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Photo: Yale Law Library from Flickr (CC BY 2.0)

Die ökonomischen Probleme in weiten Teilen Europas sind hausgemacht. Da beißt keine Maus einen Faden ab. Überbordende Bürokratie, mangelnde Rechtssicherheit, nicht vorhandener Schutz des Eigentums, prohibitive Steuern und falsche Anreize in den Sozialsystemen sind nur einige der Ursachen. Die derzeitige Politik in Europa versucht, dies durch Druck zu ändern. „Zuckerbrot und Peitsche“ sollen die am Tropf der Gemeinschaft hängenden Krisenstaaten gefügig machen.

Und das läuft dann so: Veränderungen, die sich Bürokraten im fernen Brüssel ausgedacht haben, müssen zunächst umgesetzt werden, damit man dann weitere finanzielle Hilfen durch die Staatengemeinschaft erhält. So zumindest die Theorie. Doch das funktioniert nicht – und zwar aus zwei Gründen: Erstens sind Risiko und Verantwortung entkoppelt. Wer nicht selbst für sein Handeln haftet, sondern die Haftung auf eine größere Gemeinschaft abwälzen kann, geht meist den vermeintlich einfacheren Weg. Zweitens: die Möglichkeiten einer Insolvenz innerhalb des oder eines Ausscheiden aus dem Euro-Club werden gar nicht erst in Erwägung gezogen. Dadurch kommen die Retter in eine Erpressungssituation gegenüber den Geretteten. Je länger sie anhält, desto schlimmer wird sie. In den vergangenen 6 Jahren der vermeintlichen Rettung war das so.

Doch wie wäre es, wenn man von einem zentralistischen Reformansatz zu einem non-zentralistischen übergehen würde? Vorbilder gibt es einige. Die ökonomischen Erfolge Singapurs und Hongkongs sind Beispiel dafür, wie sich kleine und flexible Staaten im unmittelbaren Umfeld von zentralistischen Ländern wesentlich besser entwickeln können als die großen Platzhirsche in der Nachbarschaft. Auch in Europa tun sich Länder wie Luxemburg, die Schweiz oder die baltischen Staaten wesentlich leichter als Russland, Frankreich oder Italien. Die Entwicklung Hongkongs oder Singapurs ist jedoch besonders anschaulich. Denn sie hatte nicht nur ökonomische Vorteile für die dortige Bevölkerung, sondern für die ganze Region. Ohne den ökonomischen Druck Hongkongs hätte es wahrscheinlich kein Wirtschaftswunder in China gegeben. Es war der tagtägliche Anschauungsunterricht, der der chinesischen Nomenklatura das Scheitern der staatlichen Planwirtschaft vor Augen führte und sie offen für die Marktwirtschaft machte.

Die Vorteile der Kleinstaatlichkeit enden jedoch nicht an den Außengrenzen des jeweiligen Landes. Die Idee, eine marktwirtschaftliche Ordnung zu schaffen, kann auch innerhalb eines Staates oder in Teilgebieten eines Staates verwirklicht werden. Die Antwort Chinas auf den ökonomischen Erfolg Hongkongs war zum Beispiel die Schaffung von Freihandelszonen, wie zum Beispiel in Shanghai. Dort werden wirtschaftliche Reformen in einem abgesteckten Areal realisiert, ohne sie sofort auf das ganze Land zu übertragen. So werden diese Zonen nicht nur Versuchslabor, sondern sehr oft eben auch Avantgarde.

