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Photo: Iain Farrell (CC BY-ND 2.0)

Die deutsche Regierung ist schnell dabei, den mangelnden Reformwillen der Krisenstaaten in Europa anzumahnen. Doch oftmals ist es gut, wenn man erstmal vor der eigenen Türe kehrt und nicht die gleichen Fehler macht, die die anderen in die Krise gestürzt haben. Es sind zwei wesentliche Gründe, weshalb die Südstaaten im Euro-Raum seit Jahren eine Wachstumsschwäche aufweisen. Es ist zum einen der aufgeblähte Staatsapparat, der die Ausgaben, die Bürokratie und die Staatsverschuldung in die Höhe schnellen lässt und es sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die den jeweiligen Standort für Investoren aus dem eigenen Land und von außen unattraktiv macht. Beides führt dazu, dass die Euro-Staaten in der Summe inzwischen eine öffentliche Verschuldung von über 90 Prozent ihrer gemeinsamen Wirtschaftsleistung  vorzuweisen haben. Und die Wirtschaftleistung liegt immer noch unter dem Niveau des Jahres 2007, als die Finanzkrise abrupt eintrat.

Hier ist Deutschland relativ gesehen immer noch besser dran. Die Staatsverschuldung liegt leicht über dem Maastricht-Kriterium von 60 Prozent. Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit ist niedrig und der Beschäftigungsstand hoch. Doch der Abstand schwindet. Dies hat Ursachen und diese liegen in den Rahmenbedingungen, die die Regierung, aber auch die Tarifpartner in Deutschland setzen.

Erstmalig seit vielen Jahren werden im nächsten Jahr die Sozialversicherungsbeiträge wieder auf über 40 Prozent steigen. Dies obwohl die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten mit über 31 Millionen noch nie so hoch war. Eigentlich müssten sowohl die Rentenversicherung, als auch Kranken- und Pflegeversicherung gut mit den gestiegenen Einnahmen zurechtkommen.  Doch das Gegenteil ist der Fall. Ihre Beiträge steigen. Der Grund ist politisch gewollt. Neue Ausgabegesetze führen dazu. Allein zwischen 2014 und 2019 wurden Leistungserweiterungen von 87 Milliarden Euro beschlossen. Jetzt schlägt Andrea Nahles vor, die Ostrenten den Westrenten anzugleichen. Das mag alles wohl begründet und vielleicht auch sinnvoll sein. Doch bei Pflege-, Kranken- und Rentenversicherung wird auf Seiten der Politik nie gefragt, ob einer Leistungserweiterung auf der einen Seite, vielleicht an einer anderen Stelle eine Leistungseinschränkung möglich und erforderlich ist. Es wird immer draufgesattelt, als fiele das Geld vom Himmel und müsste nicht erarbeitet werden.

Die deutsche Regierung mahnt in Europa auch Reformen am Arbeitsmarkt an. Die EU drängt Griechenland dazu, den Arbeitsmarkt flexibler und den gesetzlichen Mindestlohn zu reduzieren. Beides gilt als Beschäftigungshindernis für junge und unqualifizierte Arbeitskräfte. Mindestlöhne sind in diesen Ländern Eintrittsbarrieren in den Arbeitsmarkt. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, Portugal und Griechenland sind erschreckende Beispiele dafür. In Deutschland wurde gerade in dieser prekären Phase ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt, der im nächsten Jahr sogar noch erhöht wird.

Vielleicht ist es ein kluges Zeichen in der richtigen Zeit, wenn die renommierte Ludwig-Erhard-Stiftung ihren Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik in diesem Jahr an Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder verleiht. Seine Arbeitsmarktreformen sind heute noch wegweisend. Sie liegen aber auch schon 13 Jahre zurück. Deutschland darf sich auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen. Die Grundlage des Wohlstands von morgen wird heute geschaffen. Wer wüsste das besser als jener Ludwig Erhard, der in einer Regierungserklärung 1963 sagte: „Es gibt keine Leistungen des Staates, die sich nicht auf Verzichte des Volkes gründen.“

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 30. Juli 2016.

