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Der Konsum von Cannabis kann die Gesundheit schädigen. Ebenso wie der Konsum von Alkohol, Zucker, Salz und Fett. Gibt es wirklich keine sinnvolleren Einsatzgebiete für Polizisten als die Bekämpfung des Konsums illegaler Genussmittel?

„Drogenpolitik“ ist ein Ergebnis historischer Zufälle

Es gibt die unterschiedlichsten Theorien zu der Gesundheitsgefährdung, die von Cannabis-Konsum ausgeht. Während die Studien und Untersuchungen des Schildower Kreises und des Deutschen Hanfverbandes von eher geringeren Gefahren ausgehen, gibt es natürlich auch Wissenschaftler, die stärkere Bedenken haben. Eine überwiegende Mehrheit geht freilich davon aus, dass Cannabis im Grunde genommen in eine Kategorie mit Alkohol gehört. Während aber tagein, tagaus, landauf, landab Alkohol in rauen Mengen konsumiert wird. werden Cannabis-Konsumenten wie Kriminelle behandelt.

Wie kommt es eigentlich dazu? Im Grunde genommen hat das sehr wenig mit Cannabis selbst zu tun und sehr viel mit historischen Zufällen. Die unterschiedlichen Produkte der Hanfpflanze waren die längste Zeit gängige Mittel in der Medizin und wurden in vielen Teilen der Welt als entspannende Genussmittel gebraucht. Erst im späten 19. Jahrhundert wurden Stimmen laut, die den Verbot von Anbau, Handel und womöglich auch Konsum dieser Produkte verbieten wollten. Aus der gleichen Ecke kam übrigens auch die Idee der Alkoholprohibtion, die die Vereinigten Staaten in den 20er Jahren in die Fänge der Mafia treiben sollte.

Stammtischparolen statt Fakten

Seitdem ist Cannabis in der Wahrnehmung vieler Menschen geradezu dämonisiert. Wer sich heute einen Joint dreht – so das Bild, das in den Köpfen herumgeht –, findet sich spätestens ein halbes Jahr später mit der Nadel im Arm auf der Bahnhofstoilette wieder. Eine solche Vorstellung haben die wenigsten Menschen, wenn sie jemand vor einem Maßkrug im Biergarten sitzen sehen. Ignoranz in Sachfragen kann man immer noch in den höchsten Etagen der Drogenpolitik finden. Die derzeitige Drogenbeauftragte Marlene Mortler begibt sich mit schlafwandlerischer Sicherheit immer wieder auf glattes Eis mit populistischen Aussagen, die durch keinerlei wissenschaftliche Beobachtung zu erhärten sind.

Ignoranz und Stammtischparolen sind die eine Seite des Kriegs gegen das Kiffen. Die andere ist weniger unterhaltsam und viel gefährlicher. Man kann darüber diskutieren, ob es sinnvoll ist, den Handel von tatsächlich hochgefährlichen Rauschmitteln wie Chrystal Meth oder Heroin zu verfolgen. In diesem Bereich gibt es gute Gründe, die dafür, aber auch ebenso gute, die dagegen sprechen. Im Fall von Cannabis ist eine Verfolgung von Besitz und Handel durch die Polizei hingegen nicht nur widersinnig, sondern auch gefährlich.

Aberwitzige Ressourcenverschwendung

Polizei und Justiz werden durch die Verfolgung von Cannabis-Delikten in hohem Maße gebunden. Viele Millionen Steuergelder werden jährlich dafür aufgewandt. Gerichte und Behörden werden über Gebühr beansprucht. Vor allem aber werden Polizeiressourcen gebunden, die anderswo wesentlich besser gebraucht werden könnten. Der Berliner Innensenator Frank Henkel hat kürzlich den Kiffern in Berlin den Kampf angesagt. Das bedeutet, dass in den nächsten Monaten die Polizei verstärkt auf die Jagd gehen wird. Zur Erinnerung: es handelt sich um ein Rauschmittel, das mit Alkohol vergleichbar ist. Im vergangenen Jahr hat es 12.000 Einbrüche in Berlin gegeben. Während also Polizisten damit beschäftigt sind, Menschen aufzuspüren, die sich eben mal einen Joint gönnen, werden sie dort fehlen, wo anderen Menschen Hab und Gut geraubt werden.

