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Photo: Dilma Rousseff from Wikimedia Commons (CC BY-SA 2.0)

Wirtschaftliche Sanktionen gehören auf die Müllhalde der internationalen Politik. Sie zwingen nicht nur Millionen Menschen in die Armut, sondern stützen auch noch die autoritären Regime, gegen die sie gerichtet sein sollen.

Iran, Nordkorea, Venezuela, Kuba und Russland: All diese Länder haben etwas gemein. Sie werden geführt von skrupellosen Autokraten, die ihre jeweilige Bevölkerung lediglich als Spielball betrachten, und Millionen Menschen zu Armut und Unfreiheit verdammen. Der Kampf gegen solche Regime ist ein prägendes Element des 20. Jahrhunderts und wird es wohl auch im 21. Jahrhundert bleiben. Ein „Regime Change“ hin zu einer demokratisch legitimierten und rechtsstaatlich organisierten offenen Gesellschaft ist unbestreitbar das Ziel der gemeinhin als „Westliche Welt“ bezeichneten Wertegemeinschaft. Und diese Transformation sollte auch das Ziel freiheitlicher Politik sein.

Die Gretchenfrage ist jedoch, wie dieses Ziel erreichet werden kann. Für einige Zeit galten Deutschland und Japan nach dem zweiten Weltkrieg als die gelungenen Vorbilder. Massive militärische Intervention gefolgt von umfassend gestütztem Wiederaufbau. Doch die Erfahrungen in anderen Teilen der Welt zeigten schnell die Grenzen militärischer Interventionen auf. Insbesondere Kuba, Haiti, Somalia und Vietnam sind traurige Paradebeispiele für dauerhaft fehlgeschlagene Interventionspolitik. Mittlerweile sind wirtschaftliche Sanktionen das Mittel der Wahl und erleben nicht zuletzt seit dem Einzug Donald Trumps ins Oval Office eine Renaissance. Zwar werden die Sanktionen häufig – und natürlich vorhersehbar – von den Unterstützern oder Sympathisanten der betroffenen Regime kritisiert, doch kaum jemand stellt die Frage, ob Sanktionen überhaupt Sinn ergeben. Ein Fehler.

Sanktionen sind Lebenselixier für autokratische Regime

Handelsströme und Zahlungsverkehr sind weltweit vernetzt. Kaum ein Land könnte heute noch autark wirtschaften und gleichzeitig den erlangten Wohlstand erhalten. Schließt man eine Volkswirtschaft vom Zugang zu den internationalen Finanz- und Gütermärkten aus, so hat das gravierende Konsequenzen für die örtliche Bevölkerung. Importgüter wie Öl oder PKW werden unbezahlbar teuer, Arbeitsplätze in den Export-Industrien gehen verloren. Gleichzeitig verlieren auch Unternehmen in den sanktionierenden Staaten Handelspartner und damit Umsätze. Einem Land, das keinen Zugang zu den internationalen Märkten hat, droht sozusagen die globalisierte Steinzeit. Diese drastischen Folgen im Hinterkopf, müssen Wirtschaftssanktionen als Instrument der internationalen Politik also sehr gut begründet sein.

Die Empirie zeigt jedoch, dass wirtschaftliche Sanktionen gegen unliebsame Regime und deren Volkswirtschaften im 20. Jahrhundert zum überwiegenden Teil nicht erfolgreich waren. Einer Studie des Peter­son Insti­tute for Inter­na­tio­nal Eco­no­mics zufolge führten gerade einmal ein Drittel der durchgesetzten Embargos zu einem Regime-Wechsel im jeweiligen Land. Insbesondere bei großen Volkswirtschaften ist kaum eine positive Wirkung von Sanktionen zu erkennen. Häufig scheinen sanktionierte Regime wie jene in Havanna und Pjöngjang sogar länger zu leben als alle anderen. Und tatsächlich wirken Sanktionen häufig wie ein Lebenselixier für autokratische Regierungen. Statt deren Unterstützung erodieren zu lassen, statten Sanktionen Diktatoren mit ganz neuen Möglichkeiten aus.

So kontrollieren Autokraten und deren Oligarchen-Freunde in einem sanktionierten Land häufig den illegalen Handel mit Gütern und Waren. Sie können nach Belieben Preisaufschläge auf Schmuggelware verlangen, und dem Regime wohlgesonne Unternehmen bei der Verteilung von rationierten Gütern bevorzugen. Die Diktatoren Saddam Hussein und Slobodan Milosevic konnten auf diese Weise ungeahnte Reichtümer anhäufen und ihre Regime am Leben halten. In Russland deckt in den letzten Jahren der Oppositionelle Alexey Nawalny das dortige System auf. Dieser von außen aufgezwungene Protektionismus schadet dabei vor allem der großen Masse der Bevölkerung und den Oppositionskräften, die kaum mehr Zugriff auf Kapital und Güter haben. Die Regierungsmacht ist derweil die einzig verbliebene Institution, die Geld und Einfluss verteilen kann, und erhöht dadurch noch ihre Anziehungskraft für Unternehmen und Politiker im eigenen Land. Ganz zu Schweigen von der guten Ausrede, die Sanktionen Autokraten bieten, um das Versagen der eigenen misslungenen Wirtschaftspolitik zu begründen.

„Smart Sanctions“ gegen Individuen als Ausweg?

Einen Ausweg aus diesem Dilemma könnten sogenannte „Smart Sanctions“ darstellen. Dort werden lediglich bestimmte Individuen aus dem direkten Umfeld des Regimes sanktioniert. So werden beispielsweise die Londoner und New Yorker Konten zahlreicher russischer Oligarchen eingefroren und Einreiseverbote für westliche Staaten erteilt. Auf den ersten Blick erscheint es sehr sinnvoll, auf diese Weise den Unmut der mächtigsten Unterstützer eines Regimes zu erregen. Mehr ihrem Geld verpflichtet als einem Staatslenker könnten sie selbst einen Umsturz herbeiführen.

Tatsächlich ist jedoch das Gegenteil wahrscheinlich. Durch die Sanktionen werden die Eliten einer Autokratie in die Enge getrieben. Wo vorher UBS, Barclays, Deutsche Bank und die Bank of America die Finanzierung von Vorhaben ermöglichten, bleibt jetzt nur noch der Autokrat und die Staatsbank. Individualsanktionen treiben Eliten noch weiter in der Arme der regierenden Autokraten statt sie zum Umdenken anzuregen.

Autokratische Regime wie die Mafia behandeln

Das bedeutet nicht, dass sich die internationale Gemeinschaft mit autokratischen Regimen einfach so abfinden sollte. Stattdessen sollte sie sich dessen bewusstwerden, dass umfangreiche staatliche Eingriffe allzu häufig unabsehbare externe Effekte nach sich ziehen. Der Schweizer Ökonom Reiner Eichenberger schlägt stattdessen vor, autokratische Regime wie die Mafia zu behandeln. Anstatt zu versuchen, das Regime durch smart sanctions errodieren zu lassen, sollten den Eliten eines Landes Alternativen angeboten werden. Dieser Vergleich liegt nicht so fern, wie auf den ersten Blick vermutet. So stellt der italienische Sozialwissenschaftler Diego Gambetta fest, dass Mafiaorganisationen und Staaten in ihrer Aufgabe grundsätzlich ähnlich sind: sie verwalten und überwachen die Aktivitäten in einem bestimmten Gebiet.

