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Von Orlandis Vopoulos.

Ach, was muss man oft von bösen
Griechen hören oder lesen!
Wie zum Beispiel hier von diesen,
welche Vaks und Sapritz hießen.
Ja, zur Übeltätigkeit
waren sie nur zu bereit.
Bald schon nach gewonn’ner Wahl
wurden Brüssel sie zur Qual.
Seht, da ist der Lehrer Schäubel,
grimmig wünscht er sie zum Deubel.
Seines Lebens schönster Traum
ist der große Euroraum.
Sehr viel Geld hat er verliehen,
mancher hat es ihm verziehen,
denn der Schäubel hat versprochen
(oft hat er sein Wort gebrochen),
dieses Geld, das kommt zurück,
Beistand bringt Europa Glück.
Schäubel will die Griechen lehren,
ihren Wohlstand zu vermehren.
Vaks und Sapritz, diese beiden,
können das nun gar nicht leiden.
Griechenland ist doch bankrott!
Drum sie schmieden ein Komplott.
Ihre Schulden woll’n sie streichen,
lässt sich Schäubel nicht erweichen,
immer mehr Kredit zu geben.
So verdrießt man ihm das Leben.
Schäubel sitzt jetzt in der Klemme:
soll er Held sein oder Memme?
Zahlt er nicht, wird offenbar,
dass sein Kurs der falsche war.
Viele Bürger fragen nun:
was ist hier jetzt wohl zu tun?
Der Minister sollte gehen,
denn er kann nicht widerstehn.
Vaks und Tsipras tun ihn jagen,
„Nein“ kann nur ein Neuer sagen.

Und die Moral von der Geschicht:
Versprich den Leuten Falsches nicht.

Prof. Roland Vaubel ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.

Photo: Wikimedia

Welche Rolle auch immer Wladimir Putin im Fall des ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow gespielt hat, eines steht zweifellos fest: Seine Politik in den vergangenen 15 Jahren hat wesentlich dazu beigetragen, dass in Russland ein Klima der Gewalt und Brutalität entstehen konnte. Dahinter steckt ein eiskalter Machtwille des Präsidenten. Die Interessen Russlands oder des russischen Volkes verfolgen er und seine Gefährten jedenfalls nicht.

Die Saat des Hasses …

Putins Auftreten auf der großen Bühne der Politik begann mit einer gewaltigen Strafaktion gegen Tschetschenien, die fast zehn Jahre dauern sollte. Kurz nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten im August 1999 gab er den Befehl zum Zweiten Tschetschenienkrieg. Das kleine nordkaukasische Land, das – wie angeblich die Krim oder die Ost-Ukraine – die Unabhängigkeit anstrebte, wurde von regulären russischen Truppen und marodierenden Freischärlern über Jahre hinweg mit Krieg überzogen. Entführungen, Folter, Vergewaltigungen und Massenmorde, die dort über Jahre hinweg den Alltag beherrschten, haben den Terrorismus, der bekämpft werden sollte, sicherlich nicht eingedämmt, sondern wohl eher noch verschärft. Nachweislich unterstützte die russische Regierung in Putins Zeit als Präsident und Ministerpräsident außerdem bewaffnete Konflikte und Kriege in den georgischen Teilrepubliken Süd-Ossetien und Abchasien sowie in dem zu Moldawien gehörenden Transnistrien.

Innenpolitisch war und ist die Regierungszeit Putins seit 1999 geprägt von vielerlei Repressalien. Kritische, unabhängige Medien und Journalisten sind immer wieder Schikanen ausgesetzt, die ihre ohnehin schon marginale Stellung gegenüber staatsfinanzierten Medien zusätzlich gefährden. Ein besonders drastisches Beispiel für die Bedrohung der Pressefreiheit sind die zahlreichen Morde an Journalisten, unter denen der Mord an Anna Politkowskaja besonders hervorsticht. Auch wenn keine direkte Verbindung zu staatlichen Stellen gezogen werden kann, ist doch offensichtlich, dass der Staat darin versagt, für die Sicherheit von Journalisten zu sorgen. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich um die Förderung der Menschenrechte sorgen, sind seit 2012 verpflichtet, sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen, wenn sie Gelder aus dem Ausland annehmen. Beängstigend sind auch die zum Teil aberwitzigen Prozesse und Urteile gegen Michail Chodorkowski, Pussy Riot, Alexei Navalny und seinen Bruder Oleg sowie die vielen anderen gegen Oppositionelle im ganzen Land, von denen kaum berichtet wird.

