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Photo: Michael Panse from Flickr. (CC BY-ND 2.0)

Der 4. September ist ein geschichtsträchtiger Tag. 1989 fand an diesem Tag die erste Montagsdemonstration in Leipzig statt, die entscheidend zum Sturz des DDR-Regimes beigetragen hat. Auch der 4. September 2015 ist ein geschichtsträchtiger Tag. Er könnte das Ende der Amtszeit von Angela Merkel einläuten. Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann und seine deutsche Kollegin Angela Merkel haben an diesem Tag den entscheidenden Schritt getan, den in Ungarn festsitzenden Flüchtlingen die Einreise nach Deutschland und Österreich zu erlauben. Das war eine fatale Entscheidung. Es ist viel spekuliert worden, was die beiden zu diesem Schritt bewogen hat. Bei Angela Merkel war es vielleicht die kleine Palästinenserin Reem, die Anfang Juli im so genannten Bürgerdialog der Kanzlerin in Rostock weinend von der drohenden Abschiebung ihrer Familie berichtete. Merkel konnte nur tröstende Worte finden. Die eigene Hilflosigkeit könnte ihr Schlüsselerlebnis gewesen sein?

Die eigenmächtige Entscheidung der beiden Regierungs-Chefs vom 4. September hebelte jedoch das Dubliner Abkommen, also verbindliches europäisches Recht, endgültig aus. Es war zwar schon vorher löchrig wie ein Schweizer Käse, aber seit diesem Tag schicken nahezu alle Staaten entlang der Balkan-Route die ankommenden Flüchtlinge ohne Registrierung direkt nach Österreich und diese wiederum nach Deutschland (und Schweden) weiter. Innerhalb von nicht einmal zwei Monaten (!) ist damit eine Situation entstanden, die dieses Land und seine staatlichen Ebenen an die Kapazitätsgrenze gebracht hat.

Was hier stattfindet ist keine Zuwanderung, wie sie klassische Einwanderungsländer kennen. Nicht der Arbeitsvertrag zwischen einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer ist die Grundlage für die Einwanderung, sondern der Wunsch der Migranten, in das Land einzuwandern, das die langwierigsten Asylverfahren und die höchsten Sozialleistungen hat. Das ist für den Einzelnen verständlich. Dennoch muss ein Gemeinwesen diesen ungebremsten Zuzug stoppen, weil die damit gesetzten Anreize sonst die Gesellschaft aus den Angeln heben.

Es ist auch kein Asylgrund, denn die Einreise erfolgt über sichere Drittstaaten. Und auch die Genfer Flüchtlingskonvention kennt keine unbegrenzte Einwanderung. Diese Einwanderung hat auch nichts mit dem Konzept offener Grenzen zu tun, für die ich sehr bin. Hier findet eine Einwanderung in das Sozialsystem statt, eben nicht in einen Arbeitsmarkt, der die Einwanderer erwartet, weil er sie sofort aufnehmen will und kann.

An Maßnahmen hat die Regierung jetzt ein Paket verabschiedet, das die Anreize des Sozialstaates und die Dauer der Asylverfahren reduziert. Das reicht jedoch nicht aus. Es muss klar sein, dass kein Einwanderer ohne Zustimmung des Gastlandes darauf bauen kann, vom Gastland versorgt zu werden. Denn kein Mensch kann aus seiner Not den Anspruch ableiten, sich das Sozialsystem seiner Wahl aussuchen zu dürfen. Diese Selbstverständlichkeit muss oberste Maxime des Regierungshandelns werden.

Um diese Maxime durchsetzen, muss Schengen wieder gelten. Wenn dies nicht durchgesetzt werden kann, dann sind Grenzkontrollen und die Zurückweisung von Einwanderern in die sicheren Drittstaaten, aus denen sie ausreisen wollen, die zwingende Folge. Auf Sicht kann die große Idee der Personenfreizügigkeit in Europa nur dann überleben, wenn die Teilnehmerstaaten die Außengrenzen kontrollieren und die finanziellen Lasten gerecht verteilt werden. Wer sich von den Teilnehmerstaaten daran nicht hält, der kann auch nicht die Vorteile der Personenfreizügigkeit in Anspruch nehmen. Er muss also in letzter Konsequenzen den Schengenraum verlassen.

Doch Angela Merkel wird diese Entwicklung nicht zurückdrehen können. Dafür war ihre Entscheidung zu weitreichend. Sie hat die Europäische Union erneut als Rechtsgemeinschaft ad absurdum geführt. Doch wenn die EU keine Rechtsgemeinschaft ist, dann ist sie der Mühe nicht wert. Dann hat sie keine Zukunft.

Deshalb wird Merkel dieses Ereignis nicht von ihrer politischen Zukunft trennen können. Das weiß sie. Daher macht sie erst gar keine Anstalten, auf die Kritik der bayrischen Schwesterpartei einzugehen. Spätestens bei den kommenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz am 13. März 2016 läuft die CDU jedoch Gefahr, von dieser Entwicklung eingeholt zu werden. Dann nimmt der Druck auf sie aus den eigenen Reihen noch mehr zu. Nicht ohne Grund kritisiert Schäuble sie bereits zwischen den Zeilen öffentlich. Er weiß, dass die Koalition in Gefahr ist, wenn die Kanzlerin nach den Landtagswahlen stürzt oder gestürzt wird. Und er weiß, dass Sigmar Gabriel dann sehr schnell auf dem Sprung zum Koalitionswechsel ist und eine linke Mehrheit, vielleicht auch nur mit Tolerierung der Linken, anstrebt. Es wäre aus Sicht Gabriels sicherlich attraktiver, als Kanzler in die Bundestagswahl 2017 zu gehen anstatt nur als Juniorpartner. Wahrscheinlich ist Schäuble in der Union der Einzige der dieses Szenario dann aufhalten kann. Dafür positioniert er sich gerade. Er ist ja ein alter Fuchs.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Tichys Einblick.

Photo: thanos tsimekas from Flickr. (CC BY 2.0)

Es gibt eine Renaissance liberalen Denkens in Deutschland. Das mag auf den ersten Blick verwundern. Eine große Koalition regiert dieses Land, eine liberale Partei fehlt im Parlament und auch sonst treibt der alltägliche Paternalismus überall seine Blüten. Überall reicht uns der Staat und die Regierung ihre klebrigen Hände, die man, sobald man zugegriffen hat, nie mehr los wird.

Dennoch ist dies nur das oberflächliche Bild. Wenn man etwas tiefer blickt, dann wird sehr schnell deutlich, dass es in Deutschland inzwischen eine breite Szene meist junger Menschen gibt, die sich liberalen, klassisch-liberalen und libertären Zielen verpflichtet fühlen. Das wird auch am kommenden Samstag wieder deutlich. Dann treffen sich in der Heidelberger Universität wahrscheinlich über 400 junge Menschen aus ganz Deutschland zur Regionalkonferenz der European Students for Liberty .

Diese weltweit tätige Studentenorganisation ist den Idealen einer offenen Gesellschaft verpflichtet. Die jungen Menschen halten die individuelle Freiheit hoch, schätzen die Marktwirtschaft, das private Eigentum und die Gleichheit vor dem Recht. Sie lesen Werke von Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises, weil sie zum Beispiel Antworten auf die Verwerfungen an den Finanzmärkten suchen, die sie im etablierten Lehrplan ihrer Hochschule nicht finden. Beide, Hayek und Mises, sind Freiheitsdenker der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, einer ökonomisch und philosophischen Denkrichtung des Liberalismus. Ihre heutigen Stars heißen Guido Hülsmann, Philipp Bagus, Thorsten Polleit und Stefan Kooths die jeder auf ihre Art, die Ideen der „Austrians“ weiterentwickeln, publizieren oder lehren.