Eine solche Alternative könnte eine Kronzeugen-Regelung sein, die Eliten, die beim Aufbau einer neuen Ordnung helfen, den Erhalt ihres Vermögens garantieren. Häufig bedarf es eben nur eines mächtigen Funktionärs (oder Mafia-Bosses), um das gesamte Gebilde zum Einsturz zu bringen. Das haben die sogenannten Maxi-Prozesse der 1980er Jahre gegen die sizilianische Cosa Nostra eindrucksvoll bewiesen. Auch wenn die positive Wirkung von Eichenbergers Vorschlag erst noch zu beweisen ist, gilt in diesem Fall: Schlimmer als mit Sanktionen gehts nimmer.

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Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Student der Volkswirtschaftslehre, ehemaliger Praktikant bei Prometheus. 

Der traurige Abstieg Venezuelas bestätigt einmal mehr Milton Friedman: Demokratie und wirtschaftliche Unfreiheit sind miteinander unvereinbar. Im Gegenteil können freie Märkte Demokratien sogar stärken.

Bis in die 1970er Jahre galt Venezuela als eine verhältnismäßig gut funktionierende Demokratie mit recht gut ausgeprägten marktwirtschaftlichen Strukturen. Über Jahrzehnte war Venezuela das mit Abstand reichste Land Südamerikas. Heute wird das Land von einem Diktator regiert und steht vor dem ökonomischen Kollaps. Wie konnte es so weit kommen? Über die letzten Jahrzehnte griff der venezolanische Staat immer stärker in das wirtschaftliche Geschehen des Landes ein. Hohe Steuern, hohe Staatsausgaben, Inflation und Missachtung von Eigentumsrechten waren die Mittel, um das „sozialistische Paradies“ aufzubauen. Doch auf die ökonomische Repression folgte die politische Repression. Dies ist nicht verwunderlich. In noch keinem Land hielt sich auf Dauer ein demokratisches System, ohne durch eine relativ freie Marktwirtschaft begleitet zu werden.

Friedman: Demokratie und wirtschaftliche Unfreiheit unvereinbar

Wer einer dezentralen Organisation der Wirtschaft nicht zutraut die Bedürfnisse der Menschen zuverlässig zu befriedigen, aber demokratische Entscheidungsfindungen befürwortet, dem scheint die Kombination von politischer Freiheit mit staatlich gelenkter Wirtschaft auf den ersten Blick attraktiv. Diese Kombination ist laut dem Ökonomik-Nobelpreisträger Milton Friedman jedoch dauerhaft nicht stabil. Nach der sogenannten Friedman-Hypothese muss eine Gesellschaft, deren Mitglieder ein hohes Niveau an politischer Freiheit genießen, auch ein hohes Niveau an wirtschaftlicher Freiheit aufweisen.

Einen Erklärungsansatz für die Friedman-Hypothese liefert mit Friedrich August von Hayek ein weiterer Ökonomik-Nobelpreisträger. In einer Welt mit beschränkten Ressourcen bedarf es eines Mechanismus, der regelt, wie Ressourcen zu welchem Zweck von wem eingesetzt werden. Wird die Verwendung von Ressourcen nicht dezentral über Märkte organisiert, müssen in einer Demokratie die Wähler den Prinzipien der zentralen Verteilung der politischen Entscheidungsträger, die final über den Einsatz der Ressourcen verfügen, zustimmen. Die durch die Verfügungsgewalt über wirtschaftliche Ressourcen zusätzlich bemächtigten politisch Verantwortlichen neigen jedoch dazu, sich die scheinbare Zustimmung der Wähler durch politische Kontrolle und Propaganda zu sichern. Die wirtschaftliche Unfreiheit unterminiert durch die Konzentration politischer und wirtschaftlicher Macht bei politischen Würdenträgern so die politische Freiheit.

Daten: Keine Länder politisch frei und maßgeblich wirtschaftlich unfrei

Friedmans Hypothese, dass ein politisch freies System nicht ohne wirtschaftliche Freiheit auskommt, findet sich auch in aktuellen Daten für 155 Länder wieder. Nahezu alle auf Basis von Daten von Freedom House politisch als frei kategorisierten Länder sind gemäß Daten der Heritage Foundation auch wirtschaftlich als relativ frei zu klassifizieren.

Etwas mehr als die Hälfte aller Länder (84) befinden sich in dem Quadranten „politisch frei/wirtschaftlich frei“. Neuseeland ist von den politisch freisten Ländern der Welt das Land mit der größten wirtschaftlichen Freiheit.

Das politisch, wie auch wirtschaftlich unfreiste unter den betrachteten Ländern ist Nordkorea. Glücklicherweise befinden sich neben Venezuela nur wenige Länder in der Gesellschaft Nordkoreas und sind als politisch sowie wirtschaftlich unfrei einzustufen. Allerdings ist zu beachten, dass Länder, für die keine Daten vorliegen, ebenfalls hier zu verorten wären. Beispiele sind Libyen, Somalia und Sudan.

Der Quadrant „politisch frei/wirtschaftlich unfrei“ ist nahezu leer. Die wenigen Länder, die sich in diesem Quadranten befinden, sind nur knapp an der Schwelle zu den wirtschaftlich relativ freien Ländern. So zum Beispiel Bolivien.

In relativ vielen Ländern wiederum genießen Menschen zwar eine recht ausgeprägte wirtschaftliche Freiheit, aber sind politisch unfrei, wie beispielsweise in Singapur. Dieser letzte Befund widerspricht im Übrigen nicht der Friedman-Hypothese. Während Friedman wirtschaftliche Unfreiheit für unvereinbar mit politischer Freiheit erachtete, nahm er wirtschaftliche Freiheit als eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung für politische Freiheit wahr. Friedman hielt eine Kombination aus politischer Unfreiheit und wirtschaftlicher Freiheit also für dauerhaft möglich, obwohl er selbstredend eine sowohl politisch als auch wirtschaftlich freie Gesellschaft für erstrebenswert erachtete.

Erfreuliche Entwicklungen

Nicht nur die statische Evidenz spricht für Friedmans Hypothese: Politisch freie und wirtschaftlich unfreie Länder blieben es historisch nicht lange. Entweder waren sie nach einiger Zeit nicht mehr demokratisch oder nicht mehr wirtschaftlich unfrei. So waren im Jahre 1980 noch zwölf Länder politisch frei und wirtschaftlich unfrei und verletzten somit die Friedman-Hypothese. Bereits 1990 galt das nur noch für ein Land (Barbados). Zehn der Länder bewegten sich in Richtung offenerer Märkte, während nur ein Land sich aus dem Quadranten bewegte, indem es politisch unfreier wurde: Venezuela.

Demokratie und Marktwirtschaft: Zwei Seiten derselben Medaille

Demokratie und wirtschaftliche Unfreiheit sind nicht miteinander zu vereinen. Demokratie und eine offene Marktwirtschaft hingegen sind nicht nur miteinander kompatibel, sie stärken sich gegenseitig. Beide sind Mechanismen zur Machtbeschränkung. Zum einen beschneiden sie den Einfluss direkter Konkurrenten. Der Wettbewerb unter Parteien und Politikern wirkt einer Konzentration politischer Macht entgegen. Privates Eigentum an Produktionsfaktoren und die freie dezentrale Entscheidung über die Verwendung von Ressourcen im Wettbewerb miteinander stehender Haushalte und Unternehmen beschränkt die wirtschaftliche Macht einzelner Marktteilnehmer. Zum anderen beschränken Vertreter der politischen und wirtschafltichen Sphäre sich gegenseitig. Die private Kontrolle über Produktionsfaktoren limitiert den Missbrauch derselben durch politische Amtsinhaber, während der rechtliche Rahmen wirtschaftlicher Aktivität durch die Politik gesetzt wird.