… auf dem Nährboden der Angst

Putin und seine Helfer arbeiten zunehmend mit Feindbildern. Das ist eine bewährte Methode von Herrschern, um die eigene Bevölkerung hinter sich zu bringen. Waren es zu Beginn seiner Herrschaft noch die realen islamistischen Terroristen im Nordkaukasus, so wurden die Feinde im Laufe der Zeit immer virtueller. So konnte man im Laufe der letzten Jahre ein massives Anwachsen der Ausländerfeindlichkeit gegenüber den Gastarbeitern aus dem Kaukasus und den zentralasiatischen Staaten beobachten. Seit Juni 2013 gibt es ein Gesetz zum Verbot „homosexueller Propaganda“, das sich nahtlos einfügt in Putins Selbstdarstellung als Bewahrer traditioneller Werte. „Der Westen“ wird nicht nur als militärische oder ökonomische Bedrohung dargestellt. Es werden auch Ängste geschürt, dass Russland infizieren werden könnte durch die moralische Korruption der sogenannten „Liberasten“ (eine Wortneuschöpfung aus Liberalen und Päderasten).

Die wenig zielführenden Sanktionen der EU und der USA gegenüber Russland seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine sind für Putin ein höchst willkommenes Mittel, um Angst zu verbreiten. Die real zu fühlende rapide Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in den vergangenen Monaten kann als Teil der wachsenden Bedrohung durch den Westen dargestellt werden, obwohl die Ursachen für die ökonomische Misere wesentlich vielfältiger sind. Von innen und von außen erscheint Russland immer mehr Bedrohungen ausgesetzt, gegen die nur ein starker Mann wie Putin Land und Leute wirkungsvoll verteidigen kann. Die gelungene Inszenierung trägt maßgeblich dazu bei, dass selbst im Ausland viele Putins Politik als legitime Reaktion auf eine reale Bedrohung ansehen.

Die Saat geht blutig auf

In Nemzows letzten Interview, das er wenige Stunden vor seiner Ermordung gab, stellte dieser die Situation ganz anders dar. Der Krieg in der Ukraine ist für ihn ein Bürgerkrieg. Die Konfrontation mit dem Westen sinnlos. Die Wirtschaftspolitik selbstmörderisch. Und überhaupt: die gesamte russische Politik verrückt. Putin hat, so Nemzow, „die Russen mit dem Virus eines Minderwertigkeitskomplexes gegen den Westen infiziert; mit dem Glauben, dass wir einzig durch Gewalt, Terror und Aggression die Welt beeindrucken können. Er hat meine Mitbürger darauf konditioniert, Fremde zu hassen. Er hat ihnen eingeredet, dass wir die alte sowjetische Ordnung wiederherstellen müssen, und dass Russlands Stellung in der Welt komplett davon abhängt, wie sehr die Welt uns fürchtet.“

Es ist dieses Klima der Bedrohung und Angst, das dazu geführt hat, dass gewaltlose Oppositionelle wie Nemzow auf offener Straße erschossen werden – von wem auch immer. Die Saat, die Putin und seine Ideologen über Jahre gesät haben, ist am Abend des 27. Februar 2015 auf der Großen Moskwa-Brücke einmal wieder aufgegangen. Nemzow hat dort sein Eintreten für Recht und Freiheit mit dem Leben bezahlt. Selbst wenn Putin nichts von den Absichten des Mörders gewusst haben sollte, trägt er die Hauptverantwortung dafür, dass es zu solchen Taten kommen kann, weil er den Nährboden gelegt hat, auf dem diese blutige Saat aufgehen konnte.

Ein anderer Weg ist möglich

Der Weg, den Putin und seinen Verbündeten seit über 15 Jahren in Russland gehen, ist nicht der einzig mögliche. Auch der Weg demokratischer, rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Reformen wäre immer eine Option gewesen. Das zeigen deutlich die Beispiele von Politikern wie Boris Nemzow, der diesen Weg in den 90er Jahren einschlagen wollte. Bis in die Regierungszeit Putins hinein gab es in der russischen Politik Menschen, die für diesen Weg plädiert haben. Dafür stehen Namen wie Jegor Gaidar, Anatolij Tschubais oder Michail Kasjanow. Diese Menschen haben den Westen nicht als Bedrohung empfunden, sondern als Partner beim Aufbau einer friedlichen und wohlhabenden Welt. Putin hat sich gegen diesen Weg entschieden, weil ihm nur ein autoritäres Russland seine Macht zu sichern scheint.

