Welche Rolle auch immer Wladimir Putin im Fall des ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow gespielt hat, eines steht zweifellos fest: Seine Politik in den vergangenen 15 Jahren hat wesentlich dazu beigetragen, dass in Russland ein Klima der Gewalt und Brutalität entstehen konnte. Dahinter steckt ein eiskalter Machtwille des Präsidenten. Die Interessen Russlands oder des russischen Volkes verfolgen er und seine Gefährten jedenfalls nicht.

Die Saat des Hasses …

Putins Auftreten auf der großen Bühne der Politik begann mit einer gewaltigen Strafaktion gegen Tschetschenien, die fast zehn Jahre dauern sollte. Kurz nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten im August 1999 gab er den Befehl zum Zweiten Tschetschenienkrieg. Das kleine nordkaukasische Land, das – wie angeblich die Krim oder die Ost-Ukraine – die Unabhängigkeit anstrebte, wurde von regulären russischen Truppen und marodierenden Freischärlern über Jahre hinweg mit Krieg überzogen. Entführungen, Folter, Vergewaltigungen und Massenmorde, die dort über Jahre hinweg den Alltag beherrschten, haben den Terrorismus, der bekämpft werden sollte, sicherlich nicht eingedämmt, sondern wohl eher noch verschärft. Nachweislich unterstützte die russische Regierung in Putins Zeit als Präsident und Ministerpräsident außerdem bewaffnete Konflikte und Kriege in den georgischen Teilrepubliken Süd-Ossetien und Abchasien sowie in dem zu Moldawien gehörenden Transnistrien.

Innenpolitisch war und ist die Regierungszeit Putins seit 1999 geprägt von vielerlei Repressalien. Kritische, unabhängige Medien und Journalisten sind immer wieder Schikanen ausgesetzt, die ihre ohnehin schon marginale Stellung gegenüber staatsfinanzierten Medien zusätzlich gefährden. Ein besonders drastisches Beispiel für die Bedrohung der Pressefreiheit sind die zahlreichen Morde an Journalisten, unter denen der Mord an Anna Politkowskaja besonders hervorsticht. Auch wenn keine direkte Verbindung zu staatlichen Stellen gezogen werden kann, ist doch offensichtlich, dass der Staat darin versagt, für die Sicherheit von Journalisten zu sorgen. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich um die Förderung der Menschenrechte sorgen, sind seit 2012 verpflichtet, sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen, wenn sie Gelder aus dem Ausland annehmen. Beängstigend sind auch die zum Teil aberwitzigen Prozesse und Urteile gegen Michail Chodorkowski, Pussy Riot, Alexei Navalny und seinen Bruder Oleg sowie die vielen anderen gegen Oppositionelle im ganzen Land, von denen kaum berichtet wird.

… auf dem Nährboden der Angst

Putin und seine Helfer arbeiten zunehmend mit Feindbildern. Das ist eine bewährte Methode von Herrschern, um die eigene Bevölkerung hinter sich zu bringen. Waren es zu Beginn seiner Herrschaft noch die realen islamistischen Terroristen im Nordkaukasus, so wurden die Feinde im Laufe der Zeit immer virtueller. So konnte man im Laufe der letzten Jahre ein massives Anwachsen der Ausländerfeindlichkeit gegenüber den Gastarbeitern aus dem Kaukasus und den zentralasiatischen Staaten beobachten. Seit Juni 2013 gibt es ein Gesetz zum Verbot „homosexueller Propaganda“, das sich nahtlos einfügt in Putins Selbstdarstellung als Bewahrer traditioneller Werte. „Der Westen“ wird nicht nur als militärische oder ökonomische Bedrohung dargestellt. Es werden auch Ängste geschürt, dass Russland infizieren werden könnte durch die moralische Korruption der sogenannten „Liberasten“ (eine Wortneuschöpfung aus Liberalen und Päderasten).

Die wenig zielführenden Sanktionen der EU und der USA gegenüber Russland seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine sind für Putin ein höchst willkommenes Mittel, um Angst zu verbreiten. Die real zu fühlende rapide Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in den vergangenen Monaten kann als Teil der wachsenden Bedrohung durch den Westen dargestellt werden, obwohl die Ursachen für die ökonomische Misere wesentlich vielfältiger sind. Von innen und von außen erscheint Russland immer mehr Bedrohungen ausgesetzt, gegen die nur ein starker Mann wie Putin Land und Leute wirkungsvoll verteidigen kann. Die gelungene Inszenierung trägt maßgeblich dazu bei, dass selbst im Ausland viele Putins Politik als legitime Reaktion auf eine reale Bedrohung ansehen.

Die Saat geht blutig auf

In Nemzows letzten Interview, das er wenige Stunden vor seiner Ermordung gab, stellte dieser die Situation ganz anders dar. Der Krieg in der Ukraine ist für ihn ein Bürgerkrieg. Die Konfrontation mit dem Westen sinnlos. Die Wirtschaftspolitik selbstmörderisch. Und überhaupt: die gesamte russische Politik verrückt. Putin hat, so Nemzow, „die Russen mit dem Virus eines Minderwertigkeitskomplexes gegen den Westen infiziert; mit dem Glauben, dass wir einzig durch Gewalt, Terror und Aggression die Welt beeindrucken können. Er hat meine Mitbürger darauf konditioniert, Fremde zu hassen. Er hat ihnen eingeredet, dass wir die alte sowjetische Ordnung wiederherstellen müssen, und dass Russlands Stellung in der Welt komplett davon abhängt, wie sehr die Welt uns fürchtet.“

Es ist dieses Klima der Bedrohung und Angst, das dazu geführt hat, dass gewaltlose Oppositionelle wie Nemzow auf offener Straße erschossen werden – von wem auch immer. Die Saat, die Putin und seine Ideologen über Jahre gesät haben, ist am Abend des 27. Februar 2015 auf der Großen Moskwa-Brücke einmal wieder aufgegangen. Nemzow hat dort sein Eintreten für Recht und Freiheit mit dem Leben bezahlt. Selbst wenn Putin nichts von den Absichten des Mörders gewusst haben sollte, trägt er die Hauptverantwortung dafür, dass es zu solchen Taten kommen kann, weil er den Nährboden gelegt hat, auf dem diese blutige Saat aufgehen konnte.

Ein anderer Weg ist möglich

Der Weg, den Putin und seinen Verbündeten seit über 15 Jahren in Russland gehen, ist nicht der einzig mögliche. Auch der Weg demokratischer, rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Reformen wäre immer eine Option gewesen. Das zeigen deutlich die Beispiele von Politikern wie Boris Nemzow, der diesen Weg in den 90er Jahren einschlagen wollte. Bis in die Regierungszeit Putins hinein gab es in der russischen Politik Menschen, die für diesen Weg plädiert haben. Dafür stehen Namen wie Jegor Gaidar, Anatolij Tschubais oder Michail Kasjanow. Diese Menschen haben den Westen nicht als Bedrohung empfunden, sondern als Partner beim Aufbau einer friedlichen und wohlhabenden Welt. Putin hat sich gegen diesen Weg entschieden, weil ihm nur ein autoritäres Russland seine Macht zu sichern scheint.

Die Wirkung breiter Wirtschaftssanktionen ist zweifelhaft. Eine finanzielle oder auch nur logistische Unterstützung der russischen Opposition bringt diese im Zweifel in mehr Schwierigkeiten als sie nutzt. Was also kann getan werden, um das andere Russland zu unterstützen in seinem Kampf gegen Angst und Unterdrückung?

Drei praktische Vorschläge

1. Nicht von Russland sprechen, wenn man Putin meint: Die russische Bevölkerung mag im Augenblick stark hinter ihrem Präsidenten stehen. Viele von ihnen sind aber seit 15 Jahren einer massiven Propaganda-Maschine ausgesetzt und können sich in dieser Informationsasymetrie nur schwer eine fundierte Meinung bilden. Wer pauschal „Russland“ verantwortlich macht für den Krieg in der Ukraine oder die Verfolgung von Oppositionellen, Ausländern und Homosexuellen, der bereitet nur weiteren Ressentiments auf Seite der russischen Bevölkerung den Boden. Nennen wir die Schuldigen beim Namen: Putin und seine Helfershelfer.

2. Dem anderen Russland eine Stimme geben: Menschen wie die „Soldatenmutter“ Ella Poljakowa oder der junge Oppositionsführer Ilja Jaschin sind hierzulande kaum bekannt. Sie verdienen aber unsere Aufmerksamkeit. Sie haben uns etwas zu erzählen über das andere Russland. Im eigenen Land fällt es ihnen enorm schwer, sich eine Stimme zu verschaffen. Das kann leicht zu großer Frustration führen, weil man sich vollkommen einsam vorkommt. Wenn es gelingt, ihrer Stimme in den demokratischen und freien Ländern dieser Welt Gehör zu verschaffen, können sie erkennen, dass sie nicht allein sind, sondern dass überall Menschen ihre Werte teilen und mit ihnen fühlen. Zeigen wir ihnen, dass sie nicht alleine sind.

3. Alternativen entwerfen: Solange wir uns nur mit dem Status Quo beschäftigen, können Putins Sprachrohre ohne Probleme ihre Geschichte weiterstricken, dass der Westen eine Bedrohung für Russland darstelle. Wenn von Russland stets nur gesprochen wird im Zusammenhang mit der Unterstützung der Separatisten in der Ukraine oder mit Überlegungen zu weiteren Sanktionen, ist nicht unbedingt plausibel, dass allein Putin ein Interesse an dem Konflikt hat und nicht auch westliche Regierungen. Deutschland, Europa, „der Westen“ sollten konkrete Alternativen aufzeigen: Wir würde eine Welt aussehen, in der Russland und der „Westen“ Partner sind? Mit ganz konkreten Ideen müssen wir aufzeigen, wie ein friedliches und gedeihliches Miteinander möglich sein kann: mit Freihandelsabkommen, Visa-Freiheit für russische Bürger, dem Angebot der Kooperation in Fragen der globalen Sicherheit, des Umweltschutzes und der weltweiten Bekämpfung von Krankheiten. Es muss sich herumsprechen, dass wir Frieden wollen – mit einem Russland, in dem die Bürger in Freiheit und unter dem Schutz des Rechts leben können.

Am Ende seines letzten Interviews wurde genau diese Vision von Boris Nemzow gezeichnet: „Wir brauchen eine alternative Vision, eine andere Idee von Russland. Unsere Idee ist die eines demokratischen und offenen Russland. Eines Landes, das sich gegenüber seinen eigenen Bürgern und seinen Nachbarn nicht wie ein Bandit verhält.“

Photo: Игорь Титаренко from Flickr

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