Beiträge

Photo: University of Liverpool Faculty of Health & Life Sciences from Flickr (CC BY-SA 2.0)

2015 war der Euro-Club der „kranke Mann“ Europas. Er wird es 2016 wohl bleiben. Die Länder, die den Euro eingeführt haben, schwächeln. Sie schwächeln im Wachstum, bei den Arbeitsplätzen und beim Abbau des staatlichen Defizits. Die Folgen sind eine wachsende Verschuldung der staatlichen Ebenen, der privaten Haushalte sowie der Banken und Unternehmen. Nicht bei allen, aber bei der Mehrheit der Mitgliedsstaaten. Der Grund dieser Schwäche ist die Trägheit, Saturiertheit und Langsamkeit des gesamten Euro-Clubs. Das hat wiederum viel mit dem Umgang innerhalb der Währungsunion zu tun und weniger mit seinem Rechtsrahmen.

Die Gründerväter des Euros glaubten, dass die Einführung des Euro zu einer Angleichung der Ökonomien führen würde und zu einem wachsenden Wohlstand für alle. Die Maastricht-Kriterien, die fiskalische Disziplin erzwingen sollten, eine unabhängige Notenbank und eine EU-Kommission, die als Hüterin des Rechts, darüber wacht, sollte die Konvergenz schaffen. Diese These war und ist bei vielen Ökonomen in Deutschland beliebt. So formulierte bereits 1992 der spätere Bundespräsident und damalige Finanzstaatssekretär Horst Köhler im Spiegel-Interview: „Mit dem Maastrichter Ergebnis schreiben wir die soziale Marktwirtschaft als Ordnungsmodell für Europa fest. Das gibt uns die Möglichkeit, in Ruhe und Stabilität im Laufe der Zeit Entwicklungsunterschiede in Europa auszugleichen. Davon werden wir alle profitieren.“

Gemeinhin meint man in Deutschland andere in Europa hätten diese Logik nicht verstanden. Doch das ist nicht so. Der spanische Ökonom Jesús Huerta de Soto, einer der herausragenden und klugen Ökonomen Spaniens und Anhänger der Österreichischen Schule der Ökonomie, spricht sogar davon, dass der Euro wie der historische Goldstandard die Regierungen diszipliniere. Er meint sogar, der Euro treibe zu haushälterischer Strenge, tendenziell die Wettbewerbsfähigkeit erhöhenden Reformen und setze den Missbräuchen des Wohlfahrtsstaates und der politischen Demagogie ein Ende.

Was beide, Köhler und de Soto, völlig unterschätzten, ist das fehlende Verständnis in den Euro-Staaten, in der Kommission und erst recht in der EZB für den gemeinsamen Ordnungsrahmen. Dieser setzt nicht nur den gemeinsam ratifizierten völkerrechtlichen Vertrag voraus, sondern das gemeinsame Verständnis darüber, was man unterschrieben und welche Konsequenzen dies hat. Und gerade daran mangelt es. Besonders deutlich wurde dies vor Weihnachten im Parlament der Europäischen Union. Dort sagte EU-Kommissionspräsident Juncker mit Blick auf den Europäischen Stabilitätspakt und das erneute Hinausschieben des französischen Defizitabbaus: In der EU gehe es „nicht um Rechtsregeln oder Prozentzahlen, sondern um Menschen und die politischen Entscheidungen, die sie betreffen.“ Hier spricht der Pragmatiker, der von Fall zu Fall entscheiden will, was richtig und notwendig ist. So sieht in der Praxis die „Hüterin des Rechts“ aus. Und Mario Draghi, dem die Staatsfinanzierung über die Druckerpresse verboten ist, macht genau dies mit der EZB und verlängert sein Schuldenaufkaufprogramm nochmals.

Die Befürworter dieses Pragmatismus, betonten die Notwendigkeit der Maßnahmen, mit der benötigten Zeit für die entsprechenden Anpassungsmaßnahmen in den Problemländern. Doch halt: Im kommenden Jahr ist bