur Überwindung der Schuldenkrise in Europa nachdenkt, weiß man wohin der Zug der Zeit fährt – in die Unfreiheit durch Enteignung.

Dieser Trend zur Unfreiheit durch Enteignung ist international. Er wird gerade auf intellektueller Ebene vorbereitet und verbreitet. Jüngstes Beispiel: Der Bestseller des französischen Sozialisten Thomas Piketty „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Das Buch beeindruckt nicht wegen seines Umfangs von über 800 Seiten, sondern wegen seinen kaltschnäuzigen freiheitsfeindlichen Thesen. Seine Grundthese, dass die Marktwirtschaft zu wachsender Ungleichheit führt, ist perfide deshalb, weil es wissenschaftlich daherkommt, aber dennoch vom Ziel her denkt und die empirischen Zahlen daraufhin abgestellt sind. Er belegt seine These damit, dass es in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg eine geringere Ungleichheit gab, die ihre Ursache in den hohen Spitzensteuersätzen (Deutschland 90 %, USA 90 %, GB 98 %) der untersuchten Länder hat. Doch darin erkennt man den Ideologen. Nur weil zwei Zahlenreihen gleich verlaufen, heißt es noch lange nicht, dass es einen Ursachen-/Wirkungszusammenhang gibt. So ist die These, dass mit dem Sinken der Grenzsteuersätze die Vermögensungleichheit zugenommen hat, genauso richtig wie die Aussage, der Rückgang der Geburtenrate hat etwas mit der Einführung des Farbfernsehers zu tun.

Doch gerade diese These nutzt Piketty, um seinen vorgeschlagenen Spitzensteuersatz von 82 Prozent zu begründen. Wahrscheinlich ist die Ursache einer geringeren Ungleichheit im Nachkriegseuropa eher in der Vernichtung von individuellem Eigentum durch Krieg und Vertreibung zu suchen und erst in zweiter Linie in der prohibitiven Besteuerung. Aber selbst wenn, was ist an Ungleichheit schlimm? Die geringste Ungleichheit gab es wohl in Maos und Stalins Willkürherrschaft. Und auch Nordkorea ist nicht bekannt für seine große gesellschaftliche Ungleichheit – mal von der Nomenklatura abgesehen. Freiheit erfordert Ungleichheit. Wer sie nivelliert, muss individuelle Freiheit zerstören, indem er persönliches Eigentum einzieht und verstaatlicht. Denn das ist die Lehre vom Sozialismus. Er will die Verstaatlichung der Produktionsmittel erreichen. Je höher die Besteuerung ist, desto eher gelingt dem Staat dies.

Der Aufstieg der Länder Osteuropas, Südostasiens und selbst China zeigt, dass dort wo Eigentumsrechte besser geschützt werden, die Ungleichheit wächst und dennoch Wohlstand und persönliche Freiheit zunehmen. Diese Entwicklung ist die Antithese zu allen Gleichmachern. Deshalb ist nicht die Gleichheit der Lebensverhältnisse das Ziel, weil dies der Intervention des Staates und der Enteignung der Bürger den Weg bereitet, sondern die Gleichheit vor dem Gesetz. Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet, dass der Staat lediglich die Aufgabe hat abstrakte, allgemeine und gleiche Regeln für alle zu schaffen. Nur dies sichert die Gleichheit im ursprünglich freiheitlichen Sinne. Denn in einer freiheitlichen Gesellschaft gibt es unterschiedliche Talente, unterschiedliche Lebensentwürfe und auch Startbedingungen, die so gut oder so falsch sind wie das individuelle Leben selbst. Dies zu verändern, zu lenken oder zu beseitigen, hieße die Freiheit und das Eigentum zu zerstören.

Deshalb gilt das was der amerikanische Ökonom Murray N. Rothbard einmal so treffend formuliert hat: „Verlangt dein Staat laut nach ‚Opfern‘, lauf um dein Leben und achte auf deine Brieftasche.“

Erstveröffentlichung beim Deutschen Arbeitgeberverband.

Photo: John Drake from Flickr

Beim Thema „Political Correctness“ neigen Gegner wie Befürworter dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Um zu vermeiden, dass überall nasse Kinder herumliegen, sollte man ein wenig Begriffsklärung betreiben und die Hysterie aus der Debatte nehmen. Denn eigentlich geht es um eine Kultur des Anstands und des Respekts.

Der Vorgarten-Gandhi

Es ist wohl eine unvermeidbare Folge unserer Geschichte, dass viele Deutsche in ihren Tagträumen mit Sophie Scholl zusammen schon so manches Flugblatt in der Münchener Uni verteilt haben. Dieser historische Kontext verschärft noch einmal die menschliche Neigung zur Selbstgerechtigkeit. Die besonders gerne von manchen Grünen gepflegte Empörungskultur hat schon manchen Sturm der Entrüstung über die Republik fegen lassen. Dabei ist diese „Kultur“ oft gefährlich oberflächlich: Anstatt sich mit konträren Meinungen und Argumenten auseinander zu setzen, entfesseln die Empörer sofort die Rachegöttinnen und brüllen im Zweifel die andere Meinung auch einfach nieder.

Das ist aber keine heroische Tat des zivilen Ungehorsams, sondern schlicht und einfach schlechtes und unzivilisiertes Benehmen. Es ist schon genug gewaltsamen Ideologien gelungen, Menschen zu einem solchen Niederbrüllen anzustacheln, um diese Methode ein für alle Mal zu diskreditieren – könnte man meinen … Nur leider ist das Gefühl zu schön, auf der richtigen Seite zu stehen, anderen moralisch und menschlich überlegen zu sein. Viele Matadore der Political Correctness sind alles andere als mutig; sie schwimmen nur mit der Mehrheit und sind letztlich nichts anderes als Vorgarten-Gandhis. Von echter Courage keine Spur.

Die hochpubertäre Reaktion

Die getroffenen Hunde auf der anderen Seite bellen allerdings nicht weniger dümmlich zurück. So beschwert sich etwa ein Thilo Sarrazin in einem ganzen Buch („Der neue Tugendterror“) „über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“. Was der Autor verschweigt ist, dass es gerade diese vermeintlichen Grenzen sind, die seinen eigenen Erfolg sichern. Die von ihm vorgebrachten selbstdefinierten „Wahrheiten“ sind ja vor allem deswegen „unbequem“, weil sich sofort die politisch korrekten Furien auf sie stürzen. „Das wird man doch wohl noch mal sagen dürfen“ ist einfach auch ein sehr erfolgreiches Geschäftsmodell.

Gleichsam die reaktionäre Reaktion auf Claudia Roth hingegen ist Akif Pirincci, der mit seinem Buch „Deutschland von Sinnen – der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ zu einem Rundumschlag ausholt, der inhaltlich wie sprachlich an Ausraster von hochpubertären Jugendlichen erinnert. Die Ritter wider die Political Correctness sind eigentlich gerade nicht daran interessiert, ein Klima der echten Meinungsfreiheit herzustellen, sondern daran, es zu verhindern. Denn ihre Hysterie nährt sich von der Hysterie der Gegenseite. Nur dank der Berufs-Empörten können sie sich fortwährend zum Opfer stilisieren.

Empörte und beleidigte Leberwürste

Beide Seiten schütten in ihren Kreuzzügen die jeweiligen Kinder mit dem Bade aus. Beide Seiten haben wertvolle Anliegen, deren Verwirklichung sie aber oft verhindern, weil sie zu weit gehen. Das Grundanliegen der Political Correctness ist es, dagegen anzugehen, dass Menschen mittels der Sprache pauschal verunglimpft oder schlechter behandelt werden. Die Feder ist mächtiger als das Schwert, zumal in einer Zeit, in der physische Gewalt verpönt ist. Dass Worte tief verletzen können und die Macht haben, Menschen psychisch zu zerstören, weiß jedes Kindergartenkind aus Erfahrung. Darauf aufmerksam zu machen, dass wir diese Macht der Worte nicht missbrauchen sollten, ist ein ehrenwertes Anliegen. Nur darf man eben nicht Kreuzzüge führen, sondern muss versuchen, für Verständnis und Einsicht zu werben.