Dabei gäbe es durchaus Alternativen: Es ist ja kein Geheimnis, dass die Legalisierung bzw. der Verzicht auf Strafverfolgung von Besitz und Handel von Cannabis in einigen US-Bundesstaaten, in Uruguay, ja selbst in Portugal oder Tschechien nicht zu einem Totalausfall dieser Länder geführt hat. Im Gegenteil: genaugenommen ist eigentlich gar nichts passiert. In Berlin etwa wurde tatsächlich das Kiffen über Jahre hinweg kaum bis gar nicht verfolgt und geahndet. Der Aktionismus des Senators ist ja auch nicht begründet durch die vielen Cannabis-Toten auf den Berliner Straßen, sondern durch das Problem der illegalen Händler, die sich zum Teil kriminell verhalten.

Drogenpolitik: ein großes Konjunkturprogramm für Kriminelle

Dass es überhaupt zu dieser Form von Kriminalität kommt, liegt aber vor allem an der restriktiven Drogenpolitik. Wie in den 20er Jahren, als in den USA die Alkoholprohibition in Kraft war, werden auch heute in Deutschland durch die Drogenkriminalisierung ganz neue Tätigkeitsbereiche für Verbrecher geschaffen, die dann natürlich verfolgt werden müssen. Die restriktive Drogenpolitik wirkt mithin wie ein großes Konjunkturprogramm für Kriminelle. Das Problem der aggressiven Drogenhändler im Görlitzer Park könnte Frank Henkel viel eleganter lösen, indem er auf eine Legalisierung von Cannabis hinwirkt. Vielleicht sollte er sich mal eine Reise nach Colorado gönnen, um dort festzustellen, wie eine Aufhebung des Verbots zivilisierend wirken kann.

Es ist allerhöchste Zeit, die Drogenpolitik fundamental zu überdenken. Das fordern nicht nur irgendwelche langhaarigen Ruhestörer. Das fordern inzwischen lautstark so honorige Personen wie der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan oder der ehemalige EU-Außenbeauftragte Javier Solana. In einem Bericht der UN-Kommission für Drogenpolitik aus dem Jahr 2011 forderten sie ein umfassendes Ende des „Kriegs gegen die Drogen“. Ebenso haben sich über hundert deutsche Strafrechtsprofessoren dahingehend in einer Erklärung geäußert. Und kürzlich haben die Grünen einen Antrag zur Cannabis-Legalisierung im Bundestag eingebracht.

Der Umgang mit Drogen ist zu ernst, um ihn auf Stammtischniveau abzuhandeln. Wir müssen uns den Fakten zuwenden. Wir müssen anerkennen, dass die derzeitige Politik gescheitert ist. Eines dürfte jedem klar sein, der etwas gesunden Menschenverstand hat: Der Kiffer will kein Verbrechen begehen und erst recht nicht jemand anderem schaden. Er will entspannen und genießen. Der Kiffer ist kein Staatsfeind. Hören wir endlich auf, ihn so zu behandeln.

Photo: Franz Ferdinand Photography from Flickr

Im Rahmen des von FAS-Redakteur Dr. Rainer Hank betreuten Blogprojekts „What’s left? Muss links sein, wer für eine gerechte und soziale Welt eintritt?“ hat Clemens Schneider einen Beitrag veröffentlicht unter dem Titel „Was Attac mit dem Manchesterliberalismus verbindet„. Ausgehend von der Lebensgeschichte des bedeutenden Manchesterliberalen Richard Cobden verdeutlicht Schneider, dass Linke keinen Alleinvertretungsanspruch auf Weltverbesserung haben. Lange Zeit war der Idealismus eine liberale Domäne. Ob nun mit Cobden, dem Armenbefreier und Pazifisten, oder mit William Wilberforce, der die Abschaffung der Sklaverei in Großbritannien durchsetzte.

Auch aufgrund seiner enormen Erfolgsgeschichte im Laufe des 19. Jahrhunderts hat der Liberalismus sich in gewisser Weise zu Tode gesiegt. Schneider beobachtet eine „Verspießbürgerlichung des Liberalismus“, das Einziehen eines „langweiligen Pragmatismus“. Damit hat die Sache der Freiheit ihre Anziehungskraft auf Idealisten und Weltverbesserer verloren, die scharenweise ins linke Lager abgewandert sind. Dieses Phänomen hat schon Friedrich August von Hayek in seinem Aufsatz „Die Intellektuellen und der Sozialismus“ anschaulich dargestellt.