Demokraten für Marktwirtschaft

Demokratie ist ein Erfolgsmodel. Sie ist ein politisches Modell, welches allerdings ohne eine offene Marktwirtschaft dauerhaft nicht stabil ist. Überzeugte Demokraten sollten sich für mehr Marktwirtschaft einsetzten. Jüngst sollte uns der Weg Venezuelas eine Warnung sein. Noch vor zehn Jahren wurden die von Hugo Chávez umgesetzten wirtschaftlichen Repressionen auch von deutschen Politikern gelobt. Schwächt eine demokratische Gesellschaft ihre marktwirtschaftliche Ordnung zu sehr, bringt sie die eigene Demokratie in Gefahr – mit ungewissem Ausgang.

Zuerst erschienen bei IREF.

Photo: Gary J. Wood from flickr (CC BY 2.0)

Würde Horst Seehofer im Deutschen Bundestag die Loslösung Bayerns aus dem Bundesgebiet fordern, dann würde ihn das Grundgesetz vor der Strafverfolgung schützen. Selbst wenn der Landtag in München dies beschließen würde, wären die dortigen Landtagsabgeordneten vor Strafverfolgung geschützt. Aus historischem Grund wurde diese Indemnitätsregel im Grundgesetz verankert. Abgeordnete sollten nicht wegen ihres Abstimmungsverhaltens oder ihrer Reden im Parlament verfolgt werden können. Umso befremdlicher ist es, dass die Generalstaatsanwaltschaft in Schleswig nunmehr den ehemaligen katalanischen Ministerpräsidenten Carles Puigdemont wegen eines solchen „Vergehens“ nach Spanien ausliefern lassen will. Ihm wird dort Rebellion und die Veruntreuung öffentlicher Gelder vorgeworfen. Die Generalstaatsanwaltschaft ist nicht irgendwer. Sie ist eine weisungsgebundene Behörde des Justizministeriums in Schleswig-Holstein. Ohne eine enge Abstimmung mit der für die Außenpolitik zuständigen Bundesregierung ist ein solches Vorgehen nur schlecht vorstellbar.

Eigentlich hat Puigdemont eine politische Meinung vertreten und diese in seinem Regionalparlament zur Abstimmung gestellt. Zur Gewalt hat er anschließend nicht aufgerufen. Das Referendum wurde vom spanischen Verfassungsgericht untersagt, dennoch ist die Frage, ob in einer Region nicht trotzdem eine Abstimmung abgehalten werden darf. Sie hat dann keinen Charakter eines Referendums. Das ist sicherlich unstreitig. Aber eine Volksbefragung im Sinne eines Meinungsbildes kann durchaus möglich sein.

Grundsätzlich ist die Frage, ob eine Sezession möglich ist, auch wenn die eigene Verfassung dies untersagt. Sicherlich ja. Denn könnte man ein verfassungsrechtliches Sezessionsverbot verankern, dann wären die USA wohl nie gegründet worden. Wahrscheinlich ist die Neugründung von Staaten nur selten über den Rechtsweg der Verfassung des ursprünglichen Staates erfolgt. Insbesondere dann, wenn der größere Teil des Staatsgebietes dagegen ist. Eine Ausnahme ist die Verfassung des kleinen Liechtensteins. In der dortigen Verfassung können sich einzelne Gemeinden abspalten und einem Nachbarland anschließend. Doch Liechtenstein ist nicht überall. Und generell muss man fragen, ob eine knappe Mehrheit eine knappe Minderheit in einer solch fundamentalen Frage einfach so überstimmen darf.

Bei der Abstimmung in Katalonien im letzten Jahr stimmten 90 Prozent der Teilnehmer für die Loslösung von Spanien. Die Wahlbeteiligung lag jedoch bei lediglich 42,3 Prozent. Letztlich haben also nur 38 Prozent der Katalanen für die Unabhängigkeit gestimmt. Und auch die Wahlen in Katalonien im Dezember 2017 haben kein eindeutiges Ergebnis geliefert. Die Separatisten erzielten mit 47,5 Prozent der Stimmen zwar die Mehrheit, aber das Lager der Gegner ist mit 43,5 Prozent fast genauso groß. Auf dieser gespalteten Bevölkerung eine Sezession von Spanien zu begründen, ist schon sehr gewagt. Nicht ohne Grund kennen wir bei demokratischen Abstimmungen nicht nur das reine Mehrheitsprinzip. Vielfach ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich. Aber auch hier muss man fragen, ob das ausreichend ist. Immerhin ein Drittel wird durch die Zwei-Drittel-Mehrheit fundamental in den eigenen Lebensumständen beeinträchtigt. Daher ist zu fragen, ob nicht eine Drei-Viertel-Mehrheit oder eine Vier-Fünftel-Mehrheit für mehr Rechtsfrieden sorgen würde. Eine 50,1 Prozent-Mehrheit schafft dagegen keinen Rechtsfrieden.

Doch zurück zu den hiesigen Staatsorganen. Man stelle sich einmal vor, die Staatsorgane und insbesondere die Regierenden in Hamburg hätten sich nach den bürgerkriegsähnlichen Zuständen rund um den G 20-Gipfel 2017 in der Hansestadt ähnlich entschlossen gezeigt. Oder die Staatsanwaltschaften hätte die „Schotterer“, die die Bahngleise bei Castortransporten untergraben haben, ebenso entschlossen und schnell angeklagt.

Der spanisch-katalanische Konflikt sollte in Spanien und Katalonien gelöst werden. Deutschland sollte sich nicht auf die eine oder andere Seite schlagen. Der Publizist und Anwalt Carlos A. Gebauer hat dieser Tage vorgeschlagen, pragmatisch mit dem Fall Puigdemont umzugehen, da jede Entscheidung Deutschlands unbefriedigend sei. Als zuständiger Richter würde er den katalanischen Gast an unsere dänischen Freunde zurücküberstellen und in die Verfügung auf dem Aktendeckel den vielleicht schönsten aller Sätze aus der deutschen Verwaltungspraxis notieren: „Mit der Bitte um weitere Veranlassung.“

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.

Photo: 16:9clue from Flickr (CC BY 2.0)

Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883-1955) verfasste 1930 ein vielbeachtetes Essay „Der Aufstand der Massen“. Was als Abgesang auf die liberale Ordnung geschrieben war, liest sich heute mitunter wie eine Prognose auf Fake News, Populismus und Identitätspolitik.

Verwöhnte Kinder

Für Ortega, einen liberalen Republikaner vom alten Schlag, deutete sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg der Verlust der offenen, pluralen und dynamischen Gesellschaft an, die sein Altersgenosse Stefan Zweig in seinem ein Jahrzehnt später verfassten Buch „Die Welt von gestern“ so anschaulich und wehmütig beschreibt. Die Lektüre von Ortegas Text lohnt sich nicht nur für den Historiker. Es ist auch erstaunlich aktuell im Blick auf die Probleme, die heute auf unsere Gesellschaft zukommen. Corbyn und Orban, Trump und Maduro, Pegida und Campact – sie alle kann man in diesem Zeugnis europäischen Geistes wiederfinden.

Eine zentrale Rolle spielt in Ortegas zeitkritischem Rundumschlag der Gegensatz zwischen der Masse und den Eliten. Deshalb tun sich Kritiker leicht, ihm Snobismus vorzuwerfen. Weit gefehlt. So ungeschickt die Wortwahl gewesen sein mag. Er meint damit etwas ganz anderes: Masse bezeichnet hier keine gesellschaftliche Klasse, sondern eine Menschenklasse oder -art, die heute in allen gesellschaftlichen Klassen vorkommt. Er meint mit Masse Menschen, die es sich in der Bequemlichkeit des status quo einrichten. Die keine Ansprüche an sich, aber dafür umso mehr an die Gesellschaft haben. Die wie verwöhnte Kinder jetzt sofort ihren Willen durchsetzen wollen ohne überhaupt einen Gedanken an Voraussetzungen und Konsequenzen zu verschwenden. Insofern kann etwa das Staatsoberhaupt der USA durchaus als Teil der Masse begriffen werden

Die Herrschaft der Stammtische

Der Gegensatz dazu ist der elitäre Mensch. Das müssen weder Professoren noch Großbürger sein. Weder Abschluss noch Einkommen definieren für Ortega Elite, sondern Haltung. Elite sind Menschen, die Mühen auf sich zu nehmen bereit sind, um Verbesserung zu erreichen. Die die Bereitschaft aufbringen, auf andere zu hören, sie zu akzeptieren und von ihnen zu lernen. Es können also auch Menschen Elite sein, die völlig aus der üblichen sozioökonomischen Definition von Elite herausfallen. Letztlich beschreibt Ortega mit den beiden Begriffen Haltungen und Persönlichkeitstypen. Sein „Aufstand der Massen“ ist mithin eine Beschreibung der Revolte der Unvernunft, eine Art Gegenaufklärung.