Photo: spline splinson from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Erneut sind es die Banken, die die Finanzkrise in Europa auf die Tagesordnung setzen. Dieses Mal sind es die italienischen Institute. Sie schieben faule Kredite in Höhe von 367 Milliarden Euro vor sich her, die nicht mehr oder nicht regelmäßig von den Kreditnehmern bedient werden. Das ist kein Pappenstil, sondern bedrohlich für Italien und die gesamte Eurozone. Denn dies entspricht rund 22 Prozent aller Kredite, die italienische Banken an ihre Kunden ausgereicht haben. Deutsche Banken rechnen in ihrer Kalkulation mit Ausfällen von maximal 3 Prozent. Daran sieht man, wie groß die Probleme des Bankensektors in Italien sind. Doch nicht nur in Italien. Französische Banken haben ihrerseits italienischen Banken Kredite von über 200 Milliarden Euro gewährt. Kommen die italienischen Banken in Schieflage, trifft es im gleichen Moment die französischen. Diesen Dominoeffekt fürchten die Regierungschefs und die Zentralbanker mit gutem Grund.

Bislang rechtfertigte ein solches Szenario immer staatliche Intervention. Das war bei Lehman 2008 so, und auch bei der Griechenland-Krise 2010. Immer wurde mit dem Überspringen der Krise auf andere Länder und auf das gesamte Finanzsystem argumentiert, und die Hilfe durch die Steuerzahler und die Notenbanken so gerechtfertigt. Deshalb wird es auch dieses Mal wieder so sein. Man sollte daher nicht den Beruhigungspillen glauben, die die EU-Kommission und die EZB verteilen. Sie behaupten, dass mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM und dem Bankenabwicklungsregime die Stabilität eingezogen sei. Beide Systeme funktionieren im Erstfall nicht. Der ESM reicht in seinem Volumen nicht aus, und die Gläubiger und Eigentümer der Banken werden im Erstfall nicht substantiell herangezogen.

Beide Instrumente dienten nur der Marktberuhigung. Selbst dies war nur von geringem Erfolg, denn faktisch hat die Intervention der EZB nur zur vorübergehenden Beruhigung geführt. Ihre Intervention in den Schuldenmarkt ist nur ein Spiel auf Zeit. Sie kauft seit geraumer Zeit Schulden in Form von Staats- und Unternehmensanleihen auf. Das Geld, das sie dafür verwendet, hat niemand erarbeitet, sondern Mario Draghi, der EZB-Chef, geht bildlich gesprochen in den Keller und schmeißt die Druckerpresse an. Er manipuliert den Geldwert und hofft, dass es keiner merkt. Die Folge dieser Manipulation ist die Vernichtung des Zinses auf Schulden jeglicher Art, die aber gleichzeitig zur Austrocknung dieses Marktes führt. Es gibt nur noch wenige Nachfrager nach Staats- und Unternehmensanleihen, der mit Abstand größte ist die EZB. Das geht eine gewisse Zeit gut, aber funktioniert nicht auf Dauer. Der Zins ist ein zentraler Indikator in einer Marktwirtschaft. Er macht Risiken sichtbar und gibt dem Investitions- und Konsumverzicht einen Preis. Wer heute sein Geld nicht investiert oder konsumiert, sondern diesen Prozess in die Zukunft verlegt, will für diesen Verzicht einen Preis, den Zins, erwirtschaften. Gibt es diesen Zins nicht mehr, dann konsumiert jeder nur noch oder investiert in Projekte, in die er sonst nie investiert hätte. Die Marktwirtschaft wird so pervertiert. Sie wird aus ihren Grundfesten gehoben.