Indem sich Liberale nur noch auf das „Machbare“ und „Durchsetzbare“ beschränkt haben, haben sie ihr Wesensmerkmal verraten, das Schneider beschreibt mit den Worten: „Freiheit fordert die Bereitschaft, die Kontrolle aufzugeben.“ Die Pragmatiker wollen aber genau diese Kontrolle nicht aufgeben. Sie fürchten sich vor der Offenen Gesellschaft. Er fordert die Liberalen auf, die Welt endlich wieder verbessern zu wollen: „Liberale dürfen keine Angst haben vor dem Träumen.“

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Lesen Sie zum gleichen Thema auch den Artikel „Prometheus: Eine Sprache für die Freiheit finden“ …

Photo: Live Zakynthos from Flickr

Schon der Philosoph Johann Gottlieb Fichte wusste: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was für ein Mensch man ist.“ Wer immer nach dem Staat ruft, wenn es darum geht, für Menschen in Not zu sorgen, hat offensichtlich ein negatives und von Misstrauen geprägtes Menschenbild. Freunde der Freiheit misstrauen dem Menschen bisweilen zwar auch, aber vor allem, dann wenn man ihm Macht gibt – und das geschieht, wenn man nach dem Staat ruft.

Helfen, Teilen, Trösten, Bestätigen, Schenken

Wir leben in einem Land, in dem sich deutlich mehr als ein Viertel der Bürger ehrenamtlich engagiert – eine Untersuchung aus dem Jahr 2011 geht von 36 % aus. Beinahe 5 Milliarden Euro wurden im vergangenen Jahr in Deutschland gespendet, der allergrößte Teil davon für soziale Zwecke. Und in diesen Statistiken sind nur alle offiziellen Ehrenämter und Spenden erfasst. Darüber hinaus gibt es noch unzählige Menschen, die sich in ihrer Nachbarschaft, ihrem Freundeskreis oder ihrer Familie mit Zeit und Geld einbringen, um anderen zu helfen, ohne dass das irgendwo erfasst würde. All diese Menschen setzen sich ein, ohne dass sie jemand dazu gezwungen hätte. Sie setzen sich ein, weil sie einem inneren Bedürfnis folgen. Weil sie anderen Menschen helfen wollen.

Menschen haben eine stark ausgeprägte Empathiefähigkeit. Man kann natürlich trefflich darüber diskutieren, ob diese Fähigkeit nur ein schlauer Trick der Evolution ist oder ob es tatsächlich so etwas wie ein moralisches Empfinden gibt. Fakt ist aber, dass wir diese Empathiefähigkeit Tag für Tag einsetzen. Die wenigsten Menschen starren böse zurück, wenn ein Kind sie anlächelt. Die wenigsten bleiben kalt und teilnahmslos, wenn sie mit der Not und dem Leid anderer Menschen konfrontiert werden. Helfen, Teilen, Trösten, Bestätigen, Schenken – das tun unzählige Menschen ganz offensichtlich jeden Tag überall auf der Welt. Aus sich selbst heraus.

Eine Welt voller Egoisten?

Natürlich und offensichtlich ist die Welt nicht von lauter Heiligen bevölkert. Es gibt Kriegsverbrecher und Kindermörder, Erbschleicher und Taschendiebe. Und es gibt Menschen, die an dem Missgeschick, der weniger vorteilhaften Lage ihrer Nachbarn vorbeisehen. Wer sich nach sozialer Gerechtigkeit sehnt oder einfach nur seinem Empathie-Impuls folgt, kann da schon mal in Rage geraten, wenn er das alles sieht. Die Welt erscheint dann plötzlich voller Egoisten, die nur den eigenen Vorteil im Blick haben und ihm alles andere unterordnen. Das Bedürfnis, etwas dagegen tun wächst, je länger man mit dieser Brille durch die Welt läuft.