Die Wirkung breiter Wirtschaftssanktionen ist zweifelhaft. Eine finanzielle oder auch nur logistische Unterstützung der russischen Opposition bringt diese im Zweifel in mehr Schwierigkeiten als sie nutzt. Was also kann getan werden, um das andere Russland zu unterstützen in seinem Kampf gegen Angst und Unterdrückung?

Drei praktische Vorschläge

1. Nicht von Russland sprechen, wenn man Putin meint: Die russische Bevölkerung mag im Augenblick stark hinter ihrem Präsidenten stehen. Viele von ihnen sind aber seit 15 Jahren einer massiven Propaganda-Maschine ausgesetzt und können sich in dieser Informationsasymetrie nur schwer eine fundierte Meinung bilden. Wer pauschal „Russland“ verantwortlich macht für den Krieg in der Ukraine oder die Verfolgung von Oppositionellen, Ausländern und Homosexuellen, der bereitet nur weiteren Ressentiments auf Seite der russischen Bevölkerung den Boden. Nennen wir die Schuldigen beim Namen: Putin und seine Helfershelfer.

2. Dem anderen Russland eine Stimme geben: Menschen wie die „Soldatenmutter“ Ella Poljakowa oder der junge Oppositionsführer Ilja Jaschin sind hierzulande kaum bekannt. Sie verdienen aber unsere Aufmerksamkeit. Sie haben uns etwas zu erzählen über das andere Russland. Im eigenen Land fällt es ihnen enorm schwer, sich eine Stimme zu verschaffen. Das kann leicht zu großer Frustration führen, weil man sich vollkommen einsam vorkommt. Wenn es gelingt, ihrer Stimme in den demokratischen und freien Ländern dieser Welt Gehör zu verschaffen, können sie erkennen, dass sie nicht allein sind, sondern dass überall Menschen ihre Werte teilen und mit ihnen fühlen. Zeigen wir ihnen, dass sie nicht alleine sind.

3. Alternativen entwerfen: Solange wir uns nur mit dem Status Quo beschäftigen, können Putins Sprachrohre ohne Probleme ihre Geschichte weiterstricken, dass der Westen eine Bedrohung für Russland darstelle. Wenn von Russland stets nur gesprochen wird im Zusammenhang mit der Unterstützung der Separatisten in der Ukraine oder mit Überlegungen zu weiteren Sanktionen, ist nicht unbedingt plausibel, dass allein Putin ein Interesse an dem Konflikt hat und nicht auch westliche Regierungen. Deutschland, Europa, „der Westen“ sollten konkrete Alternativen aufzeigen: Wir würde eine Welt aussehen, in der Russland und der „Westen“ Partner sind? Mit ganz konkreten Ideen müssen wir aufzeigen, wie ein friedliches und gedeihliches Miteinander möglich sein kann: mit Freihandelsabkommen, Visa-Freiheit für russische Bürger, dem Angebot der Kooperation in Fragen der globalen Sicherheit, des Umweltschutzes und der weltweiten Bekämpfung von Krankheiten. Es muss sich herumsprechen, dass wir Frieden wollen – mit einem Russland, in dem die Bürger in Freiheit und unter dem Schutz des Rechts leben können.

Am Ende seines letzten Interviews wurde genau diese Vision von Boris Nemzow gezeichnet: „Wir brauchen eine alternative Vision, eine andere Idee von Russland. Unsere Idee ist die eines demokratischen und offenen Russland. Eines Landes, das sich gegenüber seinen eigenen Bürgern und seinen Nachbarn nicht wie ein Bandit verhält.“

Photo: Игорь Титаренко from Flickr

Am 28. Februar sagte Frank Schäffler im Interview mit dem Deutschlandfunk, dass er in der derzeitigen Situation keinen anderen Ausweg sieht als das Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro. Die neue Regierung in Griechenland führe die EU-Staaten an der Nase herum und eine substantielle Veränderung der Lage dort sei nicht in Sicht. Allerdings hält Schäffler einen Austritt Griechenlands für unwahrscheinlich: „Wenn man meint, der Euro sei das Krönungsprojekt und es dürfe keiner raus, dann können die, die in Schieflage geraten sind, den übrigen Euro-Raum fortgesetzt erpressen. … Deshalb sind die ganzen Vereinbarungen nicht durchsetzbar gegenüber Griechenland.“

Klar sei jedoch, dass die EU Griechenland auch im Falle eines Austritts nicht allein lassen werde – und auch nicht solle. Wenn Griechenland austrete, so Schäffler, müssen wir helfen: „Die EU ist auch eine Hilfsgemeinschaft“. Die derzeitigen „Hilfen“ wie etwa der Juncker-Plan seien aber eher kontraproduktiv und würden die Situation in Griechenland gerade nicht verbessern.

