Photo: Michael Panse from Flickr. (CC BY-ND 2.0)
Der 4. September ist ein geschichtsträchtiger Tag. 1989 fand an diesem Tag die erste Montagsdemonstration in Leipzig statt, die entscheidend zum Sturz des DDR-Regimes beigetragen hat. Auch der 4. September 2015 ist ein geschichtsträchtiger Tag. Er könnte das Ende der Amtszeit von Angela Merkel einläuten. Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann und seine deutsche Kollegin Angela Merkel haben an diesem Tag den entscheidenden Schritt getan, den in Ungarn festsitzenden Flüchtlingen die Einreise nach Deutschland und Österreich zu erlauben. Das war eine fatale Entscheidung. Es ist viel spekuliert worden, was die beiden zu diesem Schritt bewogen hat. Bei Angela Merkel war es vielleicht die kleine Palästinenserin Reem, die Anfang Juli im so genannten Bürgerdialog der Kanzlerin in Rostock weinend von der drohenden Abschiebung ihrer Familie berichtete. Merkel konnte nur tröstende Worte finden. Die eigene Hilflosigkeit könnte ihr Schlüsselerlebnis gewesen sein?
Die eigenmächtige Entscheidung der beiden Regierungs-Chefs vom 4. September hebelte jedoch das Dubliner Abkommen, also verbindliches europäisches Recht, endgültig aus. Es war zwar schon vorher löchrig wie ein Schweizer Käse, aber seit diesem Tag schicken nahezu alle Staaten entlang der Balkan-Route die ankommenden Flüchtlinge ohne Registrierung direkt nach Österreich und diese wiederum nach Deutschland (und Schweden) weiter. Innerhalb von nicht einmal zwei Monaten (!) ist damit eine Situation entstanden, die dieses Land und seine staatlichen Ebenen an die Kapazitätsgrenze gebracht hat.
Was hier stattfindet ist keine Zuwanderung, wie sie klassische Einwanderungsländer kennen. Nicht der Arbeitsvertrag zwischen einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer ist die Grundlage für die Einwanderung, sondern der Wunsch der Migranten, in das Land einzuwandern, das die langwierigsten Asylverfahren und die höchsten Sozialleistungen hat. Das ist für den Einzelnen verständlich. Dennoch muss ein Gemeinwesen diesen ungebremsten Zuzug stoppen, weil die damit gesetzten Anreize sonst die Gesellschaft aus den Angeln heben.
Es ist auch kein Asylgrund, denn die Einreise erfolgt über sichere Drittstaaten. Und auch die Genfer Flüchtlingskonvention kennt keine unbegrenzte Einwanderung. Diese Einwanderung hat auch nichts mit dem Konzept offener Grenzen zu tun, für die ich sehr bin. Hier findet eine Einwanderung in das Sozialsystem statt, eben nicht in einen Arbeitsmarkt, der die Einwanderer erwartet, weil er sie sofort aufnehmen will und kann.
An Maßnahmen hat die Regierung jetzt ein Paket verabschiedet, das die Anreize des Sozialstaates und die Dauer der Asylverfahren reduziert. Das reicht jedoch nicht aus. Es muss klar sein, dass kein Einwanderer ohne Zustimmung des Gastlandes darauf bauen kann, vom Gastland versorgt zu werden. Denn kein Mensch kann aus seiner Not den Anspruch ableiten, sich das Sozialsystem seiner Wahl aussuchen zu dürfen. Diese Selbstverständlichkeit muss oberste Maxime des Regierungshandelns werden.
Um diese Maxime durchsetzen, muss Schengen wieder gelten. Wenn dies nicht durchgesetzt werden kann, dann sind Grenzkontrollen und die Zurückweisung von Einwanderern in die sicheren Drittstaaten, aus denen sie ausreisen wollen, die zwingende Folge. Auf Sicht kann die große Idee der Personenfreizügigkeit in Europa nur dann überleben, wenn die Teilnehmerstaaten die Außengrenzen kontrollieren und die finanziellen Lasten gerecht verteilt werden. Wer sich von den Teilnehmerstaaten daran nicht hält, der kann auch nicht die Vorteile der Personenfreizügigkeit in Anspruch nehmen. Er muss also in letzter Konsequenzen den Schengenraum verlassen.
Doch Angela Merkel wird diese Entwicklung nicht zurückdrehen können. Dafür war ihre Entscheidung zu weitreichend. Sie hat die Europäische Union erneut als Rechtsgemeinschaft ad absurdum geführt. Doch wenn die EU keine Rechtsgemeinschaft ist, dann ist sie der Mühe nicht wert. Dann hat sie keine Zukunft.
Deshalb wird Merkel dieses Ereignis nicht von ihrer politischen Zukunft trennen können. Das weiß sie. Daher macht sie erst gar keine Anstalten, auf die Kritik der bayrischen Schwesterpartei einzugehen. Spätestens bei den kommenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz am 13. März 2016 läuft die CDU jedoch Gefahr, von dieser Entwicklung eingeholt zu werden. Dann nimmt der Druck auf sie aus den eigenen Reihen noch mehr zu. Nicht ohne Grund kritisiert Schäuble sie bereits zwischen den Zeilen öffentlich. Er weiß, dass die Koalition in Gefahr ist, wenn die Kanzlerin nach den Landtagswahlen stürzt oder gestürzt wird. Und er weiß, dass Sigmar Gabriel dann sehr schnell auf dem Sprung zum Koalitionswechsel ist und eine linke Mehrheit, vielleicht auch nur mit Tolerierung der Linken, anstrebt. Es wäre aus Sicht Gabriels sicherlich attraktiver, als Kanzler in die Bundestagswahl 2017 zu gehen anstatt nur als Juniorpartner. Wahrscheinlich ist Schäuble in der Union der Einzige der dieses Szenario dann aufhalten kann. Dafür positioniert er sich gerade. Er ist ja ein alter Fuchs.