Wahrscheinlich wird die EZB Teile der faulen Kredite der Banken aufkaufen. Das würde zwar gegen die Europäischen Verträge und gegen das deutsche Grundgesetz verstoßen, doch es gibt keinen Widerstand mehr gegen diesen fortgesetzten Rechtsbruch. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat in seinem jüngsten Urteil zum Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB sämtliche Segel gestrichen. Jetzt ist der Brexit vielleicht der äußere Anlass für die EZB, bei den italienischen Banken und vielleicht auch noch bei anderen einzugreifen. Die EZB handelt nur noch nach dem Motto: Nach uns die Sintflut. Vielfach wir in der Politik über Nachhaltigkeit diskutiert und diese eingefordert – bei der Rente, bei den Schulden und bei der Umwelt. Bei der eigenen Währung glaubt man nur an das Jetzt und Heute. Doch nur wenige Währungen können sich rühmen, wirklich nachhaltig zu sein. Die meisten Währungen sind Geschichte.

Erstmals veröffentlicht in der Fuldaer Zeitung am 16. Juli 2016.

Photo: Justin Ennis from Flickr (CC BY 2.0)

Von Franco Debenedetti, Unternehmer, ehemaliges Mitglied des italienischen Senats und Präsident unseres Partnerinstituts „Istituto Bruno Leoni„.

Die italienische Bankenkrise bedarf gerade eines deutlichen Zwischenrufs: Das Ausmaß der Artikel und Interviews, in Zeitungen und Blogs, die sich darüber auslassen, was zu tun und was zu lassen sei, ist zu einem Punkt gekommen, an dem es nötig ist, eine Einordnung vorzunehmen.

Die widersprüchlichen Argumente

Sie reduzieren sich letztlich darauf, dass man sich einerseits die „ever closer union“ ersehnt, die Fiskalunion und die Vereinigten Staaten von Europa, während man sich andererseits dafür ausspricht, die Maastricht-Kriterien aufzuweichen und die Vorschriften der Bankenunion nicht zu befolgen. Die EU hat keine Verfassung, sie hat keine eigene politische Geschichte – sie hat nur ihre Verträge. Auf der Website der EU liest man: „Die Europäische Union basiert auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Das bedeutet, dass jede Tätigkeit der EU auf Verträgen beruht“. Ohne Verträge gibt es keine EU. Es ist ein Widerspruch, wenn man mehr Europa will, aber gleichzeitig das Europa von 1992 untergräbt, den ersten großen Schritt nach vorn, und auch die zwanzig Jahre später als lang ersehnten zweiten Schritt begrüßte Bankenunion.

Die kontraproduktiven Argumente

Eine Lawine … Manche argumentieren, es gebe natürlich die Banca Monte dei Paschi di Siena – aber es gebe ja auch die Deutsche Bank. Es gebe unsere Staatshilfen, aber auch die der anderen. Es wird erklärt, dass unser Problem nur Ausdruck eines viel größeren Problems sei. Und dann endet man mit dem Vorwurf an die Obrigkeiten, die unsere Forderungen beurteilen werden, unaufmerksam oder parteiisch zu sein. Faule Kredite seien etwas Anderes als Derivate; frühere Kritikpunkte hätten mit der jetzigen Situation nichts zu tun. Wenn man immer auf die Fehler der anderen hinweist, kann es sein, dass man irgendwann dazu ermahnt wird, einmal wieder auf die eigenen zu Blicken: vernichtetes Kapital, subventioniertes Wachstum, verschlechterte Kredite – es gibt genug Schwachpunkte.

Es ist kontraproduktiv, dem Brexit die Schuld zu geben: Ein Ereignis, das beweist, wie wichtig es ist, dass die Banken ausreichend Kapitalausstattung haben, um Schocks zu überstehen, kann nicht angeführt werden, um ein Auge zuzudrücken gegenüber denjenigen, die nicht ausreichend Kapital haben. Das gleiche gilt für die Umstellung von nachrangigen Anleihen in den Händen institutioneller Inverstoren in Aktien: Manch einer sagt, das könne man nicht machen, weil es den europäischen Markt für nachrangige Anleihen in Panik versetzen würde. Doch wenn das so wäre, dann würde das bedeuten, dass die Investoren nicht daran glauben, dass die Direktive je angewandt würde. Eine Einladung an die Obrigkeit, im Fall der Bank aus Siena unnachgiebig zu sein, um ganz Europa zu beweisen: wir meinen es ernst.