Hören Sie das gesamte Interview hier.

 

 

Bislang hat Wolfgang Schäuble sich als hartnäckiger Widersacher und Verhandler im Griechenland-Poker präsentiert. Seine Botschaft war: Keine weiteren Zugeständnisse an die neue Regierung in Griechenland. Doch bislang hat er noch jedes Schuldenpaket in Europa durchgewunken.

Heute steht im Bundestag die x-te Verlängerung der Griechenlandhilfen an. Doch dem Finanzminister kann man nicht vorwerfen, dass dieses Mal die Abgeordneten vor der wichtigen Abstimmung mit Papier zugeschmissen würden. Lediglich ein zweiseitiger dünner Antrag mit jeweils zweiseitigen Übersetzungen des Hilfeersuchens Griechenlands und das Akzeptanzschreiben der Eurogruppe vervollständigen den Antrag. Jetzt kann immerhin kein Abgeordneter behaupten, er habe in der Kürze der Zeit die Unterlagen nicht lesen können.

Schon berichten die ersten Zeitungen darüber, dass die griechische Regierung spätestens im Sommer ein zusätzliches Loch von 30 Milliarden Euro stopfen müsse. Das halte ich für sehr wahrscheinlich. Genauso wahrscheinlich wie im Frühjahr 2016 ein weiteres Hilfspaket erforderlich sein wird und im Herbst 2016 erst recht. Und auch im Jahr der Bundestagswahl 2017 wird es ein Hilfspaket geben müssen, damit Griechenland nicht aus dem Euro-Club ausscheidet. Wahrscheinlich braucht der griechische Staat jedes Jahr 20 bis 30 Milliarden Euro Subventionen, um seine Ausgaben zu finanzieren. Das ist der Preis für den Zusammenhalt der Euro-Zone. Da kann man sagen, das ist es mir wert. Jedoch müssen wir die eine oder andere Stilblüte dann auch aushalten. Ein Beispiel:

Griechenland will kurzfristig Steuern einnehmen, um die Liquiditätsprobleme im Haushalt auszugleichen. Finanzminister Yanis Varoufakis schlägt deshalb vor, dass von den 76 Milliarden Euro offenen Steuerforderungen 67 Milliarden erlassen werden. Das nennt man eine klassische Steueramnestie. 67 Milliarden Euro ist viel Geld. Für den griechischen Staat ist es sogar sehr, sehr viel Geld. Rund 45 Milliarden Euro wollte Griechenland 2014 an Steuern einnehmen. Genau genommen entspricht die Zahl von 67 Milliarden also rund 150 Prozent des jährlichen Steueraufkommens des Landes. Man stelle sich das einmal für Deutschland vor. Finanzminister Schäuble und seine Länderkollegen würden eine Steueramnestie in Höhe von rund 1.000 Milliarden Euro verkünden. Das ist kein Witz, genau um diese Relation geht es in Griechenland. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin ein großer Freund von Steuersenkungen, aber bitte auf eigene Rechnung. Die Zeche dürfen nicht die anderen im Euro-Club bezahlen müssen.

Bringen wir es auf den Punkt: Griechenland muss den Euro-Raum so schnell wie möglich verlassen. Das wird nichts mehr. Selbst diejenigen, die in den vergangenen fünf Jahren geglaubt haben, man müsse die griechische Regierung an die Hand nehmen und ihnen zeigen wie Staat gemacht wird, müssen heute zugestehen, dass der Versuch umfassend gescheitert ist. Griechenland darf keinen Cent frisches Geld erhalten. Dann gehen sie auch raus aus dem Euro. Die griechischen Regierungen haben sich in den Euro mit gefälschten Zahlen gemogelt, haben fortgesetzt die Regeln gebrochen, haben anschließend um Solidarität verlangt, um danach die „Retter“ zu beschimpfen, zu beleidigen und zu erpressen.

Griechenland darf den Euro-Club nicht weiter mit dem Keim der fortgesetzten Rechtsbeugung anstecken. Denn Griechenland ist die Spitze des Eisberges, längst bildet sich unter der Wasseroberfläche ein gigantischer Eiskoloss aus Frankreich und Italien. Täglich wird dieser größer und größer und arbeitet sich nach oben vor. Bald ist die Spitze unter Wasser, dann kippt der Eisberg um.