Die Errungenschaften der Aufklärung im politischen Bereich sieht er gefährdet durch diejenigen, die ihrem Ethos der Anstrengung aus Bequemlichkeit und selbstverschuldeter Ignoranz entgegenstehen. Sie wollen die einfachen Lösungen. Und das hat durchaus Konsequenzen für grundlegende Prinzipien der freiheitlichen Demokratie. Deren wesentlicher Bestandteil ist der Schutz der Minderheit vor der Herrschaft der Mehrheit. Die Massenmenschen dagegen glauben, es sei ihr gutes Recht, ihre Stammtischweisheiten durchzudrücken und mit Gesetzeskraft auszustatten.Den Wust von Gemeinplätzen, Vorurteilen, Gedankenfetzen oder schlechtweg leeren Worten, den der Zufall in ihm aufgehäuft hat, spricht er ein für allemal heilig und probiert mit einer Unverfrorenheit, die sich nur durch ihre Naivität erklärt, diesem Unwesen überall Geltung zu verschaffen.

Sie verachten den Pluralismus der freiheitlichen Gesellschaft und das Konzept des Individualismus: Anderssein ist unanständig. Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht „wie alle“ ist, wer nicht „wie alle“ denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden. Hier hallt bereits der Ruf der heutigen Massenmenschen voraus: Der Kampf der „99 Prozent“ gegen „die da oben“, der angeblich traditionellen Werte gegen „Gayropa“. Der Liberale sucht nach Wegen der Kooperation und der Versöhnung, der Massenmensch hingegen braucht die Feindbilder, um sich selbst zu bestätigen: Der Liberalismus … verkündet den Entschluss, mit dem Feind, mehr noch: mit dem schwachen Feind zusammenzuleben. … Mit dem Feind zusammenleben! Mit der Opposition regieren! Ist eine solche Humanität nicht fast schon unbegreiflich? … Die Masse … wünscht keine Gemeinschaft mit dem, was nicht zu ihr gehört; sie hat einen tödlichen Hass auf alles, was nicht zu ihr gehört.

Hat sich der Liberalismus zu Tode gesiegt?

Auch die großen Narrative hat es damals schon gegeben. Ortega reagiert allergisch auf das Gerede über den Niedergang und besonders den Niedergang des Abendlandes und stellt fest: Es gibt nur einen bedingungslosen Niedergang; er besteht in einem Schwinden der vitalen Kräfte. Damit meint er die Bereitschaft der „Elite“, sich auf Neues einzulassen, nicht nur ökonomische, sondern auch kulturelle und gesellschaftliche Entrepreneure zu sein. Paradoxerweise hängt dieser tatsächliche Niedergang zusammen mit den beiden großen Erfolgen des 19. Jahrhunderts, die Ortega ausmacht: liberale Demokratie und Technik. Nicht unähnlich den Analysen von Hayek scheint es ihm, als ob sich diese Errungenschaften gewissermaßen zu Tode gesiegt hätten:

Der fortschrittliche Liberalismus wie der Marxsche Sozialismus setzen voraus, dass sich, was sie als beste Zukunft ersehnen, unabwendbar … verwirklichen wird. Durch diese Theorie vor ihrem eigenen Gewissen gedeckt, ließen sie das Steuer der Geschichte fahren, blieben nicht länger in Bereitschaft und büßten Beweglichkeit und Tatkraft ein. … Kein Wunder, wenn die Welt heute leer von Plänen, Zielsetzungen und Idealen ist. Niemand befasst sich damit, sie bereit zu halten. Das ist die Fahnenflucht der Eliten, die immer die Kehrseite zum Aufstand der Massen darstellt.

Die Verstaatlichung des Lebens und Identitätspolitik

Die Kombination aus dieser Antriebs- und Ziellosigkeit und dem mangelnden Bewusstsein für die Mühen, die es kostet, Wohlstand und Freiheit zu erhalten, führt zu einer Anspruchshaltung, die die dynamischen – vitalen, wie Ortega sagt – Kräfte zerstört: Die Lebenslandschaft der neuen Massen … bietet tausend Möglichkeiten und Sicherheit obendrein, und alles fix und fertig, zu ihrer Verfügung, unabhängig von einer Bemühung ihrerseits … Eben die Vollkommenheit der Organisation, die das 19. Jahrhundert gewissen Lebensordnungen gegeben hat, ist Ursache davon, dass die Massen, denen sie zugute kommt, sie nicht als Organisation, sondern als Natur betrachten. … nichts beschäftigt sie so sehr wie ihr Wohlbefinden, und zugleich arbeiten sie den Ursachen dieses Wohlbefindens entgegen. Da sie in den Vorteilen der Zivilisation nicht wunderwürdige Erfindungen und Schöpfungen erblicken, die nur mit großer Mühe und Umsicht erhalten werden können, glauben sie, ihre Rolle beschränke sich darauf, sie mit lauter Stimme zu fordern, als wären sie angeborene Rechte.

Da die Massenmenschen sich im Recht glauben, haben sie keine Hemmungen, Machtmittel einzusetzen, um ihren Willen zu verwirklichen. Sie haben die deutlichsten Vorstellungen von allem, was in der Welt geschieht und zu geschehen hat und dulden keine Abweichungen. Daher schließt Ortega, dass die größte Gefahr, die heute die Zivilisation bedroht, die Verstaatlichung des Lebens ist, die Einmischung des Staates in alles, die Absorption jedes spontanen sozialen Antriebs durch den Staat; das heißt die Unterdrückung der historischen Spontaneität, die letzten Endes das Schicksal der Menschheit trägt, nährt und vorwärtstreibt. Das führt unweigerlich zu dem, was wir heute mit dem Begriff Identitätspolitik bezeichnen. Politische Macht soll zu einem Mittel werden, mit dem die eigenen Wertevorstellungen durchgesetzt werden, weit über die unmittelbare Sphäre des Politischen hinaus: da der Massenmensch tatsächlich glaubt, er sei der Staat, wird er in immer wachsendem Maße dazu neigen, ihn unter beliebigen Vorwänden in Tätigkeit zu setzen, um so jede schöpferische Minorität zu unterdrücken, die ich stört, ihn auf irgendeinem Gebiet stört – in der Politik, der Wissenschaft, der Industrie.

„Verhandlungen, Normen, Höflichkeit, Rücksichten, Gerechtigkeit, Vernunft!“

Ortega, der die überlegenste Form menschlicher Beziehungen in dem Zwiegespräch sieht, diagnostiziert bei den Massenmenschen eine Tendenz zur Dialogunwilligkeit, die, je mehr sie betrieben wird, immer stärker in tatsächliche Dialogunfähigkeit umschlägt. Es sind die Menschen, die nicht mehr bereit sind, zuzuhören, dem anderen Raum zu geben. Es geht nicht mehr darum, in einem gemeinsamen Austausch von Argumenten einer Lösung näherzukommen: Wozu hören, wenn er schon alles, was not tut, selber weiß? Es ist nicht mehr an der Zeit zu lauschen, sondern zu urteilen, zu befinden, zu entscheiden. Das Parlament als Schwatzbude gehörte schon damals zum Vorwurfsrepertoire der Feinde der offenen Gesellschaft wie die Ablehnung von Experten: Das Neueste in Europa ist es daher, „mit den Diskussionen Schluss zu machen“, und man verabscheut jede Form geistigen Verkehrs, die, vom Gespräch über das Parlament bis zur Wissenschaft, ihrem Wesen nach Ehrfurcht vor objektiven Normen voraussetzt. Das heißt, man verzichtet auf ein kultiviertes Zusammenleben, das ein Zusammenleben unter Normen ist, und fällt in eine barbarische Gemeinschaft zurück.

Dabei ist die Fähigkeit und Bereitschaft zum Diskurs kein Mittel, um die Wahrheit zu verwässern, wie es oft von den Massenmenschen dargestellt wird, sondern gerade die einzige Möglichkeit, ihr näher zu kommen. Das gilt insbesondere im Blick auf die „Wahrheit“ im menschlichen Miteinander, die eben niemals eine feste Wahrheit, sondern ein beständiges Austarieren, Lernen und Weiterentwickeln ist. Diskurs ist der Nährboden der freien Gesellschaft: Verhandlungen, Normen, Höflichkeit, Rücksichten, Gerechtigkeit, Vernunft! Warum erfand man das alles? … Es dient dazu, die civitas, die Gemeinschaft, das Zusammenleben, zu ermöglichen. Diese zivilisatorischen Tugenden werden vom Massenmensch abgelehnt, weil er sie als hinderliche empfindet: Gleichgültig, ob er als Reaktionär oder Revolutionär maskiert ist, nach einigem Hin und Her wird er mit Entschiedenheit jede Verpflichtung ablehnen und sich, ohne dass er selbst den Grund dafür ahnte, als Träger unbeschränkter Rechte fühlen.

Das Unfehlbarkeitsdogma des Massenmenschen

Dieser Diskurs setzt freilich auch Respekt vor dem Prinzip der Vernunft und Rationalität voraus. Die Grundlage des Erfolgs von Fake News ist das Unfehlbarkeitsdogma des Massenmenschen: die Überzeugung, Wahrheit könne sich aus dem eigenen Gefühl beziehen. Weil einem selbst etwas plausibel erscheint, verzichtet man darauf, diese vermeintliche Wahrheit äußeren Umständen und anderen Menschen im Austausch auszusetzen.

Wahrscheinlich lässt sich ohnehin in Fragen des menschlichen Miteinanders nie die eine objektive Wahrheit finden. Umso wichtiger ist es allerdings, die Regeln des rationalen Diskurses einzuhalten, weil man sonst selber den Besitz der objektiven Wahrheit beansprucht, was jeglichen Diskurs vollständig verunmöglicht: Es gibt keine Kultur, wenn es keine Ehrfurcht vor gewissen Grundwahrheiten der Erkenntnis gibt. Wenn sich unser Partner in der Diskussion nicht darum kümmert, ob er bei der Wahrheit bleibt, wenn er nicht den Willen zur Wahrheit hat, ist er ein geistiger Barbar, … sind seine Gedanken in Wahrheit nur Triebe in logischer Verkleidung.

Dekontextualisierung: Bedrohung der Zivilisation

Einer der größten Fallstricke des Massenmenschen ist die Neigung zur Dekontextualisierung, die in einem engen Zusammenhang steht mit seiner Diskurs- und Rationalitätsverweigerung. Er hält sich selbst für den Maßstab, lehnt das Fremde ab und strebt nach der absoluten Herrschaft: Diese Selbstzufriedenheit führt ihn dazu, keine Autorität neben seiner eigenen anzuerkennen, auf nichts und niemanden zu hören, seine Meinung nicht in Zweifel zu ziehen und die Existenz des fremden Du zu ignorieren. Das innere Gefühl von Machtvollkommenheit reizt den homo vulgaris unausgesetzt, sein Übergewicht geltend zu machen. Er wird also handeln, als gebe es auf der Welt nur ihn selbst und seinesgleichen, und wird in alles hineinreden und ohne Rücksichten, Überlegungen, Vorbereitungen seine banalen Überzeugungen durchsetzen, gemäß einer „Taktik der starken Hand“.

Die Bejahung von Kontext ist freilich die Grundbedingung für das Entstehen von Zivilisation. Erst indem Kontext akzeptiert und wahrgenommen wird, wird Handel möglich, Wissensaustausch und Erkenntnisgewinn, Demokratie und Rechtsstaat. Kontext ist das Lebenselixier der offenen Gesellschaft. Besonders anschaulich wird das im Verhältnis des Massenmenschen zur Geschichte. Man begreift sich nicht als Teil eines evolutorischen Prozesses, als Ergebnis des Gewordenen und Motor des Werdenden. Vielmehr werden Punkte in der Vergangenheit oder Zukunft als absolutes Ideal dargestellt. Reaktionäre und revolutionäre Bewegungen haben gemeinsam, dass sie von mittelmäßigen, zeitfremden Männern ohne altes Gedächtnis und historischen Sinn geführt werden. Das Ergebnis sind Forderungen nach der Erhaltung eines völlig ahistorischen „Abendlandes“ oder nach der völlig utopischen weltweiten Gleichheit. Das Wissen um unser Eingebettet-Sein in einen geschichtlichen Kontext bewahrt uns vor Fehlern, ist essentieller Bestandteil des menschlichen Lernprozesses: Wir bedürfen der Geschichte in ihrem vollen Umfang, wenn wir ihr entfliehen und nicht in sie zurückfallen wollen.

„eine Überempfindlichkeit für Verantwortung wecken“

Ortega sieht mit großer Klarheit die Gefahren, die in der damaligen Zeit lauerten und in einem beispiellos brutalen Zeitalter europäischer Geschichte mündeten. Erschreckend, wie viele seiner Beobachtungen auch in der heutigen Zeit durchaus noch aktuell erscheinen, wenn man nach Polen oder Venezuela, nach China oder Russland oder auch vor die eigene Haustür blickt: Wer sich reaktionär und fortschrittsfeindlich gebärdet, tut es, um behaupten zu können, dass die Rettung von Staat und Volk ihm das Recht verleiht, alle anderen Gebote zu übertreten und den Mitmenschen zu zermalmen, besonders, wenn er eine Persönlichkeit von Format ist. Und dasselbe gilt für den Revolutionär. Seine scheinbare Begeisterung für den Handarbeiter und die soziale Gerechtigkeit dient ihm als Maske, um sich dahinter jeder Pflicht – wie Höflichkeit, Wahrhaftigkeit, vor allem Achtung und Bewunderung für überlegene Menschen – zu entziehen. Es können einem die Ohren klingeln, wenn man liest, wie er beobachtete: Angesichts von Europas sogenanntem Untergang und seiner Abdankung in der Weltherrschaft müssen Nationen und Natiönchen umherspringen, Faxen machen, sich auf den Kopf stellen oder sich recken und brüsten und als erwachsene Leute aufspielen, die ihr Schicksal selbst in der Hand halten. Daher die ‚Nationalismen‘, die überall wie Pilze aus der Erde schießen.