Prof. Hülsmann lehrt in Frankreich, Prof. Bagus in Madrid, Prof. Polleit in Frankfurt und Prof. Kooths in Berlin. Letzterer, Stefan Kooths, ist neben seiner Tätigkeit als Leiter des Prognosezentrums des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel nicht nur Kurator beim Prometheus-Institut, sondern auch Initiator des neuen Studiengangs „Entrepeneurial Economics and Management“ an der privaten Business and Information Technology School (BITS) in Berlin. Erstmalig wird damit ein Masterstudiengang an einer deutschen Hochschule angeboten, der eine grundlegende Ausbildung im Bereich der „Austrian Economics“ ermöglicht. Eine wunderbare Entwicklung!

Thorsten Polleit ist Präsident des Ludwig von Mises-Instituts in Deutschland und Autor zahlreicher Bücher zu den Grundlagen der Geldpolitik und der Österreichischen Schule. Ebenso Philipp Bagus, der Prof. am Lehrstuhl von Jesús Huerta de Soto in Madrid ist. Und Guido Hülsmann ist einer der entscheidenden Wegbereiter der libertären Bewegung im deutschsprachigen Raum. Sein Buch „Die Ethik der Geldproduktion“ aus 2007 hat die grundlegende Probleme des heute vorherrschenden staatlichen Geldsystems vom Fundament her aufgearbeitet.

Daneben sind Vereinigungen wie die Hayek-Gesellschaft , Think Tanks wie Open Europe Berlin, IREF und Prometheus Teil dieses liberalen Blumenstraußes. Jeder trägt auf seine Art zur Blüte bei. Was alle vereint, ist ihre nichtstaatliche, also private Finanzierung. Es sind meist Unternehmerpersönlichkeiten, die die notwendigen Mittel bereitstellen. Diese vorausschauenden Unternehmer haben erkannt, wie wichtig die Veränderung des Denkens in einer Gesellschaft ist. Es geht um den Kampf der Ideen in einer Gesellschaft. Es ist eben kein Zufall, dass der Staat sich immer mehr in die Entscheidungsprozesse jedes Einzelnen einmischt. In den 1950er und 1960er Jahren haben die Linken mit der Forderung nach der Demokratisierung in allen Lebensbereichen den Marsch durch die Institutionen angetreten. Heute sind sie angekommen und bestimmen die Grundlage für das vorherrschende Denken in Deutschland. Seitdem ist die Kindererziehung, die Unternehmensführung, die Ernährung und vieles andere mehr, einer Mehrheitsentscheidung unterworfen. Diese freiheitszerstörende Entwicklung gilt es aufzuhalten und dauerhaft zu verändern. Dafür braucht es noch mehr Unterstützung – auch finanziell.

Das besondere an der liberalen Gegenbewegung  ist, dass sie von jungen Menschen getragen wird. Sie vergraben sich  nicht im akademischen Elfenbeinturm, sondern sie lesen wieder die Bücher von Hayek („Die Verfassung der Freiheit“, „Der Weg zur Knechtschaft“ oder „Die Entnationalisierung des Geldes“) oder von Ludwig von Mises („Human Action“, „Liberalismus“ „Vom Wert der besseren Ideen“ oder „Nationalökonomie“). Diese haben nichts an Aktualität und Attraktivität verloren, sondern werden sogar erneut aufgelegt. Mancher mag das zuweilen als Dogmatismus abtun und zugleich dem  prinzipienbasierten Handeln abschwören. Doch der deutsche Liberalismus ist bislang nie an seiner Standfestigkeit und Prinzipientreue gescheitert, sondern an den Zugeständnissen an die Sozialisten in allen Parteien. Die Prinzipien werden nur bei schönem Wetter hochgehalten. Sobald der Gegenwind kommt, es stürmt und hagelt, schwenkt man in den pragmatischen Weg ein. Doch das war und ist der Untergang des Liberalismus. Wer dies ändern will, muss ein breiteres Fundament in der Gesellschaft legen, das auch bei Sturm und Regen nicht aus den Angeln gerissen werden kann. Darum geht es – auch am Wochenende bei den Students for Liberty.

 

Photo: Liz west by Flickr (CC BY 2.0)

In der Flüchtlingsfrage gewinnt man zunehmend den Eindruck, dass nicht nur die Bundeskanzlerin überfordert ist, sondern der Staat und seine Institutionen insgesamt. Bei letzterem ist das nicht verwunderlich, denn die Anzahl der Flüchtlinge und ihr plötzliches Auftreten in Deutschland ist in dieser Dimension einmalig. Doch die Überforderung staatlicher Institutionen wird weiter anhalten, denn mit der Erstaufnahme ist es auf Dauer ja nicht getan. Egal wie die Bundesregierung jetzt auf europäischer Ebene handelt: die einladende Geste der Bundeskanzlerin, fernab jeden Rechtsbewusstseins, hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Deutschland steht als Wunschziel vieler Flüchtlinge an erster Stelle – wohl auch in absehbarer Zukunft.

Das wird den Wohlfahrtsstaat fordern, vielleicht sogar überfordern. Das muss aber nicht zum Nachteil sein, denn der aktuell Druck auf das deutsche Wohlfahrtsstaatsmodell offenbart nur die wachsende Schwäche dieses Systems. Das Wohlfahrtsstaatsmodell will gesellschaftliche Herausforderungen mit noch mehr Staat lösen: Mehr sozialer Wohnungsbau, mehr Arbeitsbeschaffungsprogramme und der Ausbau der Sozialindustrie. Diese absehbare Entwicklung wird das Land verändern – in die falsche Richtung. Denn die sozialen Brennpunkte in München, Berlin oder Frankfurt sind durch den sozialen Wohnungsbau erst entstanden. Dort wurde billiger Wohnraum mit staatlichen Subventionen und kommunalen Wohnungsunternehmen errichtet, deren Problem dann die Sozialindustrie – im wahrsten Sinne des Wortes – dauerhaft beschäftigt.

Doch eigentlich müßte jetzt das Gegenteil von Planwirtschaft gemacht werden – mehr Marktwirtschaft. Es braucht wieder einen Ordnungsrahmen, der die Initiative und die Kreativität des Einzelnen fördert und zulässt. Stattdessen steuert das Land mit einem planwirtschaftlichen Ansatz schnurstracks auf eine Staatsquote von bald 60 Prozent zu. Steuern werden dann auf breiter Front erhöht, das Verschuldungsverbot wird geschleift und die Sozialversicherungen drohen zu bersten.

Eigentlich sollte Deutschland die Herausforderungen als Chance begreifen, um den Staat, seine Allmachtsphantasien, seine Regelungsversessenheit, ja Regulierungssucht, zurückzudrängen. Stattdessen lassen die aktuell noch ökonomisch soliden Daten bei der Arbeitslosigkeit, bei der öffentlichen Verschuldung und bei den Einnahmen des Staates sämtliche Reformanstrengungen zum Erliegen kommen. Seit der kleinen und überschaubaren Liberalisierung der Fernbusse hat in Deutschland keine Liberalisierung und Marktöffnung mehr stattgefunden. Deutschland versinkt in Gefälligkeit und Lethargie.

Die hohe Zahl an Flüchtlingen in Deutschland sollte als Auslöser für eine ohnehin notwendige Rückbesinnung auf eine marktwirtschaftliche Ordnung und auf die Kraft des Einzelnen genutzt werden.

Konkret heißt dies für den Wohnungsmarkt: Aufhebung der Mietpreisbremse, Senkung der Grunderwerbsteuer, Entbürokratisierung der Bauordnungen und Liberalisierung des Mietrechtes.