Warum sollen solche Freihandelszonen nicht auch in Europa entstehen? Wieso nicht in Teilen Griechenlands, Portugals oder auch Deutschlands? Und die Idee der Freihandelszonen muss nicht nur auf Investitionserleichterungen konzentriert werden. Warum kann in solchen Regionen nicht viel mehr ausprobiert werden? Der US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Paul Romer schlug vor einigen Jahren ein Konzept vor, das er „Charter City“ nannte. Der Grundgedanke dieser Idee besteht darin, in einer bestimmten Region eines ökonomisch angeschlagenen Landes ein fremdes Rechtssystem zu implementieren, um damit Vertrauen bei Investoren zu schaffen und diese zu Investitionen zu animieren. In Teilen Griechenlands würde man dann entscheiden, dass dort zum Beispiel englisches Recht gilt. Das englische Recht ist in Griechenland nicht gänzlich fremd. Ein Teil der griechischen Staatsschulden wurden nach englischem Recht emittiert. Im Vergleich zu Anleihen, die nach griechischem Recht herausgegeben wurden, genießen diese ein wesentlich höheres Vertrauen. Als 2012 die privaten Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten mußten, galt dies nur für die Gläubiger, die Anleihen nach griechischem Recht gekauft hatten. Das griechische Parlament enteignete die Gläubiger einfach durch die Einführung einer nachträglichen Umschuldungsklausel bei bestehenden Anleihen. Wer sich nicht „freiwillig“ auf eine Forderungsverzicht von 53,5 Prozent einlassen wollte, konnte unter bestimmten Bedingungen dazu gezwungen werden. Bei den Anleihen nach englischem Recht gelang eine rückwirkende Änderung des Rechts nicht. Diese wurde ordnungsgemäß bedient und zurückgezahlt.

Was in bestimmten Regionen möglich ist, könnten auch auf einzelne Bürger, Unternehmen oder Vertragspartner heruntergebrochen werden. Warum sollten Vertragspartner sich nicht ihren Gerichtsstand frei wählen können? Im Handelsrecht ist dies bei uns heute schon möglich. Aber wieso soll die Wahl des Rechtssystems nicht auch im Steuerrecht, im Mietrecht oder im Arbeitsrecht möglich sein? Am Ende entstünde ein Wettbewerb des Rechts. Es wäre stabiler und weniger missbrauchsanfällig als viele derzeitige Rechtssysteme in Europa. Derzeit wird in Griechenland unter anderem nicht investiert, weil es keine ausreichende Eigentumsgarantie gibt, weil die Behörden korrupt sind und das Arbeitsrecht kompliziert ist. Diese Mängel könnten durch eine freie Wahl des Rechts durch die jeweiligen Vertragsparteien auf einen Schlag überwunden werden.

Wird Schindluder mit einem Rechtssystem getrieben, dann wird es bei neuen Verträgen nicht mehr angewandt und verschwindet. Ist der Gerichtsstand mit korrupten Richtern bestückt, dann wird er von den Vertragsparteien gemieden. Werden Baugenehmigungen verschleppt, verzögert und nur mit hohen Auflagen möglich, dann suchen sich Vertragspartner künftig die Bauordnung ihrer Wahl. Und dauert der Handelsregistereintrag beim örtlichen Amtsgericht zu lange, wird künftig ein anderes gewählt. Der Druck des Marktes und des Wettbewerbs erzeugt ein besseres Rechtssystem für alle. Es wäre ein atmender Rechtsrahmen, der schlechtes Recht verschwinden ließe und gutem Recht zum Durchbruch verhelfen würde. Ludwig von Mises hat dies sehr gut auf den Punkt gebracht: „Aller Fortschritt der Menschheit vollzog sich stets in der Weise, dass eine kleine Minderheit von den Ideen und Gebräuchen der Mehrheit abzuweichen begann, bis schließlich ihr Beispiel die anderen zur Übernahme der Neuerung bewog.“

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.

 

Photo: Sigfrid Lundberg from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Die Wirtschaftskrise im Euro-Club hält unvermindert an. Man muss kein Schwarzmaler sein, um zu erkennen: So wird das nix!

Wenige Zahlen verdeutlichen dies: In den letzten fünfzehn Jahren ist die Industrieproduktion in Griechenland um 28 Prozent, in Italien um 21 Prozent, in Spanien und Portugal um 18 Prozent und in Frankreich um 15 Prozent gesunken. Alle diese Länder sind meilenweit vom Peak in den Jahren 2007/2008 entfernt, ohne dass sich nennenswert etwas bei den Zahlen verbessert hat. Im Gegenteil: Italien ist auf dem Niveau von vor 30 Jahren. Damals hatte das Land eine vergleichbare Industrieproduktion wie heute (Quelle).

Zudem kommt hinzu, dass der italienische Bankensektor überschuldet ist. Die faulen Kredite in den Büchern der Banken erklimmen seit nunmehr sieben Jahren Monat für Monat ein neues Allzeithoch. Inzwischen liegt es bei 201 Milliarden Euro und entspricht 12,1 Prozent aller Kredite, die an private Haushalte und Unternehmen ausgereicht wurden. Die FAZ berichtete in dieser Woche sogar davon, dass „wackelige Kredite“ in einer Größenordnung von 150 bis 170 Milliarden Euro hinzugerechnet werden müssten. In der Spitze wären es dann über 22 Prozent aller Kredite an den Privatsektor, die problematisch sind. Normal wären 3 oder 4 Prozent. Italiens Banken und damit die gesamte Volkswirtschaft haben ein Riesenproblem. Von Griechenland will ich hier nicht ausführlicher sprechen. Dort ist Hopfen und Malz verloren. Nur so viel: Lediglich 3,6 Millionen der 11 Millionen Griechen sind erwerbstätig. Die Industrieproduktion ist in der Spitze seit November 2007 um 31,6 Prozent eingebrochen. Und auch im November letzten Jahres ist die Industrieproduktion im Vergleich zum Vorjahresmonat um 10,2 Prozent gesunken.

Umgekehrt ist in den letzten 15 Jahren die Industrieproduktion in Deutschland um 20 Prozent gestiegen. Deutschland hat das Vorkrisenniveau seiner Industrieproduktion wieder erreicht. Die deutsche Wirtschaft wächst und die Südländer des Euroclubs kommen nicht von der Stelle. Geht dies so weiter, werden die politischen Zentrifugalkräfte den Euro zerreißen.

Keiner konnte erwarten, dass die seit der ersten Griechenland-Hilfe 2010 getroffenen Maßnahmen sofort wirken. Schmerzhafte Reformen benötigen in der Regel zwei bis drei Jahre bis sie wirken. Das musste auch Gerhard Schröder bitter erfahren: die Erfolge von dessen radikalen Arbeitsmarktreformen konnte erst die Nachfolgeregierung ernten. Doch nunmehr sind sechs Jahre vergangen, ohne dass die getroffenen Maßnahmen in Griechenland Wirkung zeigen. Deshalb muss man schonungslos konstatieren, dass sie wirkungslos und daher falsch waren.

Das gleiche Schicksal droht den jüngsten Anstrengungen. Das Juncker-Programm der EU zur Investitionssteigerung in den Mitgliedsstaaten ist so ein Unsinn. Es funktioniert nach dem Motto: Wenn die Wirtschaft nicht saufen will, dann wird sie zur Tränke geführt. Es findet eine Art Investitions-„waterboarding“ statt.

Mit einem Mindestvolumen von 21 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt und den Mitgliedsstaaten soll die Europäische Investitionsbank (EIB) weitere private Investoren finden, die dann ein Investitionsvolumen von 315 Milliarden Euro erzeugen sollen. Man erfährt nur selten etwas über geförderte Projekte der EIB. Doch sagt es schon vieles über die Sinnhaftigkeit der zurückliegenden Subventionen aus, wenn die EIB erklärt, sie überprüfe derzeit, ob die subventionierten Kredite der Bank an VW richtig waren. Nur zum Verständnis: Einer der größten Automobilkonzerne der Welt erhält subventionierte Kredite einer staatlichen Förderbank für Investitionen, die er sonst auch getätigt hätte. Seit 1990 seien 4,6 Milliarden Euro ausgegeben worden, um saubere Motoren zu erforschen! Na da kann man nur sagen: Das hat sich gelohnt!

Es gibt zwei Erkenntnisse aus der Krise. Erstens: die Krisenstaaten müssen selbst ihren Kopf aus der Schlinge ziehen. Sie – und kein anderer – müssen Staat und Gesellschaft reformieren. Dazu braucht es Reformen am Arbeitsmarkt, bei den Steuern, bei der Bürokratie und beim Schutz des Eigentums. Und zweitens: Geschieht ersteres nicht schnell und unmittelbar, wird der Euro-Club auseinander fallen wie jetzt der Schengen-Raum. Europa ginge dann schwersten Zeiten entgegen.