Es ist einmal wieder Zeit, für diejenigen, die Ortega als Eliten bezeichnet, die Hände aus dem Schoß zu nehmen und sich für die Auseinandersetzung zu rüsten. Verhandlungen, Normen, Höflichkeit, Rücksichten, Gerechtigkeit, Vernunft lauten die Antworten auf Autokraten, Populisten und Demagogen. All die vielen Errungenschaften von liberaler Demokratie und Technik dürfen uns nicht zu Selbstzufriedenheit verleiten. Sie müssen behütet und wieder und wieder errungen und ausgebaut werden. Ortegas Warnung aus dem Jahr 1930 gilt auch uns: Wer sich von der Strömung eines günstigen Laufs der Ereignisse forttreiben lässt, unempfindlich gegen die Gefahr und Drohung, die noch in der heitersten Stunde lauern, versagt vor der Verantwortung, zu der er berufen ist. Heute wird es notwendig, in denen, die sie fühlen können, eine Überempfindlichkeit für Verantwortung zu wecken.

Photo: Daniel von Appen from Unsplash (CC 0)

Von Dr. Helge Gondesen, Rechtsanwalt.

Seit Einführung des flächendeckenden Zwangsbeitrages zur Finanzierung des staatlich organisierten Rundfunks im Jahr 2013 wehrt sich die Bevölkerung mit unzähligen Klagen. Diese richten sich gegen die Zahlung, ihre Höhe, die Art der Erhebung, die Frage, ob es sich um eine Steuer handelt, die Zahlungsmodalitäten, die Verwendung bzw. Verschwendung der Mittel etc. Das zugrundeliegende Problem ist jedoch das Betreiben der Öffentlichen selbst. Wenn man ein Recht des Staates anerkennt, ein System des öffentlichen Rundfunks zu betreiben –wie „staatsfern“ organisiert auch immer– dann muss der Staat auch die Mittel aufbringen dürfen, um diesen zu finanzieren. Wem ist gedient, wenn der Zwangsbeitrag abgeschafft, aber die Steuern entsprechend erhöht und das Ganze einfach aus allgemeinen Steuermitteln finanziert wird? Deshalb drängt sich auf zu betrachten, ob der Staat überhaupt berechtigt ist, einen quasi-staatlichen Rundfunk in dem vorhandenen Ausmaß zu betreiben und dessen Finanzierung durch die Bevölkerung zu erzwingen.

Eine deutliche Einschränkung des Umfangs der Öffentlichen oder sogar die Abschaffung in seiner gegenwärtig bestehenden Form haben in der letzten Zeit viele Stimmen gefordert. Ein Gutachten des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium von 2014 („Öffentlich-rechtliche Medien, Aufgaben und Finanzierung“) hat eine Rückführung auf ein Subsidiaritätsprinzip gefordert. Der bayerische Ministerpräsident hat 2016 („ein nationaler Sender reicht“) und der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt 2017 („das Öffentlich-Rechtliche ist Westfernsehen geblieben“) das System kritisiert. Die wenigen freien Wettbewerber fühlen sich in ihrer Existenz bedrängt, z.B. die RTL-Chefin Schäferkordt („Die Marktverzerrung muss endlich eingedämmt werden“). Ein von Prof. Dr. Haucap und anderen im Auftrag von Prometheus – Das Freiheitsinstitut erstelltes Gutachten aus dem Jahr 2015 stellt fest: „Deutschland hat den größten und teuersten öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Welt“ Dieser strebt nach weiterer „Expansion und aktiver Verdrängung privater Inhalte“. Das Vertrauen der Bundesbürger in die öffentlich-rechtlichen Medien ist im vergangenen Jahr weiter gesunken. Wie aus einer neuen Forsa-Umfrage im Auftrag von RTL hervorgeht, haben nur noch 28 % (nach 36% im Vorjahr) der Befragten Vertrauen in das Fernsehen.

Was sagt unsere Verfassung?

In Deutschland muss jedes von den Parlamenten erlassene Gesetz und jeder Staatsvertrag zwischen den Ländern mit der Verfassung vereinbar sein. Wenn die gesetzlichen Grundlagen der Öffentlichen gegen das Grundgesetz oder die Menschenrechte verstoßen, sind sie nichtig. Lässt man die Äußerungen und Urteile der Richter und die Meinungen der sonstigen Vertreter des Staates einmal unbeachtet und betrachtet nur den Wortlaut der Verfassung und der dazugehörigen Menschenrechte, zeigt der neutrale juristische Befund: Der Betrieb des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung ist verfassungswidrig und damit unzulässig.

Rundfunk ist das Verbreiten geistiger Botschaften mit technischen Mitteln an eine unbestimmte Anzahl von Empfängern. Der Inhalt ist beliebig. Dies können Botschaften aller Art sein, z.B. Tatsachenbehauptungen oder Meinungen, Ideologien, Satire und Unterhaltung, die durch Sprache oder Text, Töne oder Bilder vermittelt werden. Eine von staatlichen Stellen nicht behinderte Verbreitung geistiger Botschaften wird von allen Seiten als ein unverzichtbares Merkmal freiheitlicher, rechtsstaatlicher Gesellschaften angesehen, auch (in Lippenbekenntnissen) von den Befürwortern staatlicher Reglementierung und staatlichen Zwangs. Die besten Ideen und Konzepte für die Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft  können sich nur in einen freien Austausch der Informationen, Erkenntnisse und Meinungen durchsetzen. Deshalb drängt es sich auf, dass eine Behinderung des freien Austausches und der Verbreitung geistiger Botschaften für den Bestand und dauerhaften Erfolg einer Gesellschaft schädlich sein muss. Aus diesem Grund ist gegenüber jeder Art von Einmischung in den freien Austausch, insbesondere einer Behinderung, Reglementierung oder Organisierung der Verbreitung geistiger Botschaften durch den Staat, äußerste Zurückhaltung geboten. Die letzten 2000 Jahre europäischer Geschichte haben dies immer wieder bestätigt.

Nicht zuletzt deshalb haben, unter dem noch unverblassten Eindruck absolutistischer, keine andere Meinung duldender Diktaturen und insbesondere der Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus die UNO in ihrer allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948, das deutsche Grundgesetz von 1949 (GG) sowie die Konvention des Europarates zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 (EMRK) die freie, ungehinderte Verbreitung geistiger Botschaften in den Rang eines unveräußerlichen Menschenrechtes bzw. in Verfassungsrang erhoben, zur Abwehr staatlicher Einmischung.

Die Universal Declaration of Human Rights der UNO von 1948 besagt in Article 19: „ Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit ein Meinungen zu vertreten ohne Einmischung und … Informationen und Ideen durch jedwedes Medium zu übermitteln.“

In Art. 5 Abs. 1 GG heisst es: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt“.

Und Art. 10 Abs.1 EMRK lautet in dem neben dem französischen Wortlaut allein verbindlichen englischen Text: „Jeder hat das Recht sich frei auszudrücken. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, Information und Ideen zu übermitteln ohne Einmischung staatlicher Stellen.“

Von staatlicher Einmischung, Leitung oder Organisierung der freien Verbreitung von Meinungen durch technische Hilfsmittel ist in keiner dieser Rechtsgrundlagen die Rede. Im Gegenteil, die UN Menschenrechtskonvention und die EMRK verbieten ausdrücklich jede Art von staatlicher Einmischung. Das Grundgesetz garantiert die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk. Auch hier findet sich kein Wort von staatlicher Einmischung.

Dieses Grund- und Menschenrecht wird durch die Öffentlichen in rechtlicher und in tatsächlich-wirtschaftlicher Hinsicht stark eingeschränkt. In rechtlicher Hinsicht durch unzulässige Zulassungsvoraussetzungen. In tatsächlicher Hinsicht durch explosionsartig gewachsenes, permanentes Senden auf immer mehr Kanälen mit der Wirkung, ein wirtschaftliches Betreiben von Rundfunk durch Privatpersonen weitestmöglich zu verhindern. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat im TV, aber auch im Radio, in den letzten Jahren sein Programm drastisch erhöht und versucht mit gegenwärtig rund 100 Sendern, jede auch noch so kleine thematische Nische zu besetzen.

Der heutige Umfang der Öffentlichen führt faktisch dazu, Private bei der Verbreitung ihrer Inhalte deutlich zu behindern. Die vom Grundgesetz und den Menschenrechten garantierte Freiheit der Verbreitung von Meinungen ist nachhaltig nur möglich, wenn eine wirtschaftliche Tragfähigkeit hergestellt werden kann. Und gerade dies behindern die Öffentlichen durch ihr Agieren praktisch mit allen Mitteln und unter Einsatz unbegrenzt fließender Einnahmen aus Zwangszahlungen. Nicht zuletzt deshalb gibt es freies, privates Fernsehen mit Breitenwirkung in Deutschland, vereinfacht ausgedrückt, nur von zwei Rundfunkbetreibern: die RTL-Gruppe und  ProSieben/Sat1. Daneben gibt nur noch eine Handvoll nicht breitenwirksamer Nischenanbieter.

Die ins Gigantische ausgeuferten Öffentlichen haben demgegenüber ein in der Welt unvergleichbares Ausmaß angenommen, wie das o.g. Gutachten von Prof. Dr. Haucap u.a. deutlich macht. Sie behindern durch ihre bloße Existenz die Meinungsäußerungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Mit Zynismus stellt die „Bundeszentrale für politische Bildung“ fest, der private Rundfunk „befindet sich in einer schwierigen Wettbewerbssituation“.

Der Konzentrationsdruck und die Programmgestaltung der Privaten wird maßgeblich durch das öffentlich-rechtliche Fernsehen verursacht und determiniert. Wenn ein privat veranstaltetes Sendeformat wirtschaftlich interessant wird, wird es häufig von den staatlich privilegierten Kollegen kopiert. Auf diese Weise wird den Privaten ein Marktanteil von der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz weggenommen mit dem Effekt, dass die privaten Veranstalter sich aus den wirtschaftlich nicht mehr tragfähigen Sendungen wieder zurückziehen müssen. Deshalb suchen die Privaten sich immer entlegenere, absurdere Nischen in diesem wirtschaftlichen Überlebenskampf. Eine Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk, wie sie Art. 10 EMRK und Art. 5 GG garantieren, ist in Deutschland nur ohne den staatlich privilegierten Rundfunk in seiner gegenwärtigen Form möglich.

Was sagt das Bundesverfassungsgericht?

Das Bundesverfassungsgericht hat die Entwicklung des deutschen öffentlich-rechtlich organisierten Rundfunks zum weltweit teuersten und größten öffentlichen Rundfunk bis heute zustimmend begleitet. Es musste sich in mehr als 50 Jahren wiederholt mit dessen Berechtigung befassen. Mehrere Generationen von Richtern haben dabei im Laufe der Zeit widersprüchliche und logisch nicht nachvollziehbare Ansichten vertreten. Ein klares und eindeutiges Bild ist dem Ganzen bis heute nicht zu entnehmen:

1961 hat das BVerfG den Versuch Kanzler Adenauers zunächst abgewehrt, zusätzlich zur 1950 gegründeten ARD einen weiteren öffentlich-rechtlichen TV-Sender einzurichten. Die Zuständigkeit für das Fernsehen läge bei den Ländern. Grundsätzlich war das Gericht damals aber der Meinung, der Staat sei dazu aufgerufen Fernsehen zu veranstalten. Im Gegensatz zur Presse, bestehe beim Fernsehen eine „Sondersituation“. „Aus technischen Gründen“ und mit Rücksicht auf den „außergewöhnlich großen finanziellen Aufwand“ nahm das Gericht an, die Zahl der Träger solcher Veranstaltungen müsse zwangsläufig verhältnismäßig klein bleiben. Das Gericht erkannte damals noch, dass Art. 5 GG ein individuelles Grundrecht des Bürgers gegen den Staat auf Respektierung seiner Freiheitssphäre zur Meinungsäußerung enthält (BVerfGE 12, 259f). Die technische Sondersituation rechtfertige jedoch eine staatliche Organisierung des Rundfunks.  Da technisch nicht viele Einzelne Rundfunk betreiben konnten, erlaubte das Gericht eine seiner Ansicht nach erforderliche Notlösung: der Staat organisiert den Rundfunk und sorgt dafür, dass die im Volk vorhandene Pluralität der Meinungen und Kulturen sich innerhalb des Rundfunks widerspiegelt.

Es ist offensichtlich, dass diese “Sondersituation” heute nicht mehr vorliegt. Durch Satellitenübertragung und Kabelfernsehen und das Internet ist es möglich, Tausende von Rundfunksendern zu betreiben. Den Wegfall der technischen Gründe, mit denen der öffentliche Rundfunk einst gerechtfertigt wurde und damit den Wegfall seiner Existenzberechtigung hat das o.g. Gutachten des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen vom Oktober 2014 ausführlich dargestellt.

Als in den 80er Jahren Privatpersonen erstmals zur Veranstaltung von Fernsehen zugelassen wurden, lag nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die „Sondersituation“ unverändert vor. Technisch sei man auf terrestrisch verbreitete Programme angewiesen. Zusätzlich erfanden die Verfassungsrichter einen vermeintlichen „klassischen“ Auftrag des Staates zur Veranstaltung von Fernsehen. Zwar garantiere das Grundgesetz (auch) privaten Rundfunk, aber die öffentlich-rechtlichen Anstalten hätten eine Bestandsgarantie, weil nur sie praktisch alle Menschen erreichen könnten. Der Staat müsse die „unerlässliche Grundversorgung“ sicherstellen. Das Grundgesetz erteile dem Staat den Auftrag, die Bevölkerung bei der Meinungsbildung (!) zu unterstützen. Statt von dem Recht zur freien Verbreitung der Meinung spricht das Verfassungsgericht hier nur noch von einem Recht auf Bildung der Meinung. Der Staat müsse für die Meinungsbildung der Bevölkerung sorgen. Eine gewisse Ablehnung gegenüber dem Menschenrecht und Grundrecht der freien Meinungsverbreitung und der Urteilsfähigkeit der Bevölkerung lässt sich herauslesen, wenn das Gericht ausführt: „Private sind zu umfassender und wahrheitsgemäßer Information verpflichtet“ und zugleich: „Private können der Aufgabe umfassender Information nicht gerecht werden“. Rundfunkfreiheit ist nach dieser Auffassung nicht ein Recht der Bevölkerung gegenüber dem Staat, wie alle anderen Grundrechte, sondern das Recht und die Pflicht des Staates, die Bevölkerung mit „umfassenden“ und „wahrheitsgemäßen“ Informationen zu versorgen. Diese „Grundversorgung“ dürfe keinesfalls der Bevölkerung selbst (den „Privaten“) vorbehalten sein.

Ganz im Gegensatz zu dieser erstaunlichen Meinung des höchsten deutschen Gerichts haben die obengenannten Rechtsquellen dieses Problem klar erkannt und befassen sich nicht mit Fragen von „Wahrheit“ oder „umfassenden Informationen“, sondern garantieren die freie Äußerung und Verbreitung jedweder Art von Meinungen. Auch die „falsche“ Meinung oder die umstrittene Meinung, die „unvernünftige“ Meinung sind durch die Menschenrechte und das Grundgesetz geschützt und dürfen frei verbreitet werden. Gerade die isolierten, die eigenwilligen, die von der Mehrheit nicht nachvollziehbaren Ideen und Meinungsäußerungen des Menschen dienen nicht nur dem Individualinteresse, sondern der Gesellschaft insgesamt. Fast aller Fortschritt, aller Wohlstand, alle Technik in der Gesellschaft wurde von selbstbestimmten Individuen geschaffen, sehr oft gerade von solchen, die in ihren Ideen ganz erheblich abgewichen sind von dem, was allgemein für „vernünftig“ gehalten wurde.