Für den Arbeitsmarkt: Aufhebung des gesetzlichen Mindestlohnes, Aufhebung des gesetzlichen Kündigungsschutzes nach Schweizer Vorbildung, Anhebung der Verdienstgrenze für geringfügig Beschäftigte, Abschaffung des „Antidiskriminierungsgesetzes“, Abschaffung der Vorrangprüfung durch die Arbeitsagentur, Entrümpelung der Arbeitsstättenverordnung, Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes.

Für Existenzgründer: Zwangsmitgliedschaft in den Kammern beenden, Handwerksordnung liberalisieren, das Personenbeförderungsrecht befreien und den Zugang zu den Freien Berufen erleichtern.

Bei den Sozialversicherungen: Flexibler Renteneintritt mit Zielalter 67, Selbstbeteiligung in der gesetzlichen Krankenversicherung, Einführung des Kostenerstattungsprinzips in der gesetzlichen Krankenversicherung, Differenzierung in der Beitragserhebung bei gesetzlichen Krankenversicherungen durch die Abschaffung des Gesundheitsfonds, Privatisierung der gesetzlichen Unfallversicherung.

Bei den Steuern: Solidaritätszuschlag abschaffen, Stufentarif in der Einkommensteuer einführen, Mehrwertsteuerreform durch Vereinheitlichung und generelle Absenkung des Mehrwertsteuersatzes, Abschaffung des Rundfunkbeitrages, Zinsbereinigung bei der Unternehmensteuer einführen.

Öffentliche Finanzen: Privatisierung von Staatsbeteiligungen, Abschaffung des Länderfinanzausgleichs, Ausgaben- und Einnahmenkongruenz auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene durch eigene Steuerhoheit und Hebesatzrecht auf der jeweiligen Ebene unterhalb des Bundes und eine abschließenden Ausgabenverantwortung. Einführung eines Insolvenzrechts für Länder und Kommunen.

Mobilität: Wettbewerb auf der Schiene durch Trennung von Netz und Fahrbetrieb, Privatfinanzierung von Straßenneubauten, Planungsbeschleunigungsgesetz.

In der Bildungspolitik: Abschaffung des Numerus Clausus und Einführung individueller Eingangstest an Hochschulen, Zentralabitur durch Bildungsvielfalt und diverse Bildungszugänge ersetzen, Schuleinzugsbezirke abschaffen.

Mitwirkung: Einführung direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene nach Schweizer Vorbild.

Die Auseinandersetzung über den richtigen Weg der Integration vollzieht sich in den nächsten Monaten und Jahren entlang der Koordinaten mehr Staatswirtschaft oder mehr Marktwirtschaft. Wir sollten uns für die Marktwirtschaft entscheiden. Nur sie ist in der Lage, das notwendige Kapital für Arbeitsplätze, Wohnungen, Infrastruktur und Bildung bereitzustellen, das notwendig ist, um die Integrationsleistung gesellschaftlich zu bewältigen. Das erfordert Mut, weil es alte und lieb gewordene Zöpfe in Frage stellt. Doch wenn nicht jetzt, wann dann wäre der richtige Zeitpunkt? Es nützt auch nicht nur den vielen Flüchtlingen, aus der staatlichen Fürsorge zu entkommen, es nützt jedem Einzelnen in Deutschland, seine persönlichen Ziele und sein Lebensglück nach seinen eigenen Vorstellungen zu verwirklichen.

Denn kein Mensch, keine Gruppe, keine noch so demokratisch gewählte Mehrheit und auch kein Staat haben das Recht, Menschen zu zwingen, auf eine bestimmte Art und Weise glücklich zu sein.

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick

Photo: Gabriella Alu from Photo (CC BY-ND-ND 2.0)

Wir sind ein Volk der Regelungswut. Wir regeln nicht nur den Mehrwertsteuer bis in die letzte Verästelung und kommen zu der lebenswichtigen Unterscheidung, dass Schnittblumen mit 7 Prozent und Windeln mit 19 Prozent besteuert werden. Sondern wir legen auch in der Bauordnung fest, dass ein Fenster mindestens 90 mal 120 Zentimeter groß sein und in der Arbeitsstättenverordnung, ob ein Betriebsklo ein Fenster haben muss. Dennoch ist die Akzeptanz des Rechts in Deutschland ausgeprägter als in anderen Ländern. Auf Bahnhöfen stellen sich die Raucher brav in die gelbe Raucherzone auf dem Bahnsteig. Der Hausmüll wird trotz modernster Verbrennungstechnik immer noch ohne Sinn und Verstand bis zur Unkenntlichkeit getrennt. Und selbstverständlich wird am Sonntag nicht rasengemäht. Zuwiderhandlung wird angezeigt und ein fleißiger Beamter schreitet konsequent und entschlossen ein.

Es gibt derzeit etwa 250.000 staatliche Vorschriften, alleine seit der Deutschen Einheit sind 100.000 hinzugekommen. Damals stand die BRD noch für „BeinaheRegelungsDicht“. Inzwischen kann das „Beinahe“ guten Gewissens gestrichen werden. Bei uns wird geregelt was das Zeug hält. Es ist so eine Art Sport. Der schnellste Bürokrat gewinnt. Hinter jedem staatlichen „Empfehlung“ oder Verbot steht ein Gesetz, eine Verordnung oder Vorschrift.

Es stechen dann Geschichten aus der Masse heraus, wie die von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt. Seit 2007 existiert ein Rauchverbot im gesamten Gebäudekomplex des Bundestages. Helmut Schmidt ließ es sich dennoch nicht nehmen, in seinem Büro im Bundestag weiterhin zu rauchen. Zwar hat er jetzt mit 96 Jahren freiwillig mit dem Rauchen aufgehört, aber vom staatlichen Paternalismus ließ er sich zumindest als Individuum nicht anstecken.

Doch nicht nur Helmut Schmidt ist ein gutes Beispiel dafür, dass ein Erlass oder eine Verordnung nicht ausreichen, um den Willen der Regierung oder des Staates durchzusetzen. Recht muss letztlich überzeugen. Nur wenn es allgemein akzeptiert ist, wird es auch angewandt. Wenn Bürger merken, dass das Gesetz nicht gerecht ist, wenden sie sich ab. Recht wird dann geschleift, umgangen oder schlicht nicht angewandt. Viele Entwicklungs- und Schwellenländer sind hierfür ein gutes Beispiel. Recht wird als Willkürakt einer korrupten Elite verstanden, die sich den Staat zur Beute macht.

Doch Verhalten wird von Regierung und Staat nicht nur durch Gesetze und Verordnungen gesteuert, sondern inzwischen viel subtiler. Es sind psychologische Tricks aus der Verhaltensforschung, die Einzug halten in den alltäglichen Regierungsbetrieb. Dieses „Anstupsen“ oder neudeutsch „Nudging“ ist die vermeintlich weichere Form des Paternalismus. Der Bürger soll mit bestimmten Psychomethoden zu einem bestimmten Verhalten „angestupst“ werden. Dazu bedarf es dann keiner Verbote oder Steuervorteile mehr, sondern der richtigen Werbekampagne. Hierzu hat die Bundeskanzlerin kürzlich eine eigene Arbeitsgruppe im Kanzleramt eingerichtet und der inzwischen für Verbraucherschutz zuständige Justizminister Heiko Maas zeigt sich begeistert von den Möglichkeiten des Nudgings. Schon jetzt geht die Regierung nicht mehr vom Leitbild des „mündigen Verbrauchers“ aus. Deshalb werden jetzt staatliche „Marktwächter“ eingestellt, die den Verbraucher anstupsen und an die Hand nehmen, damit dieser die richtigen Entscheidungen trifft. Weniger Zucker für die Zahngesundheit, weniger Fleisch gegen das Cholesterin, Bilder dunkler Raucherlungen für die Nikotinabstinenz oder Wassersparen für die Sahelzone. Nudging ist die Allzweckwaffe der Gutmenschen. Derer, die ihren Lebensentwurf anderen aufzwingen wollen. Derer, die absolut Wissen, wie die Zukunft aussieht, wie die „Volksgesundheit“ verbessert werden und die Regenwälder im Amazonas von Deutschland aus gerettet werden können.

