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Angela Merkel hat sie nicht, Francois Hollande wohl auch nicht und Jean-Claude Juncker erst recht nicht: Eine Vision für Europa. Alle reagieren mit den alten Rezepten auf neue Herausforderungen. Junckers Investitionsprogramm ist so ein alter Hut, dass es schon gedanklich Schmerzen bereitet. Draghis Schuldenankaufprogramm ist wie eine Schrotflinte. Ihr wird die Treffsicherheit schon vor dem Abschuss abgesprochen. Und die Eurorettung in Griechenland per Befehl aus Brüssel und Europas Hauptstädten hinterlässt auch kein heimeliges Gefühl in den Köpfen der Menschen. Um es mit Shakespeare zu sagen: „Etwas ist faul im Staate Dänemark.“ Die Europäische Union, ihre Institutionen und ihre Regierungen scheitern an ihrer Größe, am Zentralismus und ihrer Komplexität. Es ist jedoch noch nicht zu spät, um aus den Fehlern der Vergangenheit die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Denn es ist unbestritten, dass das vereinte Europa von seinen Gründungsvätern Konrad Adenauer, Robert Schuman, Jean Monnet, Alcide De Gasperi und anderen als ein Hort der Freiheit gegen alle Formen von Diktatur, Unfreiheit und Planwirtschaft erträumt wurde. Das heutige Europa ist jedoch auf dem Weg in die monetäre Planwirtschaft und den politischen Zentralismus. Deshalb ist es notwendig, wieder den Blick auf die Gründerväter zu richten. Sie wollten ein Europa des Rechts und der Rechtsstaatlichkeit. Die heutigen Regierungen des Euroraums, die EU-Kommission und die EZB verabreden sich hingegen zu einem fortgesetzten kollektiven Rechtsbruch, obwohl die EU-Kommission als Hüterin der Verträge und die nationalen Regierungen zum Schutz des Rechts verpflichtet sind.

Neben den ökonomischen Aspekten kommen zunehmen außen- und sicherheitspolitische Interessen mit ins Spiel. So liest man allenthalben, Griechenland dürfe auch deshalb nicht aus dem Euro ausscheiden, weil damit die „Südostflanke“ der NATO gefährdet sei. Und Lettland wurde sicherlich nicht Anfang 2014 das 18. Euro-Mitglied, weil die Gemeinschaftswährung so wenig krisenanfällig ist, sondern weil es die Balten aus sicherheitspolitischen Überlegungen noch stärker gen Westen drängte.

Die Europäische Union braucht eine neue Vision, die eine Machtbeschränkung der Politik durch Verfahrensregeln und eine institutionellen Ordnungsrahmen in einem non-zentralen Raum sichert. Diese Union darf nicht als Bedrohung in den Ländern empfunden werden, die sich nicht anschließen können oder wollen. In ihr darf nicht das Primat der Politik vorherrschen, sondern ein Primat von Recht und Freiheit. Es geht um die Begrenzung der Macht durch das Zurückdrängen der Politik und ihres Einflusses.

Gerade dies ist heute nicht gewährleistet. Die Kommission und das Parlament der Europäischen Union mischen sich in alle Einzelfragen ein und fühlen sich dafür zuständig. Unveräußerliche Bürgerrechte werden bei der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung beschränkt, die Dezentralität der Marktwirtschaft wird durch eine zentrale Investitionslenkung ersetzt und die Altersvorsorge der Bürger wird durch den Geldsozialismus der EZB vernichtet. Selbst die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union dienen im Zweifel immer dem Machtzuwachs der Institutionen der Europäischen Union gegenüber den Mitgliedsstaaten. Diese Entwicklung in die Unfreiheit und Knechtschaft dient einem höheren Ziel: der Vollendung des europäischen Superstaates. Es sind diese kollektivistischen Ideen, die den Gründungsmythos der europäischen Einigung gefährden und letztlich zerstören.