Doch ist diese Brille richtig eingestellt, um die Realität abzubilden? Sind Menschen wirklich grundsätzlich nur oder zumindest vor allem an ihrem eigenen Wohl interessiert? Dem eigenen Wohl, das sich dann zudem natürlich nicht dadurch verbessert, dass sie anderen helfen? Und die vielleicht interessanteste Frage: Warum sollen andere Menschen so egoistisch sein, nicht aber diejenigen, die das Phänomen zu beobachten meinen und etwas dagegen tun wollen? Ist es nicht etwas überheblich, so zu denken? Wer meint, dass man Solidarität über Zwang und Umverteilung regeln müsse, geht letztlich davon aus, dass er mit seiner Überzeugung besser ist als die Mehrheit der Menschen, die man erst dazu zwingen muss, anderen zu helfen.

Wer danken kann, kann etwas zurückgeben

Gehen wir doch einmal von dem Fall aus, dass Menschen das Schicksal anderer nicht egal ist. Die Zahlen der Ehrenamtlichen und die Spendensumme in unserem Land sprechen eigentlich schon eine deutliche Sprache. Auch die anekdotische Evidenz ist deutlich. Wie viele Menschen kennen Sie in Ihrem Umfeld, denen sie pauschal attestieren würden, dass sie blanke Egoisten sind? Diejenigen, die skeptisch gegenüber dem Ruf nach mehr Umverteilung sind, haben oft ein positiveres Menschenbild als die Umverteiler. Sie glauben nicht, dass man Menschen dazu zwingen muss, für das Wohl ihres Nächsten zu sorgen. Sie glauben, dass Menschen das ganz oft aus sich heraus tun.

Ein häufiges Argument für Umverteilung lautet, es sei erniedrigend für Menschen, von der Mildtätigkeit anderer abhängig zu sein. Darum müssten sie ein Recht auf einen bestimmten Lebensstandard haben. Auch dieses Argument passt nicht unbedingt in unsere alltägliche Erfahrung. Wir beziehen unseren Selbstwert wesentlich aus menschlichen Beziehungen: aus der Anerkennung durch unsere Eltern, durch die Geschenke unserer Partner, durch den freundlichen Gruß unserer Nachbarn. Anonymität vermag uns diesen Selbstwert nicht zu vermitteln. Und ein Recht auf etwas ist etwas Anonymes, losgelöst von menschlichen Beziehungen. Es ist wertvoller, etwas aus der warmen Hand des Schenkenden zu empfangen als aus der kalten Hand einer Behörde. Einem Menschen kann man danken und somit etwas zurückgeben. Von einer Behörde ist man gerade deshalb viel stärker abhängig, weil man nichts zurückgeben kann. Statt für immer mehr Umverteilung zu plädieren, sollte man wieder deutlicher machen, in welchem Ausmaß Menschen einander beistehen und helfen, damit noch viel mehr diesem Beispiel folgen. Geben wir Menschen die Möglichkeit, Gutes zu tun – und die Möglichkeit, Danke zu sagen!

Photo: grazergruene from Flickr

Von Kalle Kappner, ehemaliger Mitarbeiter von Frank Schäffler im Bundestag, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin und Research Fellow bei IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues.

Die Debatte um Einwanderung, Integration und Flüchtlingspolitik wird von fortschrittspessimistischen Schwarzmalern einerseits und faktenresistenten Romantikern andererseits dominiert. Einig sind sich beide darin, Migration primär anhand ihrer Nützlichkeit für den Staat und die Sozialsysteme zu bewerten. Liberale Einwanderungspolitik dagegen baut auf der Überzeugung auf, dass das Ideal der Offenen Gesellschaft nicht an der Staatsgrenze endet.

In einer Publikationsreihe der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist kürzlich der Sammelband „Offene Grenzen? Chancen und Herausforderungen der Migration” erschienen, herausgegeben von Annette Siemes, Referentin am Liberalen Institut, und Clemens Schneider, mit einem Vorwort von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Der Band lässt sich auf den Seiten der Naumann-Stiftung kostenfrei herunterladen oder bestellen!

Migration und Mehrheitsgesellschaft: Das Spannungsfeld von Selbstschutz und Offenheit

Sabine Beppler-Spahl fragt, weshalb so viele Menschen in den Industriestaaten der Einwanderung gegenüber skeptisch bleiben, obwohl die wirtschaftlich positiven Folgen der Immigration in der Wissenschaft kaum umstritten sind. Es ist die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität und der eigenen Werte, die Einwanderungskritiker wie Thilo Sarrazin (“Deutschland schafft sich ab”) oder den britischen Politiker Nigel Farage (“I’d rather be poorer with fewer immigrants.”) so populär macht. Einwanderung bringt Neues, Anstrengendes mit sich und führt nicht selten dazu, dass längst gelöst geglaubte Grundsatzfragen wieder neu diskutiert werden, wie die Debatten um ein mögliches Burka-Verbot zeigen.