In den 90er Jahren hatte das Bundesverfassungsgericht das Problem des staatlich organisierten Rundfunks zeitweilig erkannt:  Es müsse sichergestellt sein, dass der Staat im Fernsehen keinen „bestimmenden Einfluss“ ausüben kann. Dies müsse „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ vorbehalten sein. Der Auftrag zur Grundversorgung bestehe nur unter den „gegenwärtigen Bedingungen“. Kurz darauf haben die Richter jedoch erneut eine Wende vollzogen und nunmehr geurteilt, der Rundfunk dürfe nicht allein den gesellschaftlichen Kräften überlassen werden. Es bleibt die Frage offen: wem denn dann, wenn nicht der Bevölkerung?

Einige Jahre später ignorierte das Gericht immer noch die mittlerweile offensichtliche technische Revolution durch Kabelfernsehen, Satellitenfernsehen und insbesondere das Internet. Die 1961 konstatierte, technische „Sondersituation“, die 1986 vertretene Meinung, mit einem echten Markt könne auf absehbare Zeit nicht gerechnet werden, und die 1991 für maßgebend gehaltenen „gegenwärtigen Bedingungen“ waren sämtlich entfallen. In einem Urteil vom Februar 1998 geht das Gericht unbeirrt und unverändert von „beschränkten Übertragungskapazitäten“ aus. Der öffentliche Rundfunk wird gerechtfertigt und ein angeblich von der Verfassung vorgegebenes „duales System“ postuliert. Das höchste deutsche Gericht hat geradezu in Umkehrung der Grundrechte ein Grundrecht des Staates gegen die Bürger auf Veranstaltung eines mit dem Geld der Bürger finanzierten stattlich organisierten Rundfunks erfunden und das Recht der Bürger auf eine Freiheit der Meinungsbildung reduziert. Das Recht der Bürger auf freie Verbreitung ihrer Meinungen wird in den einschlägigen Urteilen nur theoretisch anerkannt. Die dafür erforderlichen rechtlichen Rahmenbedingungen und technischen und tatsächlichen Voraussetzungen werden der Bevölkerung vorenthalten und weitgehend dem Staat zugewiesen.

Das Grundrecht bzw. Menschenrecht verbürgt nicht nur die Freiheit zur Verbreitung geistiger Botschaften durch Presse oder Rundfunk, sondern auch die Freiheit zur Ablehnung bzw. Nicht-zur-Kenntnisnahme entsprechender Botschaften. Es darf niemand gezwungen werden, die Presse zu lesen oder Rundfunk zu empfangen. Die Umdeutung der Freiheit zur Ablehnung von Presse und/oder Rundfunk in einen Zwang zur Inanspruchnahme bzw. Finanzierung derselben ist abwegig. Es sollte jedem Einzelnen überlassen sein, ob und wie er Meinungen äußert, sich bildet oder Informationen bezieht oder weitergibt.

Wir leben im Informationszeitalter. Fast jeder trägt ein kleines Wunderwerk der Technik bei sich welches sofortigen, jederzeitigen Zugang zu privaten und öffentlichen Informationen, Archiven und Bibliotheken, Unternehmen, Banken und staatlichen Institutionen rund um den Globus vermittelt. Millionen Seiten mit Nachrichten, Meinungen, Unterhaltungs- und Konsumangeboten buhlen um unsere Aufmerksamkeit. Durch Internet, Kabel und Satellitenübertragung haben wir Zugang zu Medien überall auf der Welt, wann immer wir wollen. In diesem Umfeld, wo jeder ohne Schwierigkeiten Informationsgeber und Informationsempfänger für jeden sein kann, sollte man meinen, der Staat könne sich aus den Medien langsam zurückziehen und sie den Bürgern überlassen. Aber weit gefehlt! Statt sich zurückzunehmen wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk offensiv ausgebaut. Der Ruf der Öffentlichen nach mehr Geld ist grenzenlos und nur beschränkt durch die (vermutete) Tragfähigkeit der Bevölkerung. Diverse Skandale aus der letzten Zeit haben den im Grunde zwangsläufigen Missbrauch der Struktur offengelegt.

Und was sagt der Hüter unserer Verfassung dazu? Anstatt die genannten Umstände aufzugreifen, haben die Verfassungsrichter die unter den gegebenen Verhältnissen existierenden Programme vergleichen lassen und mit bedauerlichem Zynismus das Sendeangebot der Öffentlichen mit der Feststellung gerechtfertigt, Vergleiche der Angebote öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten und „Privater“ zeigten „deutliche Unterschiede“ aus denen sich ergäbe, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk nötig sei.

Vor unser aller Augen wird, finanziert mit Zwangsgebühren und Werbeeinnahmen, ein gnadenloser Konkurrenzkampf gegen private Meinungsäußerung durch privaten Rundfunk geführt. Einen ähnlichen Kampf führt das öffentlich-rechtliche Fernsehen mittlerweile auch gegen die Presse. Der BGH hat vor kurzem zur Tagesschau-App festgestellt, dass ARD und NDR unlauteren Wettbewerb betreiben.

Nach dem theoretischen Konzept des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtfertigung der Öffentlichen sollen die Personen, die die Macht im Staat innehaben, mit diesem Rundfunk eine Organisation schaffen, die ihnen potentiell gefährlich werden und evtl. durch Berichterstattung zum Verlust ihrer Macht beitragen kann. Und diese Organisation sollen die Machthaber „staatsfern“ strukturieren, damit sie selbst keinen bestimmenden Einfluss in dieser Organisation haben. Mit anderen Worten: es wird von ihnen erwartet, ihren eigenen fundamentalen Interessen entgegenzuwirken. Dass dies nicht funktionieren kann, ist offensichtlich und wird auch deutlich in dem Minderheitsvotum eines Richters zum Urteil vom März 2014 zum Ausdruck gebracht.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte:

Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte sich bereits mit staatlich organisiertem bzw. beeinflusstem Rundfunk zu befassen. Er hat wiederholt betont, dass Artikel 10 EMRK nicht nur den Inhalt von Informationen und Ideen schützt, sondern auch die Mittel ihrer Verbreitung. Danach ist die unbehinderte Meinungsäußerungsfreiheit der Bürger grundlegende Bedingung für den Fortbestand demokratischer Gesellschaften und die Entwicklung jedes Individuums (vgl. Europäischer Rat Veröffentlichungen, Band 18, Meinungsäußerungsfreiheit in Europa, Dezember 2005, S.7).

Im November 1993 hat der EGMR im Fall „Informationsverein Lentia und andere“ entschieden, dass die Freiheit der Weitergabe von Meinungen durch Rundfunk nicht durch faktische Monopolisierung oder wirtschaftliche Behinderung seitens staatlicher Systeme eingeschränkt werden darf. Die Restriktionen durch staatliche Organisierung vermeintlicher Qualität und Ausgewogenheit der Programme („quality and balance of programme output“) durch Aufsichtsgremien („supervisory powers over the media“) ist wegen der technischen Entwicklung der vergangenen Dekaden nicht zu rechtfertigen und ein Verstoß gegen Art. 10. Diese Auffassung hat der EGMR nochmals bestätigt in der Entscheidung Telesystem Tyrol Kabeltelevision vom 9. Juni 1997 (ebenda, Fn.153). Eine Entscheidung zum deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunk steht noch aus.

Es ist zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht unserem Land und unserer Freiheit einen Dienst erweist und den Öffentlichen endlich Grenzen aufzeigt. Sonst muss erneut der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte feststellen, dass Deutschland rechtsstaatliche Defizite aufweist.