Deshalb ist eine Diskussion über „Welches Europa wollen wir?“ dringender denn je. Wollen wir ein Europa des Zentralismus und der Unfreiheit oder ein Europa der Vielfalt und der Freiheit. Um diese grundsätzliche Weichenstellung geht es – um nicht mehr und nicht weniger.

Will man das Europa der Vielfalt und der Freiheit, dann braucht es einen institutionellen Ordnungsrahmen, der Recht und Freiheit gegenüber politischer Willkür schützt und sichert. Und es braucht Regeln, die allgemein, abstrakt und für alle gleich sind, damit sie nicht umgangen oder interpretiert werden können. Bereits 1993 hat die „European Institutional Group“, ein Zusammenschluss liberaler Wissenschaftler in Europa, Vorschläge dazu gemacht. Angepasst auf die heutige Zeit könnte eine neue Agenda folgende Punkte umfassen:

  1. Ein Sezessionsrecht für Mitglieder der Währungsgemeinschaft und der Europäischen Union (letzteres existiert bereits).
  2. Eine Ausschlussmöglichkeit aus EU und Euro-Raum gegenüber Mitgliedern, die sich dauerhaft nicht an die gemeinsam geschaffenen Regeln halten.
  3. Der Einrichtung einer zweiten Kammer, die von den nationalen Parlamenten entsandt wird. und die die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips überwacht. Dies ist zu verbinden mit einer Reduzierung des Parlaments der Europäischen Union auf 500 Mitglieder, die in allgemeinen, gleichen und unmittelbaren Wahl gewählt werden.
  4. Eine klare Aufgabentrennung zwischen EU und Nationalstaaten.
  5. Keine Steuerhoheit und keine eigene Verschuldungsmöglichkeit der EU.
  6. Ein klares Bekenntnis zur Kapitalverkehrs-, Niederlassungs-, Waren- und Dienstleistungs- und Reisefreiheit in der Europäischen Union
  7. Eine Reduktion der Kommission der EU auf 12 Kommissare.
  8. Die Schaffung eines Überprüfungsgerichts, dessen Richter von den höchsten nationalen Gerichtshöfen entsandt werden, und die über alle Fälle verhandeln, die die Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedsstaaten betreffen können.
  9. Eine Verlagerung des Initiativrechts für die EU-Gesetzgebung von der Kommission auf den Europäischen Rat. Eine Kammer des Parlaments kann den Rat auffordern, in einem bestimmten Punkt gesetzgeberisch aktiv zu werden. Der Rat hat ein Vetorecht gegen Gesetzgebungsvorhaben.
  10. Ein Konvent mit einer anschließenden Volksabstimmung in allen Mitgliedsstaaten soll die notwendige Legitimation bei den Bürgern einholen.

Die Europäische Union ist am Scheideweg. Deshalb muss die öffentliche Debatte um „Welches Europa wollen wir?“ die verkürzte Diskussion um Ölkännchen, Glühbirnen und Chlorhühner verlassen. Das sind lediglich Ergebnisse des institutionellen Versagens der Union. Eine Diskussion wird nur dann Erfolg haben, wenn sie sich nicht nur auf das beschränkt, was jetzt politisch möglich ist, sondern konsequent die Idee der Gründerväter im Blick hat – eine Vision Europas, die Recht und Freiheit durch Non-Zentralismus schützt.

Photo: Nico Kaiser from Flickr

Jean-Claude Juncker ist ein gewiefter Fuchs. Er weiß, welchen Knopf er drücken muss, um eine breite Debatte zu entfachen. Am vergangenen Wochenende gelang ihm das mit dem Vorschlag zur Gründung einer europäischen Armee: „Eine gemeinsame Armee der Europäer würde Russland den Eindruck vermitteln, dass wir es ernst meinen“, diktierte er Journalisten ins Mikrofon. Die Forderung sprach die Europaromantiker genauso an wie die Falken, die ein entschlossenes Vorgehen gegen Russland einfordern. Selbst die Bundeskanzlerin, die Juncker nicht gerade zu ihrem Freundeskreis zählt, ließ erklären, dass sie sich dies langfristig vorstellen könne. Langfristig ist in diesem Zusammenhang eine Umschreibung, wenn man es eigentlich nicht will, aber es nicht so sagen kann.

Insofern ist der Schachzug Junckers gelungen, denn es lenkt die öffentliche Diskussion weg von den internen Problemen der EU rund um den Euro und die Schuldenkrise in Europa, hin zu einem visionären Projekt – dem europäischen Bundesstaat mit einer eigenen Armee. In diesem Bundesstaat wäre der Kommissionspräsident auch nicht mehr Kommissionspräsident, sondern Regierungs-Chef der Vereinigten Staaten von Europa. Und das Europaparlament wäre ein Parlament, das eine eigene Gesetzgebungskompetenz hätte, selbst Steuern erheben könnte und sogar eine eigene Verschuldungsmöglichkeit besäße – kurzum: eine Supermacht, die es mit den Großen dieser Welt aufnehmen kann. Diese Vorstellung ist durchaus populär. Herrscht doch zuweilen der Eindruck, dass Europa seinen Wohlstand nur erhalten kann, wenn es sich mit China, USA und Russland auf Augenhöhe bewegt – auch militärisch. Doch anders als in China, USA und Russland gibt es in Europa keine Tradition eines Superstaates. Alle Hegemonialmächte in der Geschichte Europas waren nicht von Dauer und umfassten nie ganz Europa.

Die Tradition Europas ist daher eine andere. Es ist, wie Wilhelm Röpke es formulierte, die Vielheit in der Einheit, die das Wesen Europas ausmacht. Die kulturelle Vielfalt, die wirtschaftliche Prosperität und der Non-Zentralismus sind die Stärken Europas. Es ist der Wettbewerb im Kleinen, der nicht nur die Freiheit des Einzelnen sichert, sondern auch Wohlstand schafft.

Denn wenn die Größe eines Landes die Voraussetzung für Wohlstand und Freiheit wäre, dann wäre Norwegen das Armenhaus Europas und der Schweizer Freisinn mit Wilhelm Tell untergegangen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Nicht der Zentralismus schafft mehr Freiheit und mehr Wohlstand, sondern er zerstört beides. Deshalb ist der Europäische Bundesstaat mit einer eigenen Armee ein Irrweg. Wer soll die Befehlsgewalt darüber haben? Jean-Claude Juncker? Das Parlament der Europäischen Union? Die sicherheitspolitischen Traditionen Frankreichs und Großbritanniens auf der einen Seite und Deutschlands auf der anderen Seite sind so fundamental unterschiedlich, dass man nicht einmal das „neutrale“ Finnland oder Österreich heranziehen muss, um klar zu machen, dass dies nicht unter eine Hut passt. Es ist ein großes Verdienst in Deutschland, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist. Jeder Einsatz muss durch das Plenum des Bundestages gebilligt werden. Für die Regierung ist dies immer wieder eine Gratwanderung, die eine öffentliche Debatte über den Sinn und Unsinn des jeweiligen Militäreinsatzes auslöst. Je abstrakter und zentralistischer die Ebene der Entscheidung über den Einsatz deutscher Soldaten ist, desto leichter fällt diese Entscheidung. Deutsche Soldaten sollen nicht zur Weltpolizei werden, auch nicht unter dem Dach einer europäischen Armee.

Die Westbindung durch die Nato hat den Frieden in Europa über Jahrzehnte gesichert. Die Einbindung in das transatlantische Verteidigungsbündnis ist deshalb der richtige Platz für Deutschland. Das gegenseitige Beistandsversprechen hat bei den kleineren und größeren Nato-Partnern Stabilität und Vertrauen erzeugt. Daran zu rütteln hieße, den Frieden in Europa aufs Spiel zu setzen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 14. März 2015 in der Fuldaer Zeitung.

Photo: Aaron Cannon from Flickr

Es wird Sie vielleicht überraschen: Ich bin dafür, dass wir mehr Verständnis für Griechenland und seine Bürger aufbringen. Es ist entwürdigend für das griechische Volk, was ihnen von außen aufgezwungen wird. Kein Land auf dieser Welt würde das hinnehmen. Nicht einmal vorübergehend würde akzeptiert, was in Griechenland seit fünf Jahren stattfindet. Doch die Euro-Retter glauben fortwährend, dass dies der richtige und auch gangbare Weg sei.