Die peinlichen Argumente

Manche erwarten ein Moratorium bei der Anwendung der Bail-in-Klauseln. Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie die Probleme, die damit verbunden sein können, erst erkannt haben als sie nicht mehr theoretisch, sondern real waren. Dasselbe gilt auch für die Rettungen mit öffentlichem Kapital aus Deutschland (jemand sagt auch aus Großbritannien, als ob es Teil der Bankenunion wäre). Ist es ein Zeichen von Vorausschau oder auch nur Klugheit, immer stolz behauptet zu haben, man brauche das nicht?

Die fehlenden Argumente

Allenthalben hört man Beschwerden, dass den Italienern die ökonomische Bildung fehle, aber keiner spricht aus, wer in seiner Pflicht scheitert, diese zu ermöglichen. Das fängt bei der ersten Lektion an: Was für den einen eine Unterstützung ist, ist für den anderen eine Ausgabe, die von jemandem finanziert werden muss – entweder heute mit Steuern oder morgen mit den Zinszahlungen auf neue Schulden. Es scheint, dass die vier Banken (von Marche, Ferrara, Etruria, Chieti), die Ende 2015 pleite gingen, für 500 Millionen verkauft werden können? Ihre Rettung hat 1500 Millionen gekostet. Die Differenz wird den Interbanken-Fonds mit Garantien bezahlen, mithin also die Einleger in Form von geringerer Güte der Garantien. Falls es dem Fond Atlante nicht gelingen sollte, die großzügig bewerteten Bankenkredite zurückzugewinnen, dann wäre das ein Geschenk an die Bankaktionäre. Bezahlt würde das von dem Geld, das aus den Banken und Rentenkassen genommen wurde. Und die letzte Lektion lautet: Im Nachhinein führen diese Rettungen notwendigerweise in eine Situation des „moral hazard“. Sie laden Banken und Banker ein, weiterzumachen wie bisher. Schließlich bezahlt die Rechnung am Ende doch ein anderer.

„La mala educaciòn“ – Die schlechte Erziehung

Wenn der Interessenkonflikt der Regierungen nicht ans Licht gebracht wird. Sie haben in zweifacher Hinsicht ein Interesse daran, zu intervenieren und die Banken zu retten. Einerseits stoßen sie auf Zuspruch, weil sie „ein Problem gelöst“ haben und sie legen sich die Instrumente bereit, um das in Zukunft wieder zu tun. Indem sie als Kapitalgeber der Banken fungieren, gewinnen sie andererseits Gewicht im Prozess der Kreditvergabe, wenn es um Gelegenheiten der „Problemlösung“ geht, die öffentliches Interesse auf sich ziehen: sei es bei der Rettung des Stahlherstellers Ilva, beim Breitbandausbau oder beim Fonds „Atlante“. Dass die ökonomischen Interessen der „Geretteten“ gegebenenfalls nicht mit ihrem politischen Votum über ihren „Retter“ Renzi übereinstimmen, ist auch ein Widerspruch. Von allen, die wir hier gesehen haben, aber vielleicht der harmloseste.

Erstmals erschienen in der Zeitung „Il Foglio quotidiano“ und veröffentlicht auf dem Blog von Franco Debenedetti, eigene Übersetzung.

Verletzte Polizisten, brennende Autos und bundesweite Aufmerksamkeit. Was die Hausbesetzer in der Rigaer Straße in Berlin und ihre Mitkämpfer veranstalten, kann es eigentlich nur in einem marktwirtschaftlichen System geben. Überall sonst würde gnadenlos niedergeknüppelt.