Am Beispiel der USA zeigt die Autorin auf, dass Einwanderung nicht mit dem Verlust alter Identitäten einhergehen muss, sondern – im Gegenteil – das Leben und Selbstverständnis der Einheimischen sogar bereichern kann. Doch was unterscheidet die historischen USA vom heutigen Deutschland (und auch von den heutigen Vereinigten Staaten)? Integration sei nicht als Staatsaufgabe angesehen worden, Migration geschah nicht vordringlich unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit und die selbstsichere amerikanische Kultur – der American “Way of Life” – wirkte auf die Immigranten ungeheuer anziehend. Doch heute werde der Umbau Deutschlands zur Einwanderungsgesellschaft als technokratisches Elitenprojekt wahrgenommen, vorbei am Bürger und dessen Wünschen.

Es sei wichtig, zu diesem Schluss kommt die Autorin, dass die Einwanderungspolitik demokratisiert und die Interessen der Abgehängten wieder ernst genommen werden: “Darf eine Bevölkerung also entscheiden, die Grenzen des eigenen Landes zu schließen? Ja, das darf sie.” Aber damit sie es nicht tut, müssen die Befürworter einer Welt offener Grenzen ihre guten Argumente stärker in die Debatte einbringen. Es ist ein Fehler, sich nur auf die wirtschaftlichen Vorzüge verstärkter Einwanderung zu konzentrieren. Stattdessen muss der Einwanderer selbst in den Mittelpunkt der Debatte rücken, denn in letzter Konsequenz geht um persönliche Freiheit: “Menschen dort festzuhalten, wo sie durch Zufall geboren wurden, erinnert an die feudalen Fesseln des Mittelalters, das persönliche Mobilität kaum ermöglichte.”

Offene Grenzen und institutioneller Wandel

Kalle Kappner schildert die Rolle, die offene Grenzen als menschenrechtspolitisches Instrument einnehmen können. Den westlichen Staaten sei daran gelegen, ihr Modell der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Offenen Gesellschaft zu verbreiten und vormoderne Gesellschafts- und Staatsformen die Unterstützung zu entziehen. Doch die Rolle, die freie Migration bei der Beseitigung von Diktaturen und Unrechtsstaaten einnehmen könne, werde stark unterschätzt. Dabei habe sich die Abwanderung (oder deren Androhung) als Druckinstrument unterdrückter Bevölkerungsschichten historisch bewährt und sei auch aktuell in vielen Fällen viel wirkungsvoller als der Versuch, der herrschenden Elite demokratische Mitbestimmungsrechte abzuringen.

Staaten mit extraktiven Institutionen, in denen eine politische Elite die persönliche Bereicherung als oberstes Staatsziel ansieht, seien zum Wandel gezwungen, wenn ihrer Bevölkerung die Möglichkeit zur Abwanderung geboten werde: “Um ihre Privilegien zumindest teilweise zu retten, müssen sie die Institutionen inklusiver gestalten, sodass die Abwanderung für ihre Untertanen relativ weniger lohnenswert erscheint.” Individuelle internationale Mobilität könne so einen gesunden Systemwettbewerb in Gang bringen; Schon die Androhung der Emigration könne in vormodernen Gesellschaften einen Wandel vorantreiben.

Doch die geschlossenen Grenzen der westlichen Staaten mit ihren attraktiven Staatsmodellen nehmen den Opfern von Diktatur und Unrecht ihr wichtigstes Druckinstrument. Die Weltgesellschaft ist geschlossen. Das Recht der internationalen Mobilität ist nicht nur äußerst ungleich verteilt; Ausgerechnet die Bürger der unfreisten Länder haben auch die geringsten Auswanderungsmöglichkeiten. Ein Ausbau des Asylrechts könne hier keine Abhilfe schaffen, denn dieses habe ganz andere, auf individuelle Schicksale konzentrierte Ziele. Stattdessen müssten offene Grenzen zukünftig bewusst als Instrument der Menschenrechtspolitik eingesetzt werden – nicht um eine globale Völkerwanderung auszulösen, sondern um weltweit Anreize zur Modernisierung und Demokratisierung zu schaffen.

Nation: Fiktion und Konstruktion

Clemens Schneider analysiert  in seinem Beitrag das Konzept der Nation, dessen philosophische Grundlagen und die Überhöhung des Nationalstaates zum metaphysischen, mit einem eigenen Willen und mit Souveränität ausgestatteten Geschöpf. Die Nation habe ihren Ursprung im archaischen Stammesdenken und in der unzulässigen Übertragung von für Kleingruppen angemessenen Regeln und Idealen auf die große Gesellschaft. Der exklusive, auf den Schutz einer homogenen Gemeinschaft ausgelegte Nationalstaat lebe von der “falsche[n] Erwartung, dass die Großgruppe dasselbe Maß und dieselbe Art von Altruismus und Solidarität gewährleisten kann wie die Kleingruppe”.

Als weitere Quelle des Nationalismus sei auch der Rückzug der Religiosität auszumachen, der das Vakuum für den Nationalstaatsglauben schaffe. Auch das populäre Konzept der sogenannten Kulturnation sei bei genauerer Betrachtung kaum von ethnisch-rassistisch begründeten Abgrenzungskriterien zu unterscheiden. Der Wohlfahrtsstaat in seiner derzeitigen Ausprägung schließlich stütze den Nationalismus, denn er mache Abgrenzung und Exklusivität zwingend erforderlich. Die wenig bequeme Schlussfolgerung lautet: “Nationalismus und Sozialismus sind Zwillingsbrüder.”

Dass der Nationalstaat nicht ohne Alternative ist, zeige die Geschichte: Historisch seien alle zivilisierten Staaten inklusiv verfasst gewesen, wie der Verfasser mit Karl Popper feststellt. Persien, Rom, das britische Weltreich, all diesen Staaten ging es um territoriale Expansion und nicht um ethnische Exklusivität: “Weil inklusive Staaten stets auf Ausweitung zielen, ist nicht Abgrenzung das Charakteristikum dieser Staaten, sondern ein verhältnismäßig hohes Maß an Toleranz gegenüber anderen Kulturen.” Heute sei das Konzept des Nationalstaates auf dem absteigenden Ast, Staatlichkeit müsse zukünftig ohne Nation gedacht werden. Dazu bedürfe es einer Rückbesinnung auf die eigentlichen, nicht metaphysisch überhöhten Funktionen des Staates: “Ein Staat, der sich auf die Durchsetzung der Herrschaft des Rechts und die Sicherung der Freiheit und Unversehrtheit seiner Bürger konzentriert, ist ein Staat, der für jeden zugänglich sein kann. Er könnte die moderne, non-imperialistische Variante des inklusiven Staates sein.”

Offene Gesellschaft? Deutschland als Zuwanderungs- und Einwanderungsland

Annette Siemes liefert in einem abschließenden Beitrag einen Überblick über die derzeit stattfindende Migration nach Deutschland und die EU, erläutert rechtliche Grundlagen der Einwanderung und des Asyls, beschreibt die Bedeutung und Zusammensetzung von Migranten in Deutschland und schneidet kontroverse Themen wie das Wahlrecht, die Religionsausübung, Parallelgesellschaften, das fragwürdige Ideal der deutsche Leitkultur und die Erfolge und Misserfolge der Integrationspolitik an. Abschließend skizziert sie, wie eine liberale Reform des deutschen Einwanderungsrechtes aussehen könnte.

Dreh- und Angelpunkt der Immigration sei das deutsche Grundgesetz, das nicht nur Offenheit für Einwanderer nahelege, sondern auch für Immigranten eine fundamentale Bedeutung einzunehmen habe: “Grundbedingung für einen liberalen Integrationsbegriff ist somit immer die Kenntnis des Grundgesetzes und die Respektierung der Gesetze, die bürgerlichen Freiraum gewährleisten.” Der liberale Rechtsstaat habe kulturelle Gewohnheiten und Sitten, ja auch Kleidungsstile zu tolerieren, solange diese nicht mit dem Grundgesetz und den darauf aufbauenden gesetzlichen Grundlagen kollidieren. Fragen des Geschmacks seien nicht politisch zu lösen, sondern in der Zivilgesellschaft auszudiskutieren. Ein wichtiges und distinktives Ziel liberaler Einwanderungspolitik ist also die Begrenzung der Rolle des Staates – sowohl was die Selektion von Einwanderern als auch deren Integration und Entfaltung angeht.

Das Asylrecht müsse ausgebaut und stärker in kommunale Verantwortung gelegt werden, die EU-weiten Regelungen diesbezüglich seien stark reformbedürftig. Einwanderern solle zukünftig mittels eines kommunalen Wahlrechts, der doppelten Staatsbürgerschaft und einer Einbürgerungsperspektive nach vier Jahren Aufenthalt auch die politische Bindung an ihre neue Heimat ermöglicht werden, denn der Einwanderer sei als politisch befähigtes und gleichberechtigtes Mitglied des Gemeinwesens und nicht als fremdes und lediglich zu tolerierendes Element wahrzunehmen: “Ein dauerhafter Lebensmittelpunkt bedingt einen Anspruch auf Partizipation und Repräsentation. Wo langfristig gearbeitet wird, wo Steuern und Sozialabgaben gezahlt werden, ist eine höhere Identifikation mit der Gesellschaft zu erwarten. Dieser Identifikation muss eine Gesellschaft freier Bürger mit stärkeren politischen Rechten begegnen.”

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog Offene Grenzen am 17. März 2015.

Die Debatten um Bildung werden oft sehr einseitig geführt: es geht in aller Regel um mehr höhere Bildung. Man könnte bisweilen den Eindruck gewinnen, dass das Wohl der Kinder und Jugendlichen weniger im Fokus steht als die Durchsetzung der eigenen gesellschaftlichen Vorstellungen.

Bildungschancen – nicht Bildungszwang

Seit Jahrzehnten jagt eine Bildungsreform die andere. Nachdem zunächst seit den 60er Jahren an Schulen herum experimentiert worden war, rückten die Universitäten und Hochschulen im Laufe der 90er Jahre immer mehr in das Licht der Öffentlichkeit. Erklärtes Ziel der Reformen war es, mehr Akademiker hervorzubringen. Und hier liegt schon der fundamentale Denkfehler. Leute wie Ralf Dahrendorf forderten in der Diskussion vor fünfzig Jahren mehr Bildungschancen. Also die Möglichkeit, dass Menschen Zugang zu höherer Bildung bekommen, die es bis dahin sehr schwer hatten: Frauen, Arbeiterkinder, junge Menschen vom Land. Im Handumdrehen wurde aber aus der Möglichkeit eine Notwendigkeit.

Bereits der Vordenker vieler Bildungsreformen, Georg Picht, sah im Abitur die Norm und das (Mindest-)Maß aller Dinge. Dem haben sich weitere Gruppen angeschlossen: Die OECD, die in diesem Bereich seit langem mit ihren hochpolitisierten Standards und Vorgaben Deutschland im Nacken sitzt. Übereifrige Konzernchefs, die die Bachelor-Konkurrenz aus den USA und Großbritannien fürchten. Und natürlich wohlmeinende Politiker und Aktivisten aus dem linken Spektrum. Sie alle wollen mehr Abiturienten produzieren, mehr Studenten, mehr Hochschulabsolventen.

Gerechtigkeit ist nur individuell zu haben

Zugrunde liegt der Sehnsucht der Linken nach mehr Abiturienten eine pauschale Gerechtigkeitsvorstellung. Diese Vorstellung geht davon aus, dass Gerechtigkeit darin besteht, jeden gleich zu behandeln. Doch so funktioniert Gerechtigkeit nicht in einer Welt voller Individuen. Jeder Mensch hat unterschiedliche Fähigkeiten, Bedürfnisse, Qualitäten. Wenn man unter diesen Bedingungen alle gleich behandelt, verhindert man vor allem eines: dass Menschen richtig behandelt werden. Vollständige Gerechtigkeit wird nie zu erreichen sein. Aber auf jeden Fall wird man Menschen besser gerecht, wenn man sich den Einzelfall anschaut, als wenn man ein Einheitsrezept für alle herausgibt.