Man stelle sich einmal diese Situation in Deutschland vor. Frankreich oder Italien würden unsere Regierung und unser Parlament zwingen, über 12 Jahre (das griechische Programm läuft mindestens von 2010-2022) einen festen Katalog von Maßnahmen, darunter die Entlassung von Beamten, die Kürzung von Renten und sozialen Leistungen, ohne Abstriche umzusetzen. Die Umsetzung würde eine Gruppe von Experten aus Paris und Rom überwachen und kontrollieren. Und nach fünf Jahren wäre die wirtschaftliche Situation sogar noch schlimmer als zu Beginn der Krise.

Was würde in Deutschland geschehen? Wahrscheinlich das Gleiche wie in Griechenland. Die Extreme würden Zulauf bekommen, Streiks und Chaos wären an der Tagesordnung. Und jeder würde sein Geld in Sicherheit bringen. Kurzum: Ein Klima wie in der Endphase der Weimarer Republik würde aufkommen. Damals verlor Deutschland zwischen 1928 und 1932 40 Prozent seiner Wirtschaftsleistung, die Industrieproduktion sank um über 22 Prozent und die Arbeitslosigkeit lag am Höhepunkt bei 5,6 Millionen.

Die Zahlen Griechenlands sind ähnlich dramatisch. Seit 2008 ging die Wirtschaftsleistung um 27 Prozent zurück, die Arbeitslosigkeit stieg auf 27 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit sogar auf 50 Prozent und die Industrieproduktion (saisonbereinigter breit gefasster Industrieproduktionsindex ohne Baugewerbe) ist auf dem Niveau von 1979(!). Gleichzeitig gibt es keine Spur der Erholung. Die Exporte von Waren und Gütern sind im Januar um weitere 12,8 Prozent auf gerade mal 1,86 Milliarden Euro gesunken und dies bei immer noch hohen Importen von 3,13 Milliarden Euro. Wie soll daraus jemals eine sich selbst tragende Volkswirtschaft werden?

In diesem Umfeld drängt der Euro-Club auf weitere Maßnahmen in Griechenland. Das ist unverantwortlich und wird Griechenland noch weiter ins Chaos stürzen. Das alles nur, damit der Euro-Raum als Ganzes erhalten bleibt. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat es dieser Tage nochmals unterstrichen: „Es wird niemals einen Grexit geben.“ Dieser neue europäische Absolutismus ist das Problem und muss beendet werden. Er ist anmaßend, rechthaberisch und verantwortungslos. Nach fünf Jahren Retterei müsste dies auch dem letzten Euro-Romantiker klar sein.

Die griechische Regierung, das griechische Parlament und das griechische Volk müssen selbst über ihr Schicksal in eigener Verantwortung entscheiden. Sie müssen die notwendigen Veränderungen wollen und durchführen. Sie müssen eine aktive Bürgergesellschaft entwickeln, die gegen Korruption, Vetternwirtschaft und Machtmissbrauch ankämpft. Das kann nicht durch eine Troika, egal welchen Namen sie aktuell trägt, von außen erzwungen werden, sondern muss aus innerer Einsicht erfolgen. Entscheidend für die Rückgewinnung der eigenen Freiheit Griechenlands ist aber eines: Die Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln.

Wer glaubt, die Europäische Union, der Euro-Club oder Deutschland seien so eine Art Allmende, bei der sich jeder auf Kosten des anderen bedienen kann, wird am Ende nur noch eine abgegraste Wüste in Europa vorfinden.