Perfide Selbstinszenierung als „Widerstand“

Im Internet feiern sich die Hausbesetzer der Rigaer Straße 94 als „Teil des radikalen Widerstandes gegen Verdrängung und Vertreibung“. Sie sprechen von „Belagerung“ und „polizeilicher Besetzung“ (privat scheint das in Ordnung zu gehen) und drohen, „Berlin ins Chaos zu stürzen“. Jeder, der halbwegs bei Sinnen ist, findet dieses groteske Schauspiel abstoßend. Die hass- und wuterfüllte Rhetorik und die sich daraus ergebende Gewalt unterscheidet sich nur in den Parolen und Feindbildern vom gewaltbereiten Rechtsradikalismus – phänotypisch sind sie sich zum Verwechseln ähnlich.

Widerstand – das ist ein schwerwiegendes Wort, gerade in dieser Stadt. Wenn der Berliner sich eine Vorstellung davon machen möchte, was Widerstand bedeutet, kann er in die Gedenkstätte Plötzensee fahren, wo die Nationalsozialisten im Akkord Widerstandskämpfer an Fleischerhaken gehängt haben (unter anderem auch einen früheren Bewohner des besetzten Hauses: Ernst Pahnke). Oder man kann nach Hohenschönhausen fahren, wo einem ehemalige Insassen des Stasi-Gefängnisses aus erster Hand die Zelle zeigen können, in der sie Jahrelang eingesperrt waren, weil sie einen Witz über Walter Ulbricht weitererzählt hatten. Widerstand – davon können die Menschen in Russland berichten oder in den sozialistischen Vorzeigestaaten Kuba und Venezuela.

In Venezuela wäre das Haus längst geräumt

Mit Widerstand hat das Treiben der Linksextremen rund um die Rigaer Straße nichts zu tun. Widerstand kann gegen ein Unrechtsregime nötig, vielleicht sogar geboten sein. Die Zeiten, in denen die Rigaer Straße auf dem Gebiet einer Diktatur liegt, sind allerdings seit 26 Jahren zum Glück vorüber. Das sollte auch den Hausbesetzern klar sein: Gerade erst haben sie vom Landgericht Berlin Recht bekommen mit ihrer Beschwerde gegen den letzten Versuch einer Zwangsräumung. Ein solcher Vorgang wäre vollkommen undenkbar in einem Unrechtsstaat. Seit Ende der 90er Jahre widersetzen sich Bewohner des Hauses einer Räumung. Welche venezolanische Polizei, welche Stasi-Einheit oder gar welcher kubanische oder nordkoreanische Funktionär hätte wohl einem solchen Treiben über anderthalb Jahrzehnte so geduldig zugesehen?

Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist die mit Abstand langmütigste und toleranteste Staatsform, die man sich denken kann. In keinem der von vielen dieser Linksradikalen so hochgejubelten sozialistischen Staat der Welt wäre ein solcher „Widerstand“ so lange geduldet worden – heute nicht und früher erst recht nicht. Dass die Besetzer und ihre Mitstreiter weder brutal niedergeknüppelt noch wochenlang ohne Prozess eingesperrt werden, liegt daran, dass wir in unserer Gesellschaft eine Kultur friedlicher Konfliktlösungen etabliert haben – mit Demokratie, Rechtsstaat und Offener Gesellschaft. Ein ganz wichtiges Fundament dieser Kultur ist jene Marktwirtschaft, die der Hauptfeind der Hausbesetzer ist.

Marktwirtschaft, Demokratie und Rechtsstaat bedingen sich

Die Marktwirtschaft als System hat sich erst im Laufe der letzten vier- bis fünfhundert Jahre etabliert. Die Vorstellung, dass man in größerer Dimension Handel treiben könne, ohne von politischen Autoritäten dabei gesteuert oder zumindest kontrolliert zu werden, hatte es natürlich schwer, sich gegenüber diesen Autoritäten durchzusetzen. Durchgesetzt hat sie sich aber ganz offensichtlich und zum Glück dann doch. Fast immer mit Kompromissen und Zugeständnissen – doch selbst die Autokraten Chinas haben inzwischen eingesehen, dass dieses System freiwilliger Kooperation einer Planwirtschaft offenbar überlegen ist. Mit der Einführung der Marktwirtschaft geht aber mehr einher als nur ökonomische Effizienz.

Grundsätzlich sind gewalttätige Konflikte für das Funktionieren des Marktes immer schädlich – Friedfertigkeit und gewaltfreie Konfliktlösung erhöhen signifikant die Profitmöglichkeiten aller Marktteilnehmer. Schon aus praktischen Gründen ist ein demokratisches System mit der Marktwirtschaft kompatibler als mit einer Planwirtschaft, der Gewalt oft als einziges Mittel bleibt, um den Plan durchzuführen. Auch der Rechtsstaat und die Marktwirtschaft bedingen einander: Marktprozesse profitieren in hohem Maße von Rechtssicherheit. Das Interesse, das die Marktakteure an dieser Rechtssicherheit haben, ist eine Lebensgarantie für den Rechtsstaat.

Die Zivilisation des Vertrauens

Und schließlich kann die Marktwirtschaft auch zu Friedfertigkeit und Toleranz erziehen und ein Motor der Offenen Gesellschaft sein. Die Marktwirtschaft ermöglicht es uns, aus der kleinen Gruppe unserer unmittelbaren familiären Umgebung herauszukommen. Nicht mehr die gemeinsame Arbeit der kleinen Gruppe garantiert unser Überleben, sondern der Austausch mit zunächst fremden Personen. Diese Tauschprozesse aber erzeugen ein ganz neues Vertrauen: aus dem Fremden, der meine Ressourcen bedroht, wird ein Partner. Diese Zivilisation des Vertrauens steht im krassen Gegensatz zu dem Misstrauen, das zwischen den Horden vor vielen Jahrtausenden herrschte; das die Epoche des Feudalismus und der Leibeigenschaft prägte; das im Absolutismus und Nationalismus der Neuzeit präsent war; und das bis in die jüngste Vergangenheit die Länder unter kommunistischer Herrschaft heimsuchte.

Die Verachtung, die die Hausbesetzer diesem „System“ entgegenbringen, ist beschämend. Sie verdanken es einzig diesem System, dass sie Gerichte anrufen können, Brandstifter einen ordentlichen Prozess erhalten und eine freie Presse ihnen eine Bühne bietet, die eigentlich die Freiwillige Feuerwehr oder ehrenamtliche Flüchtlingshelfer verdient hätten. Was für eine Ironie: All das verdanken sie nicht zuletzt der Marktwirtschaft.

Photo: Katrin Gilger from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Der britische Finanzminister George Osborne hat nach der Brexit-Entscheidung angekündigt, dass Großbritannien die Unternehmensteuern senken werde, um die Attraktivität des Standortes auf der Insel zu erhöhen. Schon sprechen die Ersten von Steuerdumping und einem Wettbewerb nach unten, der ruinös für die jeweiligen Staatsfinanzen sei.

Doch mit dem Vorstoß Osbornes wird ein wesentlicher Vorteil des Brexits für Großbritannien deutlich. Sie gewinnen erheblich an Souveränität hinzu. Gerade das war ein entscheidendes Argument der Brexit-Befürworter. Die bisherige Entwicklung in der EU geht seit Jahren in die entgegengesetzte Richtung. Dort hält man einen Systemwettbewerb für grundfalsch. Dort will man die Unterschiede in den Steuersystemen, in den Sozialsystemen und in der Fiskalpolitik nivellieren. Seit Jahren versucht die EU-Kommission als Vorstufe die Mehrwertsteuersätze zu harmonisieren und die Bemessungsgrundlage für die Unternehmensteuern anzugleichen, um später mit einheitlichen Steuersätzen gänzlich die Unterschiede abzuschaffen.