Doch Nudging ist nicht so harmlos wie es auf den ersten Blick erscheint. Es ist eine Manipulation des Denkens, das den einzelnen und eine Gesellschaft mißbraucht. Es gaukelt ein höheres moralisches Ziel vor, es schafft das Selbstdenken ab und ersetzt es durch eine kollektive Regierungsmeinung. Wir sollten vorsichtig mit diesen historisch belasteten Methoden sein. Bestimmte Normen und Verhaltensweisen, die heute mehrheitlich als richtig empfunden werden, stellen sich vielleicht in einigen Jahren als vollkommen falsch heraus. Es ist die Anmaßung von Wissen, die so fatal ist. Dieses umfassende Wissen haben keine Bundeskanzlerin, kein Justizminister und keine Parlamentsmehrheit. Stellen wir dem Nudging den Wettbewerb der Ideen entgegen. Nur dieser Wettbewerb der Ideen kann zeigen, welche Pläne falsch sind.

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 12.9.2015.

Photo: ResouteSupportMedia from Flickr (CC BY 2.0)

Die Anschläge vom 11. September erschütterten die ganze Welt. Auch 14 Jahre später stellt sich die Frage, ob Bin Laden nicht mehr Erfolge erzielen konnte, als uns bewusst und lieb ist. Denn die größte Bedrohung der Offenen Gesellschaft ist die Angst.

Die Terroristen lachen sich in ihre blutige Faust

Wer London besucht, kann den Eindruck bekommen, in einem riesigen Filmstudio unterwegs zu sein – so viele Kameras hängen dort in der ganzen Stadt. In Paris patrouillieren Polizisten mit Maschinenpistolen. Die „Stadt der Liebe“ präsentiert sich inzwischen an manchen Ecken als „Stadt der Furcht“. Die Vereinigten Staaten überziehen die ganze Welt mit einem Netz von Beobachtung und Schnüffelei. Fluggastdaten, Telefondaten, Bankdaten – alles Mögliche wird gespeichert, gescreant und überwacht. Eine ganze Reihe von Kriegen wurde im Namen der Terrorismusbekämpfung begonnen – von westlichen Staaten wie auch von Russland oder China. Sicherheitsunternehmen machen aus der Angst ein großes Geschäft. Geheimdienste, Militär und Polizei nutzen sie, um beständig ihre Kompetenzen und ihr Budget auszuweiten. Und die Terroristen lachen sich währenddessen in ihre blutige Faust.

Die Angst vor dem Terror ist natürlich nicht völlig irreal. Von Madrid über London bis Paris ist er gegenwärtig. Wachsamkeit und ein effektiver Sicherheitsapparat sind unabdingbar, um Leben zu schützen. Dennoch darf man nie aus dem Auge verlieren, dass Terrorismus zwei Ziele verfolgt. Das eine Ziel ist sehr offensichtlich: Menschen umzubringen und dem Feind substantiell zu schaden. Das andere Ziel erklärt sich aus der Herkunft des Wortes: Terror bedeutet auf Lateinisch Angst und Schrecken. Gesellschaften und Staaten, die durch Terrorismus bedrängt werden, finden sich also in einem Dilemma wieder: Man möchte natürlich Menschenleben schützen. Sobald man dazu aber Sicherheitsapparat und Überwachungsstaat ausbaut, gibt man den Terroristen genau das, was sie wollen: Angst. Der Schrecken, den sie verbreiten, diktiert dann unser Handeln.

Angst bringt uns dazu, die Offene Gesellschaft zu verraten und aufzugeben

Terroristen haben keine Armeen außer der schleichenden Angst, die eine Gesellschaft durchsetzt. Sie wollen keine Gebiete erobern außer die Hirnregionen, die bei uns Beklemmung und Furcht, Unsicherheit und Misstrauen hervorrufen. Ihr Ziel ist es nicht, eines Tages auf dem Kanzleramt, dem Weißen Haus und der Downing Street ihre Fahne zu hissen. Ihr Ziel ist es, unsere Gesellschaft zu zerstören. Sie verachten den Individualismus, das Konzept der Selbstbestimmung und die Offene Gesellschaft, die diese Vorstellungen umsetzt. Und sie begreifen, dass es die Angst ist, die uns dazu bringt, die Offene Gesellschaft zu verraten und aufzugeben. Kürzlich erschien eine Untersuchung der R+V Versicherung, die zeigte, dass die Angst vor Terrorismus in Deutschland im letzten Jahr um 13 Prozentpunkte auf 52, und damit von Platz 8 auf Platz 2 hochgeschnellt ist.

Angst führt dazu, dass sich die Waage in dem beständig schwelenden Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit stark in Richtung Sicherheit neigt. Sicherheit kostet Freiheit. Je stärker der Terror unsere Sicherheit in Frage stellt, einen umso höheren Preis an Freiheit sind viele bereit zu zahlen. Und so zersetzt der Terrorismus Stück für Stück unsere Gesellschaft, erstickt unsere Sehnsucht nach Freiheit. Die stärkste Waffe der Terroristen liegt nicht in ihren Händen, sondern in unseren Herzen und Köpfen.

Ein wachsames Auge auf diejenigen, die für die Sicherheit sorgen (sollen)

Angesichts des Islamischen Kalifats, das sich im Vorderen Orient ausbreitet, angesichts der Attentate in Paris und angesichts der steigenden Zahl an Salafisten auch in unserem Land mag dies eine gewagte Forderung sein. Aber es geht um unsere Freiheit: Wir müssen die Tätigkeit unserer Sicherheitsapparate im Westen beschränken und zurückschneiden. Insbesondere die Parlamentarier sind aufgerufen, ihre Aufgabe als Überwacher der Überwacher ernst zu nehmen. Aber auch jeder einzelne Bürger muss immer wieder prüfen, ob er den Sicherheitsversprechen glauben will. Denn bei weitem nicht alles, das als notwendig deklariert wird, ist es auch wirklich. Auch Politik, Polizei, Militär und Nachrichtendienste haben handfeste Eigeninteressen.

Der Krieg gegen den Terror wird natürlich auch durch den Sicherheitsapparat geführt. Er wird aber nicht vom Sicherheitsapparat gewonnen. Gewinnen können ihn nur die Menschen in den bedrohten Ländern: Indem sie sich nicht in Angst und Schrecken versetzen lassen. Indem sie die Werte ihrer Offenen Gesellschaft verteidigen. Und dazu gehört ganz wesentlich, ein wachsames Auge zu haben auf diejenigen, die für die Sicherheit sorgen (sollen). Allzu rasch verwischt die Grenze zwischen dem, was der Sicherheit dient, und dem, was der Machtsicherung staatlicher Einrichtungen dient. Wenn wir in der Konsequenz des 11. September und ähnlicher Ereignisse einen Überwachungs- und Kriegs-Staat ausbauen, dann hat Bin Laden am Ende doch noch gewonnen. Wenn wir jedoch unsere Politik, überhaupt unser Zusammenleben nicht von Angst und Schrecken bestimmen lassen, sondern von Mut und Vertrauen auf die Offene Gesellschaft, dann haben wir am Ende den Sieg davon getragen.