Photo: SpaceShoe from Flickr

Das Grundgesetz regelt es in Artikel 38 Absatz 1, Satz 2 sehr klar: Sie (die Abgeordneten) sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Doch da fängt das Problem an. Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind keine freischaffenden Künstler, sondern meist tief eingebunden in ihre jeweilige Partei- und/oder Fraktionsstruktur. Viele davon haben ihren Beruf aufgegeben oder hatten nie einen. Das führt bei Abstimmungen im Parlament zwangsläufig zu intensiven Abwägungsfragen mit dem eigenen Gewissen. Denn allen Abgeordneten ist eines bewusst: Die Legislaturperiode dauert maximal vier Jahre. Danach werden die Karten neu gemischt. Man will sich erneut von der eigenen Partei aufstellen lassen, muss sich gegen innerparteilichen Wettbewerber durchsetzen und der Wähler hat dann auch noch ein Wörtchen mitzureden.

Deshalb erzeugt unser Parteiensystem häufig den gleichen Typus Abgeordneter. Oft sind es Menschen, die schon sehr früh in die Jugendorganisation der jeweiligen Partei eingetreten sind, kommunalpolitische Erfahrungen gesammelt haben – und irgendwann ergab sich die Möglichkeit, für den Landtag oder den Bundestag zu kandidieren. Wenn man in der Zwischenzeit noch berufliche Erfahrung gesammelt hat, schadet das nicht, es ist aber auch nicht notwendig. Am liebsten sind den Partei- und Fraktionsspitzen Abgeordnete, die gut ausgebildet und einigermaßen intelligent sind, die Partei aus dem Effeff kennen und gerade ein kleines Häuschen für die junge Familie gebaut haben, das sie möglichst noch viele Jahre abbezahlen müssen – das diszipliniert im Zweifel.

Quereinsteiger in der deutschen Politik haben es sehr schwer. Sie schaffen es meist nicht, sich im innerparteilichen Vorauswahlverfahren gegen die Strippenzieher durchzusetzen. Und gelingt es dennoch einmal jemandem, dann scheitert er spätestens an den noch intensiveren Strippenziehern in der Fraktion. Auch wenn ich selbst ein Kind dieser Entwicklung bin, macht dies mir zunehmend Sorge. Denn wenn in unserer parlamentarischen Demokratie der Zweck alle Mittel heiligt, das Parlament nicht mehr der Ort der Kontroverse, sondern nur noch das Plenum der Verkündung von Partei- und Fraktionsmeinungen ist, dann gibt es in entscheidenden Momenten keine Widerstandskraft gegenüber einer Regierung, die das Recht mit Füßen tritt. Der Kompass geht verloren, weil man an die nächste Listenaufstellung oder an die nächste Wahlkreisversammlung denkt. Und das lässt eine Partei- und Fraktionsspitze die „Abweichler“ spüren. Dies geschieht erst subtil, indem der Querulant nicht mehr als Redner von der Fraktion nominiert wird oder bei der Pöstchenvergabe unberücksichtigt bleibt. Wenn es doller wird, dann wird man in der Fraktionssitzung zur Sau gemacht, es wird getuschelt und intrigiert, was das Zeug hält. Wer dies durchstehen will, braucht ein dickes Fell und Unterstützung an anderer Stelle.

Trotz dieser Rahmenbedingungen gibt es eine ganze Reihe von „Selbstdenkern“ im Parlament. Peter Danckert von der SPD war so einer. Selbst Hans-Christian Ströbele von den Grünen kann man das unterstellen. Aber auch Klaus-Peter Willsch, Wolfgang Bosbach und Peter Gauweiler sind von diesem Schlag. Letzterer hat durch seine Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht mehr für die parlamentarische Demokratie erreicht als Hundertschaften von Abgeordneten, die blindlings ihrer Parteispitze gefolgt sind. Deshalb ist es ein Weckruf an alle, wenn Bosbach im Zuge der Abstimmung über die Verlängerung der Griechenland-Hilfe über einen Rückzug aus der Politik laut nachdenkt. Er wolle nicht immer die Kuh sein, die quer im Stall steht, so der CDU-Mann. So sehr man das Gefühl teilen mag, so sehr verkennt der Rheinländer seine Wirkung in der Öffentlichkeit. Er gibt vielen Bürgern eine Stimme, die sich enttäuscht abwenden, resignieren oder politisch heimatlos sind. Das werden leider immer mehr Menschen in diesem Land. Und er verändert die Politik mehr als er glaubt. Die Regierung spürt seinen Atem im Nacken.

Finanzminister Wolfgang Schäuble fürchtet jede Abstimmung zur „Euro-Rettung“ im Parlament. Jedes Mal eine öffentliche Nabelschau, jedes Mal eine kritische Berichterstattung. Und jedes Mal haben Abgeordnete wie Bosbach, Gauweiler und Willsch die Möglichkeit, den Willen und die Entschlossenheit gegen die fortwährende Verschwendung von Steuergeldern und die Beugung des Rechts anzugehen. Sie bilden damit eine wichtige Gegenmacht zur Willkür der Regierenden. Der große britische Liberale des 19. Jahrhunderts, Lord Acton, warnte Zeit seines Lebens vor zu viel Machtkonzentration. Er brachte seine Skepsis mit dem Satz auf den Punkt: Macht hat die Tendenz zu korrumpieren, absolute Macht korrumpiert absolut.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 28. Februar 2015 in der Fuldaer Zeitung.

Photo: Papiertrümmer from Flickr

Welche Rolle auch immer Wladimir Putin im Fall des ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow gespielt hat, eines steht zweifellos fest: Seine Politik in den vergangenen 15 Jahren hat wesentlich dazu beigetragen, dass in Russland ein Klima der Gewalt und Brutalität entstehen konnte. Dahinter steckt ein eiskalter Machtwille des Präsidenten. Die Interessen Russlands oder des russischen Volkes verfolgen er und seine Gefährten jedenfalls nicht.

Die Saat des Hasses …

Putins Auftreten auf der großen Bühne der Politik begann mit einer gewaltigen Strafaktion gegen Tschetschenien, die fast zehn Jahre dauern sollte. Kurz nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten im August 1999 gab er den Befehl zum Zweiten Tschetschenienkrieg. Das kleine nordkaukasische Land, das – wie angeblich die Krim oder die Ost-Ukraine – die Unabhängigkeit anstrebte, wurde von regulären russischen Truppen und marodierenden Freischärlern über Jahre hinweg mit Krieg überzogen. Entführungen, Folter, Vergewaltigungen und Massenmorde, die dort über Jahre hinweg den Alltag beherrschten, haben den Terrorismus, der bekämpft werden sollte, sicherlich nicht eingedämmt, sondern wohl eher noch verschärft. Nachweislich unterstützte die russische Regierung in Putins Zeit als Präsident und Ministerpräsident außerdem bewaffnete Konflikte und Kriege in den georgischen Teilrepubliken Süd-Ossetien und Abchasien sowie in dem zu Moldawien gehörenden Transnistrien.

Innenpolitisch war und ist die Regierungszeit Putins seit 1999 geprägt von vielerlei Repressalien. Kritische, unabhängige Medien und Journalisten sind immer wieder Schikanen ausgesetzt, die ihre ohnehin schon marginale Stellung gegenüber staatsfinanzierten Medien zusätzlich gefährden. Ein besonders drastisches Beispiel für die Bedrohung der Pressefreiheit sind die zahlreichen Morde an Journalisten, unter denen der Mord an Anna Politkowskaja besonders hervorsticht. Auch wenn keine direkte Verbindung zu staatlichen Stellen gezogen werden kann, ist doch offensichtlich, dass der Staat darin versagt, für die Sicherheit von Journalisten zu sorgen. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich um die Förderung der Menschenrechte sorgen, sind seit 2012 verpflichtet, sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen, wenn sie Gelder aus dem Ausland annehmen. Beängstigend sind auch die zum Teil aberwitzigen Prozesse und Urteile gegen Michail Chodorkowski, Pussy Riot, Alexei Navalny und seinen Bruder Oleg sowie die vielen anderen gegen Oppositionelle im ganzen Land, von denen kaum berichtet wird.

