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Photo: Dave Kellam from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Prof. Dr. Thomas Mayer, Kuratoriumsvorsitzender von “Prometheus” und Gründungsdirektor des “Flossbach von Storch Research Institute”.

In seinem Klassiker „Der Wohlstand der Nationen“ verglich Adam Smith die Briten mit einer „Nation von Krämern und Ladenbesitzern“. Daran hatte später Napoleon seinen Spaß. Heute poliert David Cameron das alte Klischee neu auf. Er hofft, eine „Notbremse“ für Sozialleistungen für Immigranten aus den EU-Ländern, eine Ausnahme bei der „immer engeren Integration“, die Einschränkung der Brüsseler Bürokratie und ein Vetorecht der Mehrheit nationaler Parlamente gegen EU-Bestimmungen könnten ein Votum der Briten für den EU-Austritt noch abwenden. Von seinen Gegnern erntet er dafür nur Hohn und Spott. Dabei böten die britischen Ansprüche eine solide Grundlage für eine dringend notwendige Neuorientierung der Union. Statt um Kleingeld zu feilschen, hätte Cameron zum Kampf für eine Reform der EU aufrufen sollen. Hier ist mein Vorschlag:

„Der liberale Rechtsstaat ist eine der größten Errungenschaften unserer Geschichte. Während sich der europäische Kontinent im siebzehnten Jahrhundert auf den Weg in den Absolutismus begab, hielten wir die Herrschaft des Rechts hoch. Für Ludwig IV. galt: „Der Staat bin ich“. Dem hielt unser Parlament damals entgegen, dass es sein Hauptanliegen sei, „die Freiheit des Volkes vor der Willkür der Regierung zu schützen“. John Locke stellte fest, dass auch nicht der Gesetzgeber willkürlich handeln darf. Auch er ist „verpflichtet, nach öffentlich verkündeten, stehenden Gesetzen …für Gerechtigkeit zu sorgen“. Regeln und Gesetze schützen die Mitglieder der Gesellschaft und ihr Eigentum gegen die Willkürherrschaft der Regierung, selbst wenn sich diese auf eine parlamentarische Mehrheit stützen kann. Das britische Konzept des liberalen Rechtsstaats war die Grundlage, auf der die amerikanischen Föderalisten die Vereinigten Staaten von Amerika errichteten.

Auch die Europäische Union bekennt sich zur liberalen Rechtsstaatlichkeit. Aber sie ist mit den Jahren auf Abwege geraten. Die Übertragung wesentlicher hoheitlicher Rechte ohne effektive parlamentarische Kontrolle hat zur Herrschaft der Bürokratie geführt. Für die Bürokratie heiligt der Zweck die Mittel, auch wenn dadurch das Recht umgangen wird. Wohin das führt, konnten wir in der Währungsunion und im Schengenraum sehen. Zur Rettung des Euro wurden das vertraglich vereinbarte Verbot gegenseitiger finanzieller Haftung und das Verbot monetärer Finanzierung von Staatshaushalten durchlöchert. Im Schengenraum wurden die vertraglichen Vereinbarungen zur Sicherung der gemeinschaftlichen Außengrenzen und Zuwanderung missachtet. Wo war das Europäische Parlament als das Recht gebeugt wurde? Hat es das Volk vor der Willkür der Regierenden geschützt, indem es auf der Herrschaft des Rechts bestanden hätte?

Unsere Vorgänger haben die Gefahren des Euro und des Schengenraums bei Zeiten erkannt. Großbritannien ist weder bei der Währungs- noch der Grenzgemeinschaft Mitglied. Wir lassen uns auch nicht in eine Sozial- oder Fiskalgemeinschaft drängen, in der sich einzelne Staaten aus ihrer finanziellen Verantwortung schleichen können. Wir wollen keinen europäischen Wohlfahrtsstaat und keine „Bankenunion“, in der wir für die Fehlentscheidungen in anderen Staaten haften. Wir wollen, dass diejenigen, die entscheiden, dafür auch die Verantwortung tragen, und wir wollen, dass das Recht über der Herrschaft der Regierungen und der Bürokratie steht.

Aber wir können uns über geografische Gegebenheiten nicht hinwegsetzen. Wir sind ein Teil Europas, das auf uns angewiesen ist, so wie wir auf Europa angewiesen sind. Die Europäische Union ist eine große Errungenschaft der europäischen Völker. Sie hat einem über Jahrhunderte zutiefst zerstrittenen Europa Frieden gebracht und damit Großbritannien Sicherheit und Wohlstand in einem friedlichen Europa ermöglicht. Wir müssen am Gelingen dieser Union interessiert sein, denn ihr Scheitern wäre auch für uns eine Katastrophe. Würden wir jetzt austreten, wo die EU von innerem Streit zerrissen ist und vom Weg der liberalen Rechtsstaatlichkeit abzukommen droht, wären wir für ihr Scheitern mit verantwortlich.

Statt der EU den Rücken zu kehren müssen wir mit all unserer Kraft darauf drängen, dass sie zu ihren Grundprinzipien der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt. Wir wollen freien Handel, freien Kapitalverkehr und die Freizügigkeit der Personen innerhalb eines rechtlichen Rahmens, der Verantwortlichkeiten klar definiert. Wir haben nichts gegen die europäische Währung, aber sie ist kein goldenes Kalb, um das die EU-Mitgliedstaaten tanzen müssen. Wir stehen mit unserer Absicht zu Reformen der EU nicht allein. Wir haben Verbündete und werden mehr dazugewinnen. Wir werden in der EU für eine bessere Union kämpfen und den Kampf gewinnen.“

Photo: Charles Hutchins from flickr (CC BY 2.0)

Die altehrwürdige „Zeit“ aus Hamburg hat gerade das Ende des Neoliberalismus ausgerufen und sich dabei auf den Internationalen Währungsfonds berufen. Dieser habe eingeräumt, dass die Entfesselung der Marktkräfte die Wirtschaft in vielen Fällen nicht wie erhofft gestärkt, sondern vielmehr geschwächt habe. Als Begründung führt der Autor Mark Schieritz in einem Kommentar an, „die Weltwirtschaft befindet sich in einem permanenten Krisenzustand, für die Fehlspekulationen einer globalen Finanzelite musste die Allgemeinheit aufkommen, und in fast allen Industrienationen ist die Kluft zwischen Arm und Reich größer geworden. Das muss man erst einmal schaffen.“ Wenn dies das Ergebnis des Liberalismus – mit oder ohne Präfix – wäre, ja dann wäre diese Analyse stichhaltig.

Mehrere Annahmen sind falsch. Die aller erste ist, dass der IWF etwas mit Liberalismus zu tun habe. Nichts ist abwegiger. Der IWF ist ein Produkt supranationaler Prägung der Nachkriegsordnung. Er wurde als Interventionsmechanismus geschaffen, um die Wechselkurse der Währungen, die mittelbar über den Dollar an das Gold gekoppelt waren, zu stabilisieren. Der Ausgangspunkt war daher ein planwirtschaftlicher Ansatz. Staaten, die ihre Währung nicht stabilisieren konnten, wurde ein Übervater zur Seite gestellt, der ihnen dann unter Auflagen aus der Patsche half.

Nach dem Ende der Goldbindung des Dollars 1971 durch Richard Nixon wurde der IWF anschließend nicht abgewickelt, sondern er suchte sich wie nahezu jede Behörde neue Aufgaben. Jetzt kümmerte man sich um die Entwicklungs- und Schwellenländer auf dieser Welt, wie jüngst auch um Griechenland. Mit Liberalismus hat dies alles herzlich wenig zu tun. Der Liberalismus schaut auf den Einzelnen, er setzt auf die freiwillige und friedliche Kooperation von Menschen und hat das Wohl des Ganzen im Blick. Man kann die Entwicklung und das Wirken des IWF daher nicht dem Liberalismus anheften. Der IWF ist ein Produkt der Allmachtsphantasie der Politik und ihres korporatistischen Gestaltungsanspruches.

Die zweite Annahme ist ebenfalls falsch oder zumindest unpräzise. Die Entfesselung der Marktkräfte habe nicht geholfen, sondern habe die Wirtschaft geschwächt. Die einseitige Aufgabe der Gold-Bindung des Dollars ermöglichte nach 1971 eine fast unbegrenzte Geldschöpfung der Banken und eine künstliche Ausweitung der Kredit- und Geldmengen. Dies war eine rein staatliche Entscheidung. Die Bürger Amerikas wurden nicht gefragt. Auch die Bürger in Deutschland, Großbritannien oder Japan konnten nicht individuell entscheiden, ob sie diese neue Geldordnung wollen oder nicht. Selbst durch demokratische Wahlen wurde dieser willkürliche Akt nicht legitimiert. Die neue Geldordnung sollte als Abkürzung zu einer stabilen und nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung führen. Stattdessen wirkte sie wie süßes Gift, dass den Eindruck vermittelte, dass Wohlstand ohne Sparen möglich ist. Kurzfristig mag dies vielleicht geholfen haben, jedoch um den Preis späterer monetärer Schocks, weil Unternehmen in ambitiöse Investitionsprojekte gelockt wurden, die sich als nicht rentabel herausstellten und daher nicht vollendet werden konnten. Die Zulassung eines Rechtsrahmens, der solche Kredit ohne einen zuvor erfolgten Sparvorgang ermöglicht, hat einigen geholfen, insbesondere den Banken und den Schuldnern. Beide wurden immer größer und mächtiger. Das Wirtschaftssystem spielt in der Folge verrückt. Unternehmen handeln plötzlich so, als wenn die Bürger ihnen viel mehr Ersparnisse zur Verfügung gestellt hätten. Tatsächlich ist es nur eine Geldillusion, die als solche von den Marktteilnehmern erkannt wird und sich korrigieren will. Die Notenbanken intervenierten anschließend mit noch niedrigeren Zinsen und noch billigerem Geld. Die Interventionsspirale des Staates dreht sich daher immer schneller.
Mit dem liberalen Grundsatz, der Gleichheit vor dem Recht, hat dies jedoch nichts zu tun. Dort würde es als Betrug entlarvt. Es hat auch nichts mit Marktwirtschaft als die liberale Wirtschaftsordnung zu tun. In ihr würde es den Austritt von Marktteilnehmern geben. Staaten und Banken würden in dieser Marktordnung pleitegehen, Gläubiger würden auf Teile der Rückzahlung verzichten müssen und anschließend sich vorsichtiger verhalten. Es wäre ein gesundes Wirtschaften, weil Fehlentscheidungen im Kleinen korrigiert würden und keine kollektive Bestrafung aller, die zum großen Teil nichts mit den Fehlentwicklungen zu tun haben, stattfindet.

Die dritte Annahme ist ebenfalls haarig: Die Kluft zwischen Arm und Reich würde zunehmen. Das ist leicht dahingesagt. Was ist der Maßstab? Ist es die Zeit eines Anton Fuggers, der seit dem Mittelalter bis heute als der reichste Mensch gilt. Oder ist es die Zeit eines Hugo Stinnes, der Anfang des 20. Jahrhunderts zu großem Vermögen kam? Wahrscheinlich war die Ungleichheit 1946 in Deutschland und anderen Ländern geringer als heute, doch weite Teile Europas und der Welt waren zerstört und vernichtet. Es ging allen schlecht. 1,4 Milliarden Chinesen sind heute Wohlhabender als zu Zeiten Maos, als dieser Millionen verhungern ließ. Trotz seines unendlichen Vermögens hatte Anton Fugger kein Telefon, kein Auto und auch keine Krankenversicherung, die ihm auch noch im hohen Alter umfassende medizinische Versorgung garantiert – vom künstlichen Hüftgelenk bis zum Herzschrittmacher.
Vielleicht meint der Zeit-Kolumnist etwas ganz Anderes. Es ist nicht der Neo-Liberalismus, der versagt hat, sondern der Kollektivismus, der in einer globalen Staatswirtschaft zum Ausdruck kommt. Sein Ende ist leider nicht in Sicht, aber Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden.

Photo: Pete Birkinshaw from Flickr (CC BY 2.0)

In dieser Woche haben die Grünen und die Linken im Bundestag Festpreise für Milchbauern gefordert. Das ist nicht neu. Wahrscheinlich gibt es historisch keinen Wirtschaftszweig, der so stark und dauerhaft von den Interventionen des Staates betroffen und abhängig ist, wie der Agrarsektor.
Die Geschichte der Europäischen Gemeinschaft und später der Europäischen Union ist letztlich eine Geschichte der Subventionierung der Landwirtschaft. Der Preis dafür ist, dass dieser Sektor besonders mit Verordnungen, Richtlinien und damit Bürokratie drangsaliert wird. Die Marktwirtschaft hatte viele Jahrzehnte keine Chance gegen die Planungsbehörden in Brüssel. Produktionsquoten und Mindestpreise führten zu Milchseen und Fleischbergen und waren Zeugnisse dieser gescheiterten Planwirtschaft. Landwirte waren nur Planerfüller einer EU-Planungsbehörde, anstatt selbstbewusste Unternehmer zu sein.

Doch einige Bereiche der Landwirtschaft waren schon in den vergangen Jahrzehnten der Marktwirtschaft und damit Angebot und Nachfrage ausgesetzt. Die Schweineproduktion gehört zum Beispiel dazu. Deren Preisschwankungen sind als sogenannter Schweinezyklus bekannt. Steigt der Preis für Schweinefleisch, bauen Landwirte ihre Kapazitäten aus. Das Angebot an Schweinefleisch nimmt in der Folge zu und die Preise fallen bei gleicher Nachfrage. Dieser Prozess vollzieht sich jedoch nicht von heute auf morgen, sondern dauert über Jahre an, weil die Produktionsausweitung mit Investitionen verbunden ist. Die Preiskorrektur nach unten zwingt die Landwirte dann zur Steigerung ihrer Produktivität oder häufig sogar zur Aufgabe ihres Hofes.
Diesen Schweinezyklus verspüren aktuell auch die Milchbauern. 2014 bekam der Landwirt noch über 40 Cent je Liter, seitdem geht es steil bergab. Aktuell erhalten sie weniger als die Hälfte. Allein im vergangenen Jahr hat die Milchwirtschaft in der EU die Produktion um fast fünf Prozent erweitert. Damit steigt das Angebot, und die Preise fallen bei gleicher Nachfrage. Der Anpassungsprozess ist bereits in vollem Gange. Viele Landwirte kämpfen deshalb um ihre Existenz.

Doch es kommt dieses Mal ein Umstand hinzu, der mit der Marktwirtschaft nichts zu tun hat. Es sind die Sanktionen der EU gegen Russland und umgekehrt. Sie haben die Exporte nach Russland gekappt und abgeschnitten. Damit trifft ein wachsendes Angebot nicht auf eine gleichbleibende, sondern auf eine abrupt sinkende Nachfrage. Insgesamt geht es um ein Volumen an Agrarprodukten von zwölf Milliarden Euro, die aus der EU nach Russland exportiert wurden. Diese Sanktionen verzerren den Marktmechanismus und verschärfen jetzt den Anpassungsprozess.

Eigentlich sollten die Sanktion die Russen und ihren Präsidenten für dessen Annexion der Krim treffen, jetzt werden aber die Milchbauern in Deutschland und den anderen EU-Mitgliedstaaten bestraft. Sie haben nichts mit dem Konflikt in der Ukraine zu tun, können nicht ausweichen. Trotzdem sind viele von ihnen in ihrer Existenz gefährdet.

Die Einschränkung des freien Warenverkehrs durch Handelshemmnisse wie Einfuhrbeschränkungen oder durch die Subvention der eigenen Landwirtschaft schadet allen. Das ist die Botschaft der Freihandelsidee, die seit dem 19. Jahrhundert, beginnend in Großbritannien, ihren Siegeszug um die Welt gemacht hat. Ihn zu fördern, hilft auch den Milchbauern in Deutschland. Deshalb sollten die Landwirte eigentlich die größten Befürworter des Freihandelsabkommens mit Kanada (CETA) und den USA (TTIP) sein. Denn Freihandel ist kein Nullsummenspiel, bei dem der Erfolg des einen zu Lasten des anderen geht. Freihandel macht den Kuchen größer und ermöglicht, dass mehr Menschen am Wohlstand teilhaben können.

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 4. Juni 2016.

 Photo: Claus Rebler from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Der Europa-Parlamentarier Alexander Graf Lambsdorff hat gerade vor der Freigabe der Griechenland-Kredite durch die EU-Finanzminister gewarnt: „In Wahrheit ist Athens Reformprogramm ein Papiertiger.“ Seit Beginn der Finanzhilfen seien 74 Prozent der mit den europäischen Partnern vereinbarten Reformen nicht durchgeführt worden, gibt sich jetzt der EU-Abgeordnete überzeugt. Er plädierte wie sein Parteivorsitzender Christian Lindner für einen Austritt Griechenlands aus dem Euro.

Darauf hinzuweisen war und ist notwendig, bekommt man doch gelegentlich den Eindruck vermittelt, die Situation für Griechenland und für den Euro-Club habe sich seit 2010 wesentlich verbessert und das Erpressungspotential der überschuldeten Staaten und Banken in Europa habe abgenommen. Deshalb ist die Kritik an Finanzminister Schäuble und damit auch an den Regierungsparteien in Berlin sehr berechtigt. Machen es sich die Finanzminister im Euro-Club doch sehr einfach. Erneut werden die Dinge auf die lange Bank geschoben, Beruhigungspillen verteilt und din Reformbereitschaft der griechischen Regierung verklärt.

Und wie 2010 versuchen diese Schönredner wieder, über wichtige zeitliche Hürden zu springen. Die eine Hürde ist das Brexit-Referendum in Großbritannien am 23. Juni. Auf der Insel steht es Spitz auf Knopf, da will man in Brüssel keine negativen Schwingungen erzeugen. Das zweite Datum ist die Bundestagswahl in Deutschland im September 2017. Ein Schuldenschnitt, wie auch immer er aussehen mag, will man als deutscher Finanzminister nicht verantworten. Deshalb verschiebt man diese Frage auf das Jahr 2018. Wichtig ist für alle Beteiligten, Griechenland aus den Schlagzeilen zu halten.

Mit einer Schuldenquote von 180 Prozent zur Wirtschaftsleistung hat Griechenland einen neuen Höchststand in seiner Euro-Geschichte erreicht. 315 Milliarden Euro an Staatsschulden tragen heute nicht mehr Banken, Versicherungen und Fonds, sondern faktisch zu 100 Prozent der Euro-Club, die EZB und der IWF. Jetzt ist die drohende Ansteckungsgefahr für die europäischen Banken zwar gemindert, aber nunmehr bürgt der Steuerzahler für diese uneinbringlichen Forderungen. Die Retter von damals halten sich zugute, dass die Zinsspreads zwischen Griechenland und den übrigen Schuldenstaaten zugenommen hätten. Bis auf Portugal haben alle Euro-Staaten inzwischen Renditen von 10-jährigen Staatsanleihen von unter 2 Prozent, viele sogar unter 1 Prozent. Lediglich Portugal liegt bei fast 4 Prozent, wogegen Griechenland bei rund 7 Prozent liegt..

Die Ansteckungsgefahr ist jedoch gegenüber 2010 nicht gemindert, vielmehr hat sie sich erhöht. Die Zinsspreads sind kein Indikator einer abnehmenden Gefahr in einer Zeit, in der die EZB jeden Monat für 80 Milliarden Euro überwiegend Staatsanleihen aufkauft. Diese Maßnahme dient einzig und alleine dem Ziel, die Zinsen und Renditen der Staatsanleihen zu drücken. Das Volumen ist dabei gar nicht entscheidend. Entscheidend ist der Wille Mario Draghis, den er in den Worten „whatever it takes“ zum Ausdruck gebracht hat. Die Anleihenmärkte sind wahrscheinlich noch nie in den vergangenen 60 Jahren in dieser Weise manipuliert worden.

Die Ansteckung aller Länder in der Eurozone findet derzeit an anderer Stelle statt. Regierungen werden nicht nur in Griechenland hinweggefegt, sondern auch in Spanien und Portugal. Etablierte Parteistrukturen gelten nicht mehr, siehe Österreich und Frankreich. Selbst in Deutschland ist es nicht mehr weit, bis die Union erstmalig in Umfragen unter die 30 Prozent-Hürde fällt. Die andere Volkspartei, die SPD, muss sich daran gewöhnen, unter 20 Prozent taxiert zu werden. Das so oft apostrophierte Verursacherprinzip gilt im Euro-Club nicht. Recht wird bis zur Unkenntlichkeit verbogen. Deshalb dürfen sich die Regierungen nicht wundern, wenn ihre Politik des Zeitgewinns durch Rechtsbeugung sich ein Ventil sucht. Griechenlands Weg muss ein Weg außerhalb des Euro-Korsetts sein. Für alle Beteiligten wäre dies besser – für Griechenland und die restlichen Euro-Staaten.

Sollte Griechenland den Euro-Club verlassen, hieße das nicht, dass der Euro in Griechenland verschwindet. Es bestünde sogar die Möglichkeit, den Bürgern Griechenlands die Wahl zu lassen, welche Währung sie nutzen. Hierfür ist nicht sehr viel notwendig. Im ersten Schritt müsste die EZB den griechischen Banken den Zugang zur EZB und dessen Zentralbankgeld kappen. Anschließend würde dann die griechische Regierung eine neue Währung in Umlauf bringen und die Bankkonten darauf umstellen. Das Euro-Bargeld würde weiter seine Funktion als Zahlungsmittel behalten. In einem klassischen Parallelwährungsraum würde normalerweise dann das schlechte Geld das gute Geld verdrängen. Die neue Drachme würde in einen Abwertungssog gegenüber dem Euro geraten. Alle Menschen in Griechenland würden versuchen, die relativ schlechtere Drachme in den relativ besseren Euro umzutauschen. Der Euro würde gehortet und die neue Drachme würde möglichst schnell ausgegeben oder getauscht.

Dieser als „Greshamsche Gesetz“ bezeichnete Zusammenhang kann eigentlich nur dadurch vermieden werden, dass der griechische Staat kein gesetzliches Zahlungsmittel definiert und keinen Wechselkurs über die eigene Notenbank zu bestimmen versucht, sondern das Zahlungsmittel und deren Verwendung dem Markt überläßt. Daher ist nicht ein klassisches Parallelwährungskonzept die Antwort, sondern ein Vielwährungskonzept aus unterschiedlichen Währungen, die je nach Verwendung unterschiedliche Vor- und Nachteile haben können. Das Grundprinzip dieses Vielwährungskonzeptes lautet: Nur wenn jeder Bürger jeder Zeit die Möglichkeit hat, sein schlechtes Geld in gutes Geld umzutauschen, entsteht eine Geldordnung, die dauerhaft Vertrauen schafft. Dieses Währungskonzept würde nicht von der Willkür der Regierung oder einer Zentralbank abhängig sein, sondern vom Vertrauen jedes Einzelnen.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

 Photo: Pedro Ribeiro Simoes from Flickr (CC BY 2.0)

Die deutsche Regierung steckt in einem großen Dilemma. Die Euro-Zone entwickelt sich immer weiter auseinander. Die einen häufen immer neue Staatsschulden, Arbeitslosenzahlen und Leistungsbilanzdefizite an. So haben beispielhaft Italiens Staatsschulden mit 135,7 Prozent zur Wirtschaftsleistung den höchsten Stand seit 1924, in Portugal liegen sie bei 129 Prozent, Spanien 99,2 Prozent und Griechenland 176,9 Prozent.

Die Arbeitslosigkeit in Spanien liegt bei über 4 Millionen registrierter Bürger, die nur dadurch sinkt, da viele das Land verlassen. In Frankreich liegt die tatsächliche Arbeitslosenzahl wohl bei 6,5 Millionen. Die Industrieproduktionen in Frankreich (-10,4 %), Spanien (-17,7 Prozent), Portugal (-18,3 %), Italien (-21,1 Prozent) und Griechenland (- 30,3 Prozent) sind Lichtjahre vom Basisjahr 2000 entfernt. Anders in Deutschland. Dort steigen die Beschäftigungszahlen, die Arbeitslosigkeit sinkt. Die Industrieproduktion hat gegenüber dem Jahr 2000 um 21 Prozent zugelegt und selbst den Höchststand von 2007/2008 wieder erreicht.

Ausdruck dieser Entwicklung innerhalb der Euro-Zone sind die so genannten Target-Salden. Seit August 2012 steigen die Forderungen der Bundesbank gegenüber dem Eurosystem wieder. Mit 625 Milliarden Euro sind sie nicht mehr weit vom Allzeithoch von 751 Mrd. Euro im August 2012 entfernt. Sie entsprechen weitgehend dem kumulierten Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands gegenüber den Krisenländern in der Eurozone. Anders ausgedrückt, die Waren und Dienstleistungen, die deutsche Unternehmen in den Club Med exportieren, werden von den Krisenländern bei der EZB angeschrieben – so lange bis der Arzt kommt.

Deshalb meinen einige, die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands seien die Defizite Griechenlands, Spaniens oder Italiens. Das ist natürlich zu kurz gesprungen. Denn Deutschland exportiert seine Waren- und Dienstleistungen nicht nur in die Eurozone. Deutsche Unternehmen exportieren nur 36 Prozent der Waren und Dienstleistungen in die Euro-Zone, 22 Prozent in die restliche EU und 42 Prozent außerhalb Europas. Dennoch zeigt das Phänomen zumindest einen Teil der Problematik. Innerhalb der Eurozone wächst eine Gruppe von Staaten seit Jahren, während ein anderer Teil schrumpft oder stagniert. Um dieses Problem zu lösen, gibt es eigentlich nur drei Wege.

Der erste Weg ist der der deutschen Wiedervereinigung. Wir schaffen ein einheitliches Rechtsgebiet, gleichen die Sozialstandards an und versuchen durch öffentliche Investitionen und Transfers die Arbeitslosigkeit in den Krisenstaaten zu senken und die öffentlichen Haushalte zu finanzieren. Dieser Pfad würde eine neue Dimension der Umverteilung in der EU erfordern. Es würde eine über das bestehende Maß weit hinausgehende Transferunion einleiten, bei der Leistungsbilanzdefizite und Target-Verbindlichkeiten innerhalb des Währungsgebietes nicht mehr diskutiert, sondern schlicht akzeptiert würden. So war und ist es letztlich mit der Deutschen Einheit auch. Sie war eine nationale Aufgabe, der sich alle Regierungen bislang verpflichtet haben. Schätzungen über die finanzielle Dimension der Deutsche Einheit liegen bis heute bei rund 2 Billionen Euro.

1989 lebten in der DDR 16,4 Millionen Bürger. Es wäre unredlich, diese Zahl einfach auf die restlichen Eurostaaten zu übertragen. Doch wenn alleine Griechenland (11 Mio. Einwohner), Italien (60 Mio. Einwohner), Spanien (46 Mio. Einwohner) und Portugal (10 Millionen Einwohner) herangezogen werden, ist man bereits bei 127 Millionen Einwohnern. Würde man den gleichen Transferbedarf wie für die Deutsche Einheit unterstellen, käme man auf einen Bedarf von fast 15,5 Billionen Euro, die in den Süden transferiert werden müssten. Würde diese Summe – wie aktuell in Deutschland – auf bislang 26 Jahre verteilt, bestünde ein Transferbedarf von fast 600 Milliarden Euro pro Jahr. Zum Vergleich: der Bundeshaushalt hat derzeit ein Gesamtvolumen von 316 Milliarden Euro und der EU-Haushalt von 155 Milliarden Euro. Damit wird man also nicht allzu weit kommen. Die Zahlen zeigen aber die Herausforderung dieses Weges.

Der zweite Weg ist der, den die jetzige Regierung wohl einschlagen wird. Sie wird argumentieren, dass es doch sinnvoller sei Straßen, Schulen und Hochschulen in Deutschland herzurichten, anstatt den Schlendrian in Griechenland oder Portugal zu finanzieren. Viele Profiteure, von den Gewerkschaften über die Arbeitgeberverbände bis zu den kommunalen Spitzenverbänden werden jubeln und Hosianna schreien. Doch es ist wahrscheinlich der Weg, den Pfad der Vernunft endgültig zu verlassen und wieder stärker in die eigene Verschuldung zu gehen. Es ist, um es etwas überspitzt auszudrücken, der Weg der Angleichung der Lebensverhältnisse in der Eurozone.

Ein bisschen mehr Hellas bei den Rentenausgaben, ein wenig Siesta im Arbeitsmarkt, einen Schluck „Grande Nation“ bei den Verteidigungsausgaben und ein Brikett Mezzogiorno bei den Sozialtransfers. Obendrauf kommen noch ein schuldenfinanziertes Investitionsprogramm aus der Mottenkiste der 70er Jahre und fertig ist die „Agenda 2030“. Bei George Orwell waren das in „1984“ noch „Gedächtnis-Löcher“, die eigentlich ausgelöscht waren. Jetzt kommen sie wieder hoch und die EU-Kommission wird dies alles begrüßen. Wenn schon, dann soll es im Euro-Club allen gleich schlecht gehen. Damit würde Deutschland sein Leistungsbilanzüberschuss von über 6 Prozent endlich reduzieren, worauf die Technokraten in Brüssel schon länger drängen. Starre Regeln wie der Fiskalpakt oder die Schuldenbremse in der eigenen Verfassung verhindern nur den Fortschritt und werden deshalb geschleift und aufgeweicht.

Der dritte Weg ist der harte und steinige Weg. Er ist deshalb in der derzeitigen Gemengelage der unwahrscheinlichste. Dennoch soll er hier der Vollständigkeit halber genannt werden. Dem heutigen Zeitgeist würde er eigentlich am ehesten entsprechen. Er wäre „nachhaltig“. Er würde einem Ordnungsprinzip folgen, das heißt: Du kannst nur das ausgeben, was du vorher erwirtschaftet hast. Es ist so simpel und schon fast banal, ohne Schnickschnack und komplizierte Pläne. Doch oftmals sind gerade die einfachen Wege die schwierigsten.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.