Als Begründung wird dafür gerne das Bild des Rosinenpickens verwandt. Dahinter steckt der Vorwurf, dass sich hier Einzelne zu Lasten der Solidargemeinschaft bereichern würden. Auch Angela Merkel verwendet dieses gängige Bild, wenn sie den Briten zuruft: „Wir werden sicherstellen, dass die Verhandlungen nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei geführt werden.“ Egal ob die Briten Mitglied der EU sind oder nicht, wollen sie in den Binnenmarkt exportieren, dann müssen sie die wettbewerbsfeindlichen Regeln akzeptieren, oder sie bleiben draußen vor der Tür. So die einfache Logik der Kanzlerin.

Deshalb stellt sich auch Jean-Claude Juncker nicht selbst in Frage, sondern zieht aus dem Brexit-Votum den Schluss, die Europäische Union müsse nun noch intensiver und noch schneller die Zentralisierung vorantreiben und die letzten Reste eines Wettbewerbs der Ideen beseitigen. Manche meinen schon, Juncker habe den Schuss nicht gehört. Aber vielleicht kann er auch nicht anders in seinem schwankenden Elfenbeinturm.

Doch der Wettbewerb der Systeme ist gut für alle Teilnehmer, denn Fehler werden viel früher erkannt als ohne ihn. Das Herausgreifen von Vorteilen und deren Stärkung ist ebenfalls gut und richtig. Auch hier findet ein Lernprozess aller anderen statt. Sie können sich plötzlich an den Besten orientieren und ihnen nacheifern. Plötzlich werden alle zu Rosinenpickern. Die Marktwirtschaft ist im Grunde eine Ordnung des Rosinenpickens. Jeder Unternehmer und jeder Kunde macht tagein tagaus nichts anderes, als Vorteile für sich zu suchen. Warum sollte in einer auf Freiwilligkeit basierenden Ordnung jemand von sich aus bewusst Chancen auslassen und dafür Strafen in Kauf nehmen? Gerade im Steuerrecht basiert vieles auch auf Tradition und Praktikabilität. Warum soll die Slowakei zum Beispiel unser kompliziertes Unternehmensteuerrecht übernehmen müssen? Dort gibt es eine andere Steuertradition als in Deutschland. Schon in Deutschland schaffen es die Finanzbehörden und erst Recht die Unternehmen nicht, das komplizierte Unternehmensteuerrecht zu administrieren. Wie wäre dies in der Slowakei, Rumänien oder Griechenland?

Rosinen picken ist gut und richtig. Aus dieser eigensinnigen Ordnung erwächst nämlich der Fortschritt. Denn Staaten zwingt dieser Systemwettbewerb zu Anpassungen, die sonst nie stattfinden würden. Der Systemwettbewerb diszipliniert den Staat in seinem sonst ungebremsten Wachstum. Denn anders als Unternehmen haben Regierungen und Staaten in der Regel keinen Konjunkturverlauf, der Umsätze steigen und mal wieder einbrechen lässt. Staaten und Regierungen können immer aus dem Vollen schöpfen. Ihre „Umsätze“, die Steuern, steigen von Jahr zu Jahr.

Wenn es schlecht läuft, stagnieren sie vielleicht mal, aber schon im nächsten Jahr steigen sie meist wieder. Deshalb unterliegen Regierungen und Staaten nur selten einem wirklichen Reformdruck. Und wenn dies doch mal der Fall ist, haben sich die Probleme über viele Jahre und Jahrzehnte aufgestaut und können dann häufig nicht mehr mit einfachen Korrekturen bewältigt werden. Die Situation Griechenlands, aber auch Italiens und Spaniens sind gute Beispiele dafür. Wer das Rosinenpicken verhindert, will letztlich, dass es allen gleich schlecht geht. Stattdessen ist es eine Hauptaufgabe des Wettbewerbs, zu zeigen, welche Pläne falsch sind. Osbornes Initiative für niedrige Steuern entfacht diesen Wettbewerb neu – vielleicht dann auch wieder in der Rest-EU. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Erstmals veröffentlicht bei Tichys Einblick.