… auf dem Nährboden der Angst

Putin und seine Helfer arbeiten zunehmend mit Feindbildern. Das ist eine bewährte Methode von Herrschern, um die eigene Bevölkerung hinter sich zu bringen. Waren es zu Beginn seiner Herrschaft noch die realen islamistischen Terroristen im Nordkaukasus, so wurden die Feinde im Laufe der Zeit immer virtueller. So konnte man im Laufe der letzten Jahre ein massives Anwachsen der Ausländerfeindlichkeit gegenüber den Gastarbeitern aus dem Kaukasus und den zentralasiatischen Staaten beobachten. Seit Juni 2013 gibt es ein Gesetz zum Verbot „homosexueller Propaganda“, das sich nahtlos einfügt in Putins Selbstdarstellung als Bewahrer traditioneller Werte. „Der Westen“ wird nicht nur als militärische oder ökonomische Bedrohung dargestellt. Es werden auch Ängste geschürt, dass Russland infizieren werden könnte durch die moralische Korruption der sogenannten „Liberasten“ (eine Wortneuschöpfung aus Liberalen und Päderasten).

Die wenig zielführenden Sanktionen der EU und der USA gegenüber Russland seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine sind für Putin ein höchst willkommenes Mittel, um Angst zu verbreiten. Die real zu fühlende rapide Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in den vergangenen Monaten kann als Teil der wachsenden Bedrohung durch den Westen dargestellt werden, obwohl die Ursachen für die ökonomische Misere wesentlich vielfältiger sind. Von innen und von außen erscheint Russland immer mehr Bedrohungen ausgesetzt, gegen die nur ein starker Mann wie Putin Land und Leute wirkungsvoll verteidigen kann. Die gelungene Inszenierung trägt maßgeblich dazu bei, dass selbst im Ausland viele Putins Politik als legitime Reaktion auf eine reale Bedrohung ansehen.

Die Saat geht blutig auf

In Nemzows letzten Interview, das er wenige Stunden vor seiner Ermordung gab, stellte dieser die Situation ganz anders dar. Der Krieg in der Ukraine ist für ihn ein Bürgerkrieg. Die Konfrontation mit dem Westen sinnlos. Die Wirtschaftspolitik selbstmörderisch. Und überhaupt: die gesamte russische Politik verrückt. Putin hat, so Nemzow, „die Russen mit dem Virus eines Minderwertigkeitskomplexes gegen den Westen infiziert; mit dem Glauben, dass wir einzig durch Gewalt, Terror und Aggression die Welt beeindrucken können. Er hat meine Mitbürger darauf konditioniert, Fremde zu hassen. Er hat ihnen eingeredet, dass wir die alte sowjetische Ordnung wiederherstellen müssen, und dass Russlands Stellung in der Welt komplett davon abhängt, wie sehr die Welt uns fürchtet.“

Es ist dieses Klima der Bedrohung und Angst, das dazu geführt hat, dass gewaltlose Oppositionelle wie Nemzow auf offener Straße erschossen werden – von wem auch immer. Die Saat, die Putin und seine Ideologen über Jahre gesät haben, ist am Abend des 27. Februar 2015 auf der Großen Moskwa-Brücke einmal wieder aufgegangen. Nemzow hat dort sein Eintreten für Recht und Freiheit mit dem Leben bezahlt. Selbst wenn Putin nichts von den Absichten des Mörders gewusst haben sollte, trägt er die Hauptverantwortung dafür, dass es zu solchen Taten kommen kann, weil er den Nährboden gelegt hat, auf dem diese blutige Saat aufgehen konnte.

Ein anderer Weg ist möglich

Der Weg, den Putin und seinen Verbündeten seit über 15 Jahren in Russland gehen, ist nicht der einzig mögliche. Auch der Weg demokratischer, rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Reformen wäre immer eine Option gewesen. Das zeigen deutlich die Beispiele von Politikern wie Boris Nemzow, der diesen Weg in den 90er Jahren einschlagen wollte. Bis in die Regierungszeit Putins hinein gab es in der russischen Politik Menschen, die für diesen Weg plädiert haben. Dafür stehen Namen wie Jegor Gaidar, Anatolij Tschubais oder Michail Kasjanow. Diese Menschen haben den Westen nicht als Bedrohung empfunden, sondern als Partner beim Aufbau einer friedlichen und wohlhabenden Welt. Putin hat sich gegen diesen Weg entschieden, weil ihm nur ein autoritäres Russland seine Macht zu sichern scheint.