Photo: European People’s Party from Flickr (CC BY 2.0)

Von Claus Vogt, Börsenbrief „Krisensicher investieren“

Wenn es um den Nutzen der deutschen EU-Mitgliedschaft geht, verweisen Politik und Medien gerne auf die vielen Fördergelder, die unser Land von der EU erhält. Aber wo kommen die Millionen der EU denn her, die mittels diverser Förderprogramme über die gesamte Gemeinschaft verteilt werden? Natürlich von den einzelnen Mitgliedsländern, die entsprechend ihrer Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft die EU Jahr für Jahr mit Milliardenbeträgen finanzieren. Wir deutschen Steuerzahler sind also mit unseren Steuergeldern bei allen Förderprojekten der EU europaweit mit dabei!

Die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung eines jeden EU-Mitgliedslandes wissen natürlich genau, ob sie Nettozahler sind, also mehr in die Kasse der EU einzahlen als sie aus den verschiedenen Fördertöpfen wieder zurückbekommen, oder ob sie Nettoempfänger sind, also mehr herausholen als sie in das System einzahlen. In Kenntnis dieser Zusammenhänge sind die Regierungen aller Mitgliedsländer bestrebt, möglichst stark von den Förderprogrammen der EU zu profitieren, ob dies im Ergebnis sinnvoll ist oder nicht.

Modethemen werden bevorzugt gefördert

Nun gibt es reine Umverteilungsprogramme, die praktisch nur den ärmeren Mitgliedsländern der EU zugänglich sind. Die meisten Programme sind allerdings so konzipiert, dass auch wohlhabende Mitgliedsländer Chancen auf eine Förderung haben. Bei solchen Programmen geht es beispielsweise um die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und der Beschäftigung sowie um grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Als Unterziele spielen dabei auch die Verbesserung der Infrastruktur und die Stärkung der Forschung eine Rolle. Bei näherer Betrachtung solcher Programme wird allerdings deutlich, dass vielfach Bereiche bevorzugt gefördert werden, die politisch gerade in Mode sind, wie im Moment etwa Umweltschutz oder Energieeffizienz.

Mitnahmeeffekte sind häufig

Die potentiellen Empfänger solcher Subventionen – das können bei den genannten Programmen Unternehmen, Kommunen oder Hochschulen sein – stellen sich natürlich auf die Fördervoraussetzungen ein. Anträge werden auf das betreffende Förderprogramm zugeschnitten, um mitzunehmen, was man mitnehmen kann. Manche Antragsteller beschäftigen sogar spezialisiertes Personal, das die Brüsseler Bürokratie von innen kennt und – wie es so schön heißt – „die entsprechende Antragslyrik draufhat“. Häufig werden Kooperationen mit ausländischen Partnern nur deshalb eingegangen, weil dies durch Fördermittel der EU besonders honoriert wird. Gemacht wird also nicht unbedingt das, was man für sinnvoll hält, sondern das, wofür es Fördergelder gibt.

Hochbürokratische Verfahren schrecken ab

Um an die Gelder der EU heranzukommen, ist jedoch regelmäßig eine Vielzahl von bürokratischen Hürden zu überwinden. Weil es in früheren Jahren Korruptionsvorwürfe gab, hat sich die EU-Kommission für die genannten Programme ein überaus kompliziertes Verfahren ausgedacht. Die Empfängerländer müssen aufwendige Verwaltungs- und Kontrollsysteme einrichten, um den Vorgaben der EU gerecht zu werden. Eine Fülle verschiedener Behörden zahlt aus, bescheinigt und kontrolliert in einem hochbürokratischen Verfahren. Zum Teil bescheinigen und kontrollieren auch Wirtschaftsprüfer und Staatsbanken, die sich ihre Tätigkeiten in den Förderverfahren teuer bezahlen lassen. In manchen Programmen fressen die Kosten der Bürokratie einen erheblichen Prozentsatz der gesamten Förderung auf.

Die Subventionsempfänger sitzen bei der ganzen Angelegenheit am kürzeren Hebel. Sie müssen häufig vorfinanzieren und dann sehen, dass sie von der EU-Kommission bzw. den zuständigen nationalen Behörden ihr Geld wiederbekommen. Manchmal ziehen sich die Abrechnungen wegen kleinlicher Beanstandungen über Jahre hin. Viele Unternehmen, Kommunen und Hochschulen resignieren irgendwann und lehnen es unter Hinweis auf den enormen Aufwand ab, sich in Zukunft noch einmal um Fördergelder der EU zu bewerben.

Subventionen sollten zurückgefahren werden

Lässt man die Kosten der Förderung, die Fehlleitung von Ressourcen und die daraus resultierenden Marktverzerrungen auf sich wirken, spricht alles dafür, den Subventionswahnsinn der EU ganz stark zurückzufahren. Sollte nicht vernünftigerweise der Markt entscheiden, welches Unternehmen sich mit welchem Produkt durchsetzt? Wissen die einzelnen Kommunen nicht selber am besten, wo sie ansetzen müssen, um ihre Infrastruktur zu verbessern? Sollten die Hochschulen nicht autonom ihre Forschungsschwerpunkte setzen? Haben denn die Bürokraten in der EU-Kommission etwa den besseren Durchblick? Ist es wirklich sinnvoll, Brüssel enorme Beträge zu überlassen, um sich dann den nationalen Anteil im Rahmen aufwendiger Verfahren wieder zurückzuholen? Fragen über Fragen.

Aber solche ketzerische Gedanken finden in dieser Republik immer weniger Resonanz, am wenigsten bei unseren Regierenden.

Photo: Frank Jacobi from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Das Bundessozialgericht hat Anfang Dezember entschieden: In Deutschland lebende EU-Ausländer haben ein Recht auf Sozialhilfe. Diese Entscheidung nutzt vor allem denjenigen, die Sozialleistungen missbrauchen sowie den Rattenfängern am rechten Rand. Sie schadet tendenziell den ehrlichen Migranten.

Paradies Sozialhilfe?

„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“ So stellte das Bundesverfassungsgericht im Februar 2010 fest. Dieses menschenwürdige Leben wird etwas schwammig umrissen mit der Formulierung vom „typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums“.

Die Definition dieses „typischen Bedarfs“ hat schon zu viel bösem Blut geführt. Die Diskussionen reichen von „denen wird doch alles hinterher geworfen“ bis „bedürftige Menschen werden absichtlich zu kurzgehalten“, von „Sozialschmarotzer“ bis „bitterste Armut“. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte: ein angenehmes Leben haben Sozialhilfeempfänger bestimmt nicht, verglichen mit bestimmt 90 Prozent der Weltbevölkerung sind sie aber immer noch ziemlich gut dran. Insofern ist der Gedanke durchaus naheliegend, dass Menschen sich auf den Weg machen, um diesen aus ihrer Sicht besseren Lebensstandard zu erlangen – zumal wenn sie, wie die EU-Bürger aus ärmeren Ländern, problemlos nach Deutschland kommen können.

Die wenigsten Menschen wollen von staatlichen Almosen leben

Nun ist zum Glück nicht die Mehrheit aller Menschen darauf aus, von staatlichen Almosen zu leben. Selbst verdientes Geld, eine sinnvolle Tätigkeit, eigene Leistung sind für die allermeisten Menschen, ob Deutsche, Rumänen, Albaner oder Eritreer, ein erstrebenswertes Ziel. Aber unter Deutschen wie unter Zuwandernden gibt es natürlich auch solche, die es sich mit dem Existenzminimum gemütlich machen. Unter Umständen ist der Anreiz für jemanden auch noch etwas höher, der aus einem Land kommt, in dem man mit sehr viel Fleiß und Geschick immer noch deutlich weniger verdient als den Sozialhilfesatz in Deutschland.

Ja, es gibt Missbrauch von Sozialleistungen. Und jeder einzelne, der diesen Missbrauch begeht, trägt dazu bei, dass pauschale Urteile über Sozialschmarotzer und Armutszuwanderer Nahrung bekommen. Das führt nicht nur dazu, dass sich hiesige Sozialhilfeempfänger immer wieder rechtfertigen müssen. Es führt auch dazu, dass Zuwanderern oft unterstellt wird, sie kämen wegen der Sozialleistungen. Das Urteil des Bundessozialgerichts ist deshalb ein Problem, weil es diese Wahrnehmung verschärft und den tatsächlichen Missbrauchern Tür und Tor öffnet.

Personenfreizügigkeit bewahren

Es ist dringend geboten, dass die Politik sich in dieser Frage bald zu einem Umdenken bewegen lässt. Zu den Forderungen, die der britische Premier Cameron im Blick auf das EU-Referendum in seinem Land durchsetzen möchte, gehört diejenige, EU-Bürgern in den ersten vier Jahren keine Sozialleistungen auszuzahlen. Und – man höre und staune – selbst Andrea Nahles hat sich vor einigen Tagen zu dem Thema geäußert: „Wir müssen die Kommunen davor bewahren, unbegrenzt für mittellose EU-Ausländer sorgen zu müssen.“ Camerons Vorschlag ist auf jeden Fall vernünftig. Er bewahrt vor allem das hohe Gut der Personenfreizügigkeit – die Krönung des gemeinsamen Binnenmarktes.

Mittel- und langfristig gibt es eigentlich nur zwei Alternativen: Die erste besteht darin, dass wir es beim status quo belassen oder ihn gar – auch dazu gibt es Bestrebungen – ausdehnen, indem wir uns in Richtung einer zentral gesteuerten und gemeinsam finanzierten EU-Sozialpolitik bewegen. Das wäre Zunder für das Feuer derjenigen, die das Gefühl wecken wollen, Deutschland sei das „Weltsozialamt“. Und es würde die Stimmung auch gegenüber arbeitswilligen Migranten stark verdüstern. Eine solche Lösung wäre mithin auch nicht im Sinne derjenigen, die die Chancen für Migranten verbessern wollen. Sie würde in der Konsequenz zu einer Abschottung und zu geschlossenen Grenzen führen. Denn je stärker ein Wohlfahrtsstaat ausgebaut ist, umso höher werden die Mauern um ihn errichtet.

Grenzen um den Wohlfahrtsstaat statt um das Land

Die andere Alternative besteht darin, Cameron zu folgen und die Grenzen nicht um das Land, sondern um den Wohlfahrtsstaat zu ziehen. Wer eine Renten- oder Lebensversicherung abschließt, kann erst nach einiger Zeit des Einzahlens substantielle Summen erhalten. Das ist die ökonomische Logik und die einzige Logik, nach der Versicherungen funktionieren. Der Wohlfahrtsstaat ist heute schon kein klassisches Versicherungssystem mehr, sondern eine Umverteilungsindustrie. Wir könnten wenigstens bei den Zuwandernden wieder auf den ursprünglichen Versicherungscharakter zurückgreifen. Sozialhilfe und ähnliche Leistungen sollten nur dem ausgezahlt werden, der bereits vorher eingezahlt hat.

Wenn wir unsere Systeme entsprechend umstellen – sowohl für Migranten aus der EU als auch von außerhalb –, dann kann man gleich zwei Ziele erreichen: Man nimmt den Populisten den Wind aus den Segeln, die Ängste schüren, der Kuchen werde für die Deutschen kleiner durch „Sozialschmarotzer“ aus dem Ausland. Vor allem aber werden wir nicht gezwungen, Freizügigkeit und Zuwanderung weiter zu beschränken, um das Sozialsystem funktionsfähig zu halten. So können auch weiterhin Menschen, die einen Arbeitsplatz bekommen, nach Europa und nach Deutschland kommen und dazu beitragen, dass der Wohlstand für alle wächst. Es mag hartherzig wirken, wenn man Migranten zunächst aus dem Sozialstaat ausschließt. Aber es ist der beste Weg, um zu vermeiden, dass sie nicht einmal mehr bei uns arbeiten können. Auch hier gilt, was Kurt Tucholsky einmal sagte: „Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut.“

Photo: James Cridland from Flickr (CC BY 2.0)

Alle, die offene Grenzen lieben, können die aktuelle Entwicklung nur mit großer Besorgnis betrachten. Denn die Personenfreizügigkeit in Europa droht bald Geschichte zu werden. 26 Staaten innerhalb und außerhalb der EU haben sich dazu bekannt, auf Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraums zu verzichten. Es gibt nicht sehr viele identitätsstiftende Momente in Europa. Die Personenfreizügigkeit innerhalb eines gemeinsamen Binnenmarktes gehört sicherlich dazu. Sie beruht auf einer gemeinsamen Übereinkunft, wie mit Einreisenden, Flüchtlingen und Asylbewerbern an den gemeinsamen Außengrenzen umgegangen wird. Sie werden dort kontrolliert, registriert und wenn nötig ein Asyl-Antrag inhaltlich geprüft. Innerhalb der 26 herrschen offene Grenzen. Das ist eine herausragende Errungenschaft, die in ihrer historischen Dimension gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Vielleicht gab es seit der frühen Neuzeit und der Ausbildung der Nationalstaaten in Europa noch nie einen so großen Grad an Freiheit, wo man in Europa leben oder arbeiten kann. Der Schengenraum ist wahrlich eine historische Errungenschaft. Ihn preiszugeben wäre nicht mehr und nicht weniger als eine Fehlentwicklung von epochaler Bedeutung.

Der Schengenraum und das Dubliner Abkommen werden heute als Schön-Wetter-Recht bezeichnet, das in der Praxis nie funktioniert habe. Das erinnert sehr stark an das zweite Krisenprojekt der EU – den Euro. Auch hier schleifte man die Regeln, als das Wetter schlechter wurde. Doch es ist nur eine Ausrede für das eigene Versagen.

Für Länder wie Griechenland oder Spanien änderte sich seit Schengen nicht viel. Sie müssen ihre Außengrenzen so kontrollieren, wie sie es auch vor der Schengenübereinkunft bereits tun mußten. Denn auch in der Vor-Schengenzeit mussten die Länder mit Außengrenzen Pässe und Visa prüfen, Flüchtlinge registrieren und Asyl-Verfahren durchführen. Ihre geographische Lage, ihre Nähe zur Türkei oder zu Nordafrika ist wie sie ist. Sicherlich ist es so, dass die Länder, die keine Schengenaußengrenzen haben, wie Deutschland oder Österreich, erhebliche Vorteile haben, doch auch Spanien und Griechenland haben durch den Schengenraum große Vorteile. Die Grenzen ihres Landes, die keine Schengenaußengrenzen sind, müssen sie nicht mehr überwachen. Also auch sie profitieren. Der Schengenraum hilft daher allen.

Am Montag haben Dänemark und Schweden wieder Grenzkontrollen eingeführt – erstmal vorübergehend. Für die Entwicklung trägt die Bundesregierung die Hauptverantwortung. Kurz vor Weihnachten hat der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Torsten Albig erklärt, durch sein Land seien seit Januar 2015 rund 60.000 Flüchtlinge mit Billigung der Behörden unregistriert nach Schweden ausgereist. „Weil sie uns klar gesagt haben, dass sie nach Schweden wollen“, so der SPD-Politiker in verblüffender Offenheit. Und er fügte hinzu: „Wir haben gegen Dublin III verstoßen“. Die eigene Regierung vollzieht das gleiche Sankt-Florians-Prinzip wie alle anderen Staaten. Deutschland ist Teil des Balkans geworden, zumindest seiner Flüchtlingsroute.

Diese Erosion des Rechtsstaats hat Angela Merkel vorangetrieben. Als sie am 5. September das Dubliner Abkommen aussetzte, nahm sie billigend in Kauf, dass der Schengenraum zerstört wird. Ihr Vorgehen war nicht, um es in Merkeldeutsch auszudrücken, „alternativlos“. Wenn ein Land wie Ungarn die Flüchtlinge an seinen Außengrenzen nicht humanitär betreuen kann, dann ist nicht die einzige Alternative, diese Menschen zu uns zu holen, sondern es wäre rechtsstaatlich vernünftig gewesen, diesem Land und den an seiner Grenze festsitzenden Flüchtlingen vor Ort zu helfen – humanitär, finanziell und organisatorisch. Merkels Vorgehen führt dazu, dass die Idee offener Grenzen in Europa wohl gescheitert ist. Nunmehr sind die Behörden noch mehr überfordert. Von Juni bis Dezember 2015 sind beispielsweise den Kommunen im Kreis Paderborn/NRW 2.000 Flüchtlinge zugewiesen worden. Diese seien zwar inzwischen registriert, berichtet der dortige Landrat. Es sei bislang aber nur 68 gelungen einen Asylantrag zu stellen, also nicht einmal 4 Prozent. Von einer Entscheidung über den Antrag ist dort noch nicht einmal die Rede. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist schlicht nicht in der Lage, genügend Termine anzubieten. Mehr staatliches Versagen gab es noch nie in Deutschland.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.