Was heißt das für die bildungspolitischen Debatten? Natürlich ist es eine große Errungenschaft, dass heute Frauen, Arbeiterkinder oder junge Menschen vom Land sehr viel leichter Zugang zu höherer Bildung haben als vor fünfzig Jahren. Aber die höhere Bildung ist nicht immer die richtige und passende Bildung. Inzwischen haben etwa 50 % eines Jahrgangs das Abitur. Das ist eine Verzehnfachung gegenüber 1950. Es ist vielleicht nicht völlig abwegig, zu hinterfragen, ob nicht unter diesen Abiturienten viele sind, die auch mit einer soliden Ausbildung erfolgreich und glücklich hätten werden können. Dass diese Frage schon beinahe als Beleidigung wahrgenommen wird, liegt vor allem an intellektueller Überheblichkeit.

Intellektuelle Überheblichkeit

Wir Menschen neigen dazu, uns selbst als Maßstab zu nehmen. Wer ein Weltbild hat, das vom Individuum als bestimmender Größe ausgeht, neigt vielleicht ein klein bisschen weniger dazu, weil er zumindest im Grundsatz anerkennt, dass der andere eben anders ist. Ob er besser oder schlechter ist, Besseres oder Schlechteres tut, kann tatsächlich nur rein subjektiv beurteilt werden – die objektive Sicht gibt es wohl nur in eng begrenzten ethischen Fragen. Darüber hinaus sicher nicht. Anders sehen das diejenigen, die sich schwer tun mit dem Blick auf das Individuum und die eher in Kollektiven denken. Für sie gibt es „mich“ oder „uns“ und „die“. Und das „ich“ oder „wir“ ist der Maßstab, nach dem sich „die“ zu richten haben.

Weil viele von ihnen wohlmeinende Menschen sind, wollen Linke oft das Beste für alle. Da sie aber dazu neigen, sich selbst zum Maßstab zu nehmen, glauben sie auch, dass dieses Beste ist, wenn man so wird wie sie. Und da sie ein Abitur haben, meist auch ein Studium absolviert haben, halten sie diesen Lebensentwurf für den objektiv besten. Oft ohne es zu wollen, legen sie dabei eine erschreckende Überheblichkeit an den Tag. Denn wer fordert, dass mehr Leute ein Abitur machen müssen, sagt damit implizit der Bürokauffrau, dem Schreinergesellen und dem Straßenbauarbeiter, dass sie und ihre Tätigkeit weniger wert sind. Sie wären nämlich besser dran, wenn sie studiert hätten.

„Die Bauernverbände der Neu-Akademiker“

Der Wert einer Arbeit hängt aber nicht notwendigerweise von der Qualifikation des Ausführenden ab. Und der Wert des Menschen selbst erst recht nicht. Das Abitur macht Menschen nicht glücklicher oder besser. Und, ja, auch ein volleres Portemonnaie ist noch kein Garant für Zufriedenheit. Wer glaubt, dass ein Abitur automatisch auch mehr Chancen bedeutet, vertritt letztlich ein materialistisches Weltbild. Glücklich macht nicht der dicke Gehaltsscheck oder der Doktortitel. Glücklich macht eine erfüllende Arbeit, die zu einem passt. Und glücklich machen darüber hinaus ganz besonders menschliche Beziehungen.

Ralf Dahrendorf beschrieb die Advokaten einer pauschalen Bildungsexpansion in einem Interview im Jahr 2008 als „die Bauernverbände der Neu-Akademiker“. Sie verteidigen ihre eigene Welt, die sie zum Maßstab für alle machen, mit derselben Vehemenz wie die Agrarlobby. Und in ihrer Verbissenheit übergehen sie diejenigen, deren Begabungen nicht darauf ausgerichtet sind, das Gymnasium zu besuchen. Wahrscheinlich werden jedes Jahr Zehntausende von jungen Menschen durch diesen Abitur-Automatismus in die Universitäten gespült, die ihre Fähigkeiten anderswo viel besser einsetzen könnten. Das ist aber genau das Gegenteil der klassenlosen Gesellschaft, die ja angeblich das Ziel sein soll. Klassenlos ist eine Gesellschaft erst dann, wenn jedes Individuum zählt. Wenn der Wert eines Menschen nicht durch seine Zugehörigkeit zur Klasse der „höher Gebildeten“ definiert wird. Der Abitur-Automatismus führt so nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern oft genug zu weniger.

Photo: Wonderlane from Flickr