Bei Griechenland müssen sich Schuldner und Gläubiger, zu denen Deutschland durch die zahlreichen Hilfsmaßnahmen inzwischen auch gehört, zusammensetzen. So wird ein Schuh daraus. Risiko und Haftung müssen wieder eine Einheit werden. Die Retter sind doch so stolz auf ihre neue Stabilitätskultur mit ESM und Bankenunion. Wenn der Euroraum doch viel stabiler als 2010 ist, ja dann ist doch jetzt die beste Gelegenheit, dem Recht und der Marktwirtschaft wieder ein Stückchen Glaubwürdigkeit zurückzugeben. Wer beides dauerhaft verrät, versündigt sich an all dem, was eine freiheitliche Gesellschaft ausmacht: Dem Streben nach Freiheit in Verantwortung.

Erstveröffentlichung auf Tichys Einblick.

Photo: Winky from Flickr

Von Prof. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Business and Information Technology School (BiTS) in Berlin.

Man reibt sich die Augen: Griechenland bietet vor aller Welt ein Beispiel für kolossales Staatsversagen, und ausgerechnet diejenigen politischen Kräfte in Europa, die traditionell für mehr Staatseinfluss plädieren, feiern eine Party. Endlich, so die euphorische Hoffnung, sei Schluss mit der angeblich neoliberalen Knechtschaft und der Volkswille könne nun über die Herrschaft der Technokraten triumphieren. Nicht nur in Griechenland sollen nach dieser Lesart die Paradedisziplinen sozialistischer Wirtschaftspolitik – Interventionismus, Umverteilung und gefügige Geldpolitik – die Wende bringen, also jene Instrumente, deren übermäßige Anwendung über Jahrzehnte hinweg zur heutigen Krise geführt hat.

Die zentrale Argumentationsfigur finden die sich nun im Aufwind wähnenden politischen Kräfte darin, dass sie sich demonstrativ auf das Ergebnis demokratischer Wahlen berufen. Mit dem Prädikat „demokratisch“ sollen offenbar Staatseingriffe per se gegen Kritik immunisiert werden. Hierin zeigen sich entweder gravierende Missverständnisse oder schlimmstenfalls sogar bewusste manipulative Absichten, um kollektivistischen Politikentwürfen neuen Glanz zu verleihen. „Demokratisieren“ avanciert mehr und mehr zum Nachfolger des alten „sozialisieren“, meint aber im Ergebnis dasselbe. Es hilft, sich die Grundlagen und Konsequenzen dieser Verheißung ohne verklärende Zurückhaltung vor Augen zu führen.

Erstens: Das Ergebnis einer demokratischen Wahl ist nicht der Volkswille. Willensträger können nur Individuen sein, aber niemals Gruppen oder gar ganze Völker. Jede Vereinnahmung eines demokratisch zustande gekommenen Mehrheitsvotums als „Entscheidung des Landes“ trägt zutiefst freiheitsfeindliche Züge, weil sie den Respekt vor der Minderheit vermissen lässt. Auch die Wähler der sich nach der Wahl in der Oppositionsrolle wiederfindenden Parteien gehören weiterhin zur Bevölkerung und Überzeugungen ändern sich nicht, nur weil ihre Vertreter in der Abstimmung unterlegen waren. Die neue griechische Regierungskoalition aus Links- und Rechtsextremisten kann sich zwar auf der Basis der dortigen Wahlverfahrensregeln als legitimiert betrachten, auch wenn sie die Mehrheit der Wähler nicht repräsentiert (sondern nur 41 Prozent). Gleichwohl wäre mehr Zurückhaltung im Anspruch und öffentlichen Auftreten geboten. Und selbst wenn 90 Prozent der Wähler hinter ihr stünden, so geböte es der Respekt vor der Person jedes griechischen Bürgers, dessen individuelle Auffassungen nicht mit denen der Mehrheit gleichzusetzen.

Zweitens: Wenn durch Kollektivvokabeln wie „Volkswille“, „Landesinteresse“ oder „die Griechen“ Aggregate zu Akteuren stilisiert werden, tritt das Denken bereits schleichend den Weg in die intellektuelle Knechtschaft an. Im kollektivistischen Gesellschaftsentwurf sind sich Links- und Rechtsextremisten einig. Beide setzen auf Großgruppen (Klassen, Volksgemeinschaft), deren Zusammengehörigkeitsgefühl typischerweise dadurch nachgeholfen wird, dass man sich gegenüber anderen Gruppen in aggressiver Weise abgrenzt, sei es nach innen (Klassenkampf) oder nach außen (Kriege). Nicht zufällig gingen bislang alle links- und rechtsextremistischen Experimente mit Geheimpolizeien und militaristischen Exzessen einher, sah man doch das Kollektiv immer von inneren und äußeren Feinden bedroht. Hierzu liefert die liberale Sozialphilosophie den kontrastreichsten Gegenentwurf: durch freiwillige Interaktion erfahren Menschen in ihren Kontraktpartnern eine entscheidende Hilfe zu eigenem Wohlergehen – die Gesellschaft ist als Netzwerk individueller Beziehungen ein Mittel, kein Selbstzweck. Tausch ist immer freiwillig, weil er nur zustande kommt, wenn beide Seiten davon profitieren. Keine andere menschliche Interaktion hat die Belohnungsprämie für kooperatives Verhalten so sichtbar eingebaut, wie die Tauschhandlung; nicht umsonst spricht man von Tauschpartnern und nicht von Tauschgegnern. Aus demselben Grund bedanken sich nach einem Geschäftsabschluss immer beide Parteien gegenseitig. Damit liefert die auf individueller Selbstverantwortung aufbauende liberale Gesellschaft eine zutiefst befriedende Basis für das Zusammenleben. Liberale brauchen keine Feindbilder, weder im eigenen Land noch andernorts.

Drittens: Demokratie ist ein Abstimmungsverfahren (freies, gleiches, geheimes Wahlrecht), nicht mehr und nicht weniger. Es sagt noch nichts darüber aus, was sinnvollerweise zur Abstimmung gestellt und damit überindividuell entschieden werden soll. „Demokratisch“ ist ein Gütesiegel für das „wie“, nicht für das „was“ im kollektiven Entscheidungsprozess. Worüber überhaupt demokratisch abgestimmt werden soll, lässt sich nicht demokratisch entscheiden, sonst würde man sich in einem endlosen Regress verlieren. Daher kann man die Grenzen für Gruppenentscheidungen am besten über ihre Konsequenzen bestimmen. Je größer das Spielfeld für Kollektiventscheidungen, desto kleiner die individuellen Freiheitsräume und damit auch die Quellen für Selbstbestimmung, Wohlstand und Fortschritt. Daraus ziehen Liberale den Schluss: Möglichst viel individuelle Freiheit, möglichst wenig Kollektivzwang – und die dann noch nötigen, eng begrenzten Kollektiventscheidungen sollten selbstverständlich demokratisch ablaufen. Die undifferenzierte Überhöhung des Demokratieprinzips, wie sie heutzutage vor allem von sozialistischen Kräften betrieben wird, ist hingegen der Versuch, einem Gesellschaftsentwurf den Weg zu bahnen, der letztlich nur durch massive Unterdrückung von individuellen Freiheitsrechten denkbar ist. Auch demokratisch zustande gekommene Entscheidungen sind (abgesehen von Einstimmigkeitsvoten) ein Akt staatlicher Zwangsausübung – nicht aus böser Absicht, sondern aus der Natur der Sache heraus. Der individuelle Einfluss ist umgekehrt proportional zur Anzahl der Wähler und damit in den meisten Fällen praktisch null. Allzuständigkeit für Kollektiventscheidungen („gut ist, was die Gruppe will“) ist im Ergebnis totalitär: Wer die Demokratie vergöttert, wird eine teuflische Diktatur im Namen der Mehrheit ernten. Weil die Mehrheit als Gruppe nicht handeln kann, nimmt der zentralistische Machtzuwachs in Händen weniger Entscheider seinen Lauf. Wird das Demokratieprinzip zu einem weitgreifenden Kollektivismus deformiert, dann fallen den Vollstreckern des vermeintlichen Mehrheitswillens grenzenlose Befugnisse zu. Trotz des zuweilen miefig-kleinbürgerlichen Ambientes technokratischer Politbüro-Runden ist den dort Tagenden dann meist kein Zwangsmittel zu brutal, um die Kollektivinteressen durchzusetzen. So schlimm muss es nicht immer kommen, es gibt Staatsversagen auch ein paar Nummern kleiner. Bringt man Kollektiventscheidungen dort in Stellung, wo freiwillige Marktkooperationen angezeigt wären, dann bleiben die Ergebnisse enttäuschend, und sie werden nicht dadurch besser, dass alle formal mitentscheiden durften. Auf Wettbewerbsmärkten entscheidet die eigene Leistung, im Etatismus werden Beziehungen zur wichtigsten Währung. Korruption und Nepotismus sind die zwangsläufige Folge. Der „Staat“ handelt nicht, sondern seine Bürokraten müssen es tun – je größer der Staatseinfluss, desto lukrativer die Bestechung. Ein schlanker Staat ist transparenter und kann seine Bürokraten so bezahlen, dass sie weniger anfällig werden für kriminelle Verfehlungen. Privatisierung von Staatsbetrieben ist der beste Weg, den Bestechungssumpf auszutrocknen. Wie man ein von Misswirtschaft und Klientelismus gebeuteltes Gemeinwesen wie Griechenland ausgerechnet durch stärkeren Staatseinfluss auf privatwirtschaftliche Entscheidungen aufrichten will, bleibt das Geheimnis der Kollektivisten.

Viertens: Es ist bezeichnend, dass die EU-Kommission, der Internationale Währungsfonds und die Europäische Zentralbank als Vertreter der Steuerzahler in den Gläubigerländern von interessierter Seite immer nur dann als undemokratisches Herrschaftsinstrument verunglimpft werden, wenn die Entscheidungen den politischen Zielen der Kritiker zuwider laufen. So war wieder und wieder zu hören, dass die Troika längst darauf hätte drängen sollen, die Einkommen und Vermögen der griechischen Oberschicht stärker zu besteuern. Das mag sinnvoll sein – aber wo liegt hier die demokratische Rechtfertigung? Niemand hat die griechischen Parlamentarier in den letzten Jahren daran gehindert, genau diese Reformen auf den Weg zu bringen. Offenbar endet der apodiktische Anspruch an demokratische Legitimierung immer schon dann, wenn die eigene Meinung auch über die Bande internationaler Institutionen oktroyiert werden kann. Das lässt tief blicken und entlarvt die Demokratieprosa als das, was sie in vielen Fällen ist: ein opportunistisches Begründungsvehikel.

Fünftens: Im Nachgang der griechischen Parlamentswahlen entstand zuweilen der Eindruck, nur die dortige neue Regierung könne sich auf ein demokratisches Mandat berufen, das nun gegenüber den anderen Ländern in der Europäischen Union durchzusetzen sei, ganz so, als ob die übrigen Regierungen nicht auch aus demokratischen Wahlen hervorgegangen wären. Auf dieses Missverhältnis ist bereits vielfach hingewiesen worden. Einem anderen Missverhältnis wird bislang weniger Prominenz zuteil. Der zentrale Unterschied zwischen individuellen und demokratischen Entscheidungen liegt im Grad der jeweils übernommenen Verantwortung. Individuen müssen für die Folgen ihrer Entscheidungen einstehen, Gewinnchancen gehen stets mit Verlustrisiken einher. Falsche Entscheidungen aus der Vergangenheit mag man bedauern, an den Konsequenzen ändert dies nichts. Demgegenüber entstand im Falle Griechenlands zuweilen der Eindruck, die früheren demokratischen Entscheidungen gingen die heutige Regierung nichts mehr an, „das Volk“ habe schließlich neu entschieden und „seine Meinung“ geändert. So leicht kann man es sich natürlich nicht machen, weil hierzu immer ein unbeteiligter Dritter erforderlich wäre, auf den man die Kosten der früheren Fehlentscheidungen abwälzen kann. Dieses Prinzip lässt sich leider nicht verallgemeinern. Allenfalls haben früher oder später alle eine Hand in der Hosentasche ihrer Nachbarn. Das kann man an sich schon für unanständig halten – eine unproduktive Arbeitshaltung ist es allemal. Ein heutiger Erstwähler in Griechenland kann selbstverständlich nicht für die Fehler der vormaligen Regierungen (die jeweils demokratisch gewählt wurden) verantwortlich gemacht werden. Genauso wenig wie ein Wähler, der auch schon früher für verantwortungsvollere Kandidaten gestimmt hatte, die es aber nie in Regierungsämter schafften. Mit jeder Wahl setzt man sich den Konsequenzen der Mehrheitsentscheidung aus – man erteilt einen Blankoscheck an eine Gruppe, die man gar nicht kennen kann. Man sollte sich gut überlegen, in welchen Bereichen man sich auf dieses Risiko einlassen will. Gerade darin besteht ja das Problem kollektiver Entscheidungen. Wird ihr Einfluss zu weit gefasst, resultieren Wahlen in organisierter Verantwortungslosigkeit, die am Ende systematisch den Staat zur Beute von Partikularinteressen macht. Jede Form von unnötiger Kollektivierung führt zu Chaos, gerade weil sich die Menschen individuell rational verhalten. Wenn eine Gastwirtschaft Freibier unter der Bedingung anbietet, dass am Ende die Zeche durch alle Gäste geteilt wird, dann wird man es sich gut überlegen, ob man sich darauf einlassen soll, solange man noch draußen vor der Tür steht. Was aber, wenn man die Kneipe schon betreten hat und die Bezahlmethode kurzerhand auf diesen Flatrate-Tarif umgestellt wird? Dann trinkt man im Zweifel mehr als einem selbst (und der Gemeinschaft) gut tut. In diese Anreizfalle läuft jeder kollektivistische Politikansatz, wenn er dort eingreift, wo marktwirtschaftliche Koordinationsprozesse das Handeln der Akteure besser lenken können, weil sie bis auf wenige, klar umreißbare Ausnahmebereiche individuelle und kollektive Rationalität zur Deckung bringen.

Sechstens: Bei weiten Teilen im sozialistischen Lager Europas wird das Verbot der monetären Staatsfinanzierung als undemokratische Beschränkung souveränen fiskalischen Handelns missverstanden und entsprechend kritisiert. Im Gegenteil sichert aber gerade dieses Verbot, dass die Zentralbank die demokratisch getroffenen Fiskalentscheidungen nicht untergräbt und die mit den Staatsaufgaben verbundene Finanzierungslast nicht in diffuser und unkontrollierbarer Weise verteilt wird. Regierungen haben zwei Möglichkeiten, die öffentlichen Ausgaben zu decken. Entweder sie gewinnen das demokratische Mandat für die Erhebung von Abgaben, oder sie müssen sich am Kapitalmarkt dem Votum der Anleger stellen und glaubhaft machen, in Zukunft die Abgaben entsprechend zu erhöhen. Jede darüber hinausgehende Finanzierung über die Notenpresse entlässt die Regierenden aus ihrer demokratischen Verantwortung, nämlich die Verteilung der aus den Ausgaben resultierenden Finanzierungslast für heutige und künftige Wähler zu benennen (wobei der Ausweg über die Staatsverschuldung ohnehin schon eine nur ungefähre Zukunftsbelastung andeutet). Eine Abstimmung nur über die Ausgabenseite des Staatshaushalts ist sinnlos und verhöhnt die Idee der Demokratie. Derartige Wünsch-Dir-Was-Abstimmungen sind populistischer Klamauk; mit der ernsthaften Abwägung von Alternativen im Sinne der res publica, wie man es von mündigen Stimmbürgern erwarten muss, haben sie nichts gemein. Die Knappheit von Ressourcen und die sich daraus ergebenden Budgetrestriktionen sind Fakten, die man als Nebenbedingung jeder Entscheidung akzeptieren muss. Auch über Naturgesetze sind Abstimmungen müßig. Ausgaben, für deren Deckung sich keine Mehrheiten finden, sind im demokratischen Prozess durchgefallen. Eine Finanzierung über die Notenpresse beruht auf Täuschung und Intransparenz hinsichtlich der Frage, wer die tatsächliche Last am Ende tragen soll. Desto mehr muss es verwundern, dass die Zentralbanken zunehmend als undemokratischer Akteur kritisiert werden, um mit dieser Diskreditierung das Verbot der monetären Staatsfinanzierung aufzuweichen. Wer Demokratie ernst nimmt, muss jedem fiskalischen Einfluss durch die Notenbanken einen Riegel vorschieben. Leider geschieht gegenwärtig das Gegenteil.

Das Prinzip „One person, one vote“ ist eine der größten Errungenschaften der Aufklärung und aller Freiheitsbewegungen gegen absolutistische Unterdrückung. Die in der Europäischen Union zusammen geschlossenen Länder können sich glücklich schätzen, allesamt demokratisch verfasst zu sein. Gerade weil die Demokratie ein kostbares Gut ist, müssen Demokraten darauf achten, dass sie nicht für kollektivistische Absichten missbraucht wird. Dies droht, sobald alle nicht staatlich kontrollierten Entscheidungen automatisch als „undemokratisch“ diffamiert oder subtil in die Sphäre des Suspekten gedrängt werden. In der liberalen Gesellschaft muss sich keiner für seinen Freiheitsanspruch rechtfertigen. Sondern jeder, der die private Autonomie in Frage ziehen und der Mehrheitsentscheidung anheimstellen will, hat die Begründungslast zu tragen. Und das ist aus guten Gründen eine sehr schwere Last. Rütteln wir an diesem Prinzip, dann verlieren wir früher oder später beides: die Freiheit und die Demokratie.