Die Wirkung breiter Wirtschaftssanktionen ist zweifelhaft. Eine finanzielle oder auch nur logistische Unterstützung der russischen Opposition bringt diese im Zweifel in mehr Schwierigkeiten als sie nutzt. Was also kann getan werden, um das andere Russland zu unterstützen in seinem Kampf gegen Angst und Unterdrückung?

Drei praktische Vorschläge

1. Nicht von Russland sprechen, wenn man Putin meint: Die russische Bevölkerung mag im Augenblick stark hinter ihrem Präsidenten stehen. Viele von ihnen sind aber seit 15 Jahren einer massiven Propaganda-Maschine ausgesetzt und können sich in dieser Informationsasymetrie nur schwer eine fundierte Meinung bilden. Wer pauschal „Russland“ verantwortlich macht für den Krieg in der Ukraine oder die Verfolgung von Oppositionellen, Ausländern und Homosexuellen, der bereitet nur weiteren Ressentiments auf Seite der russischen Bevölkerung den Boden. Nennen wir die Schuldigen beim Namen: Putin und seine Helfershelfer.

2. Dem anderen Russland eine Stimme geben: Menschen wie die „Soldatenmutter“ Ella Poljakowa oder der junge Oppositionsführer Ilja Jaschin sind hierzulande kaum bekannt. Sie verdienen aber unsere Aufmerksamkeit. Sie haben uns etwas zu erzählen über das andere Russland. Im eigenen Land fällt es ihnen enorm schwer, sich eine Stimme zu verschaffen. Das kann leicht zu großer Frustration führen, weil man sich vollkommen einsam vorkommt. Wenn es gelingt, ihrer Stimme in den demokratischen und freien Ländern dieser Welt Gehör zu verschaffen, können sie erkennen, dass sie nicht allein sind, sondern dass überall Menschen ihre Werte teilen und mit ihnen fühlen. Zeigen wir ihnen, dass sie nicht alleine sind.

3. Alternativen entwerfen: Solange wir uns nur mit dem Status Quo beschäftigen, können Putins Sprachrohre ohne Probleme ihre Geschichte weiterstricken, dass der Westen eine Bedrohung für Russland darstelle. Wenn von Russland stets nur gesprochen wird im Zusammenhang mit der Unterstützung der Separatisten in der Ukraine oder mit Überlegungen zu weiteren Sanktionen, ist nicht unbedingt plausibel, dass allein Putin ein Interesse an dem Konflikt hat und nicht auch westliche Regierungen. Deutschland, Europa, „der Westen“ sollten konkrete Alternativen aufzeigen: Wir würde eine Welt aussehen, in der Russland und der „Westen“ Partner sind? Mit ganz konkreten Ideen müssen wir aufzeigen, wie ein friedliches und gedeihliches Miteinander möglich sein kann: mit Freihandelsabkommen, Visa-Freiheit für russische Bürger, dem Angebot der Kooperation in Fragen der globalen Sicherheit, des Umweltschutzes und der weltweiten Bekämpfung von Krankheiten. Es muss sich herumsprechen, dass wir Frieden wollen – mit einem Russland, in dem die Bürger in Freiheit und unter dem Schutz des Rechts leben können.

Am Ende seines letzten Interviews wurde genau diese Vision von Boris Nemzow gezeichnet: „Wir brauchen eine alternative Vision, eine andere Idee von Russland. Unsere Idee ist die eines demokratischen und offenen Russland. Eines Landes, das sich gegenüber seinen eigenen Bürgern und seinen Nachbarn nicht wie ein Bandit verhält.“

Photo: Игорь Титаренко from Flickr