Kreuzzüge provozieren unweigerlich Überreaktionen von Seiten derer, die einen anderen Standpunkt vertreten. Nicht jeder, der beispielsweise zu den Themen „Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ eine Ansicht vertritt, die von der derzeitigen Mehrheitsmeinung abweicht, ist ein Sexist, Homophober oder Rassist. Wer den Eindruck bekommt, in diese Ecke gedrängt zu werden, reagiert dann womöglich entsprechend über. Ein gern vorgebrachtes Argument lautet auch, dass übertriebene Reaktionen auf die Political Correctness nun mal nötig seien, um deren Übertreibung zu konterkarieren. Die Erfahrung zeigt: das Gegenteil ist der Fall. Korrekte und Inkorrekte schaukeln einander gegenseitig hoch, anstatt ihre legitimen Anliegen – Respekt und Meinungsfreiheit – zu befördern. Das führt unvermeidlich in einen Teufelskreis von empörten und beleidigten Leberwürsten.

Tugend, meine Damen und Herren!

Es gehört zu den bemerkenswertesten Errungenschaften der Menschheit, dass wir immer mehr lernen, einander nicht einen über die Mütze zu ziehen, wenn wir nicht übereinstimmen. Wir haben gelernt, gewaltsame Auseinandersetzungen immer mehr zu vermeiden und Konflikte auf diskursivem Wege zu lösen. Eine der Grundvoraussetzungen dafür war die Entwicklung der Idee von Toleranz. Doch genau daran mangelt es oft den Vorgarten-Gandhis genauso wie den pubertären Reaktionären. Die einen wollen nicht akzeptieren, dass andere Menschen abweichende Meinungen vertreten. Und die anderen halten es für ihr gutes Recht, sich herablassend über andere Menschen äußern zu dürfen.

Political Correctness ist keine neumodische Erfindung. Als „Gerechtigkeit“ war sie schon in der Antike eine der Kardinaltugenden. Konkreter noch finden wir sie paradoxerweise unter den sogenannten „Sekundärtugenden“, mit denen man laut Oskar Lafontaine auch ein KZ betreiben kann. Political Correctness bedeutet schlicht „Anstand“. Man ist freundlich zu Menschen, man behandelt sie nicht herablassend, man begegnet ihnen auf Augenhöhe. Das sind Selbstverständlichkeiten. Wenn man Political Correctness etwas niedriger hängt, als es ihre fanatischen Vertreter zu tun pflegen, kommt eine große zivilisatorische Errungenschaft zum Vorschein: Nennen wir es „Respekt“.

Respekt kann man nicht verordnen, man muss dafür werben

Es ist eine Frage des Respekts, dass wir Menschen nicht als „Neger“ und „Kanaken“ bezeichnen. Es ist eine Frage des Respekts, dass wir Frauen ordentlich und gleichwertig behandeln. Es ist eine Frage des Respekts, dass wir einem homosexuellen Paar auf der Straße keine dummen Sprüche hinterherrufen. Und, ja, es ist auch eine Frage des Respekts, dass wir keine Hexenjagd auf jemanden veranstalten, der unsere gesellschaftlichen Vorstellungen nicht teilt.

Zweifellos: es gibt viele ungute Auswüchse der Political Correctness. Heikel wird es, sobald ihre Vertreter anfangen, ihre Überzeugungen in Gesetze gießen zu wollen. Damit sind sie dann kein Deut besser als diejenigen, die auf Teufel komm raus eine heile Welt erhalten wollen, die gesetzliche Privilegierung der heterosexuellen Ehe verteidigen oder zur Begrenzung von Zuwanderung aufrufen. Formal ist das auch nichts anderes als die „politisch korrekte“ Forderung nach einer Frauenquote. Political Correctness ist aber dann sinnvoll, wenn ihre Vertreter darauf verzichten, den Staat für sich zu instrumentalisieren. Sie ist dann sinnvoll, wenn wir mit ihr aktiv in unserer Gesellschaft für Anstand und Respekt werben – wenn wir versuchen zu überzeugen statt zu zwingen. Denn nur dann ist sie wirklich vereinbar mit der Offenen Gesellschaft, in der Menschen gut und gerecht behandelt werden – unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft oder anderen Merkmalen.

Photo: Harshit Sekhon from Flickr