Von Kalle Kappner, ehemaliger Mitarbeiter von Frank Schäffler im Bundestag, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin und Research Fellow bei IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues.

Die Debatte um Einwanderung, Integration und Flüchtlingspolitik wird von fortschrittspessimistischen Schwarzmalern einerseits und faktenresistenten Romantikern andererseits dominiert. Einig sind sich beide darin, Migration primär anhand ihrer Nützlichkeit für den Staat und die Sozialsysteme zu bewerten. Liberale Einwanderungspolitik dagegen baut auf der Überzeugung auf, dass das Ideal der Offenen Gesellschaft nicht an der Staatsgrenze endet.

In einer Publikationsreihe der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist kürzlich der Sammelband „Offene Grenzen? Chancen und Herausforderungen der Migration” erschienen, herausgegeben von Annette Siemes, Referentin am Liberalen Institut, und Clemens Schneider, mit einem Vorwort von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Der Band lässt sich auf den Seiten der Naumann-Stiftung kostenfrei herunterladen oder bestellen!

Migration und Mehrheitsgesellschaft: Das Spannungsfeld von Selbstschutz und Offenheit

Sabine Beppler-Spahl fragt, weshalb so viele Menschen in den Industriestaaten der Einwanderung gegenüber skeptisch bleiben, obwohl die wirtschaftlich positiven Folgen der Immigration in der Wissenschaft kaum umstritten sind. Es ist die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität und der eigenen Werte, die Einwanderungskritiker wie Thilo Sarrazin (“Deutschland schafft sich ab”) oder den britischen Politiker Nigel Farage (“I’d rather be poorer with fewer immigrants.”) so populär macht. Einwanderung bringt Neues, Anstrengendes mit sich und führt nicht selten dazu, dass längst gelöst geglaubte Grundsatzfragen wieder neu diskutiert werden, wie die Debatten um ein mögliches Burka-Verbot zeigen.

Am Beispiel der USA zeigt die Autorin auf, dass Einwanderung nicht mit dem Verlust alter Identitäten einhergehen muss, sondern – im Gegenteil – das Leben und Selbstverständnis der Einheimischen sogar bereichern kann. Doch was unterscheidet die historischen USA vom heutigen Deutschland (und auch von den heutigen Vereinigten Staaten)? Integration sei nicht als Staatsaufgabe angesehen worden, Migration geschah nicht vordringlich unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit und die selbstsichere amerikanische Kultur – der American “Way of Life” – wirkte auf die Immigranten ungeheuer anziehend. Doch heute werde der Umbau Deutschlands zur Einwanderungsgesellschaft als technokratisches Elitenprojekt wahrgenommen, vorbei am Bürger und dessen Wünschen.

Es sei wichtig, zu diesem Schluss kommt die Autorin, dass die Einwanderungspolitik demokratisiert und die Interessen der Abgehängten wieder ernst genommen werden: “Darf eine Bevölkerung also entscheiden, die Grenzen des eigenen Landes zu schließen? Ja, das darf sie.” Aber damit sie es nicht tut, müssen die Befürworter einer Welt offener Grenzen ihre guten Argumente stärker in die Debatte einbringen. Es ist ein Fehler, sich nur auf die wirtschaftlichen Vorzüge verstärkter Einwanderung zu konzentrieren. Stattdessen muss der Einwanderer selbst in den Mittelpunkt der Debatte rücken, denn in letzter Konsequenz geht um persönliche Freiheit: “Menschen dort festzuhalten, wo sie durch Zufall geboren wurden, erinnert an die feudalen Fesseln des Mittelalters, das persönliche Mobilität kaum ermöglichte.”

Offene Grenzen und institutioneller Wandel

Kalle Kappner schildert die Rolle, die offene Grenzen als menschenrechtspolitisches Instrument einnehmen können. Den westlichen Staaten sei daran gelegen, ihr Modell der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Offenen Gesellschaft zu verbreiten und vormoderne Gesellschafts- und Staatsformen die Unterstützung zu entziehen. Doch die Rolle, die freie Migration bei der Beseitigung von Diktaturen und Unrechtsstaaten einnehmen könne, werde stark unterschätzt. Dabei habe sich die Abwanderung (oder deren Androhung) als Druckinstrument unterdrückter Bevölkerungsschichten historisch bewährt und sei auch aktuell in vielen Fällen viel wirkungsvoller als der Versuch, der herrschenden Elite demokratische Mitbestimmungsrechte abzuringen.

Staaten mit extraktiven Institutionen, in denen eine politische Elite die persönliche Bereicherung als oberstes Staatsziel ansieht, seien zum Wandel gezwungen, wenn ihrer Bevölkerung die Möglichkeit zur Abwanderung geboten werde: “Um ihre Privilegien zumindest teilweise zu retten, müssen sie die Institutionen inklusiver gestalten, sodass die Abwanderung für ihre Untertanen relativ weniger lohnenswert erscheint.” Individuelle internationale Mobilität könne so einen gesunden Systemwettbewerb in Gang bringen; Schon die Androhung der Emigration könne in vormodernen Gesellschaften einen Wandel vorantreiben.

Doch die geschlossenen Grenzen der westlichen Staaten mit ihren attraktiven Staatsmodellen nehmen den Opfern von Diktatur und Unrecht ihr wichtigstes Druckinstrument. Die Weltgesellschaft ist geschlossen. Das Recht der internationalen Mobilität ist nicht nur äußerst ungleich verteilt; Ausgerechnet die Bürger der unfreisten Länder haben auch die geringsten Auswanderungsmöglichkeiten. Ein Ausbau des Asylrechts könne hier keine Abhilfe schaffen, denn dieses habe ganz andere, auf individuelle Schicksale konzentrierte Ziele. Stattdessen müssten offene Grenzen zukünftig bewusst als Instrument der Menschenrechtspolitik eingesetzt werden – nicht um eine globale Völkerwanderung auszulösen, sondern um weltweit Anreize zur Modernisierung und Demokratisierung zu schaffen.

Nation: Fiktion und Konstruktion

Clemens Schneider analysiert  in seinem Beitrag das Konzept der Nation, dessen philosophische Grundlagen und die Überhöhung des Nationalstaates zum metaphysischen, mit einem eigenen Willen und mit Souveränität ausgestatteten Geschöpf. Die Nation habe ihren Ursprung im archaischen Stammesdenken und in der unzulässigen Übertragung von für Kleingruppen angemessenen Regeln und Idealen auf die große Gesellschaft. Der exklusive, auf den Schutz einer homogenen Gemeinschaft ausgelegte Nationalstaat lebe von der “falsche[n] Erwartung, dass die Großgruppe dasselbe Maß und dieselbe Art von Altruismus und Solidarität gewährleisten kann wie die Kleingruppe”.

Als weitere Quelle des Nationalismus sei auch der Rückzug der Religiosität auszumachen, der das Vakuum für den Nationalstaatsglauben schaffe. Auch das populäre Konzept der sogenannten Kulturnation sei bei genauerer Betrachtung kaum von ethnisch-rassistisch begründeten Abgrenzungskriterien zu unterscheiden. Der Wohlfahrtsstaat in seiner derzeitigen Ausprägung schließlich stütze den Nationalismus, denn er mache Abgrenzung und Exklusivität zwingend erforderlich. Die wenig bequeme Schlussfolgerung lautet: “Nationalismus und Sozialismus sind Zwillingsbrüder.”

Dass der Nationalstaat nicht ohne Alternative ist, zeige die Geschichte: Historisch seien alle zivilisierten Staaten inklusiv verfasst gewesen, wie der Verfasser mit Karl Popper feststellt. Persien, Rom, das britische Weltreich, all diesen Staaten ging es um territoriale Expansion und nicht um ethnische Exklusivität: “Weil inklusive Staaten stets auf Ausweitung zielen, ist nicht Abgrenzung das Charakteristikum dieser Staaten, sondern ein verhältnismäßig hohes Maß an Toleranz gegenüber anderen Kulturen.” Heute sei das Konzept des Nationalstaates auf dem absteigenden Ast, Staatlichkeit müsse zukünftig ohne Nation gedacht werden. Dazu bedürfe es einer Rückbesinnung auf die eigentlichen, nicht metaphysisch überhöhten Funktionen des Staates: “Ein Staat, der sich auf die Durchsetzung der Herrschaft des Rechts und die Sicherung der Freiheit und Unversehrtheit seiner Bürger konzentriert, ist ein Staat, der für jeden zugänglich sein kann. Er könnte die moderne, non-imperialistische Variante des inklusiven Staates sein.”

Offene Gesellschaft? Deutschland als Zuwanderungs- und Einwanderungsland

Annette Siemes liefert in einem abschließenden Beitrag einen Überblick über die derzeit stattfindende Migration nach Deutschland und die EU, erläutert rechtliche Grundlagen der Einwanderung und des Asyls, beschreibt die Bedeutung und Zusammensetzung von Migranten in Deutschland und schneidet kontroverse Themen wie das Wahlrecht, die Religionsausübung, Parallelgesellschaften, das fragwürdige Ideal der deutsche Leitkultur und die Erfolge und Misserfolge der Integrationspolitik an. Abschließend skizziert sie, wie eine liberale Reform des deutschen Einwanderungsrechtes aussehen könnte.

Dreh- und Angelpunkt der Immigration sei das deutsche Grundgesetz, das nicht nur Offenheit für Einwanderer nahelege, sondern auch für Immigranten eine fundamentale Bedeutung einzunehmen habe: “Grundbedingung für einen liberalen Integrationsbegriff ist somit immer die Kenntnis des Grundgesetzes und die Respektierung der Gesetze, die bürgerlichen Freiraum gewährleisten.” Der liberale Rechtsstaat habe kulturelle Gewohnheiten und Sitten, ja auch Kleidungsstile zu tolerieren, solange diese nicht mit dem Grundgesetz und den darauf aufbauenden gesetzlichen Grundlagen kollidieren. Fragen des Geschmacks seien nicht politisch zu lösen, sondern in der Zivilgesellschaft auszudiskutieren. Ein wichtiges und distinktives Ziel liberaler Einwanderungspolitik ist also die Begrenzung der Rolle des Staates – sowohl was die Selektion von Einwanderern als auch deren Integration und Entfaltung angeht.

Das Asylrecht müsse ausgebaut und stärker in kommunale Verantwortung gelegt werden, die EU-weiten Regelungen diesbezüglich seien stark reformbedürftig. Einwanderern solle zukünftig mittels eines kommunalen Wahlrechts, der doppelten Staatsbürgerschaft und einer Einbürgerungsperspektive nach vier Jahren Aufenthalt auch die politische Bindung an ihre neue Heimat ermöglicht werden, denn der Einwanderer sei als politisch befähigtes und gleichberechtigtes Mitglied des Gemeinwesens und nicht als fremdes und lediglich zu tolerierendes Element wahrzunehmen: “Ein dauerhafter Lebensmittelpunkt bedingt einen Anspruch auf Partizipation und Repräsentation. Wo langfristig gearbeitet wird, wo Steuern und Sozialabgaben gezahlt werden, ist eine höhere Identifikation mit der Gesellschaft zu erwarten. Dieser Identifikation muss eine Gesellschaft freier Bürger mit stärkeren politischen Rechten begegnen.”

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog Offene Grenzen am 17. März 2015.

0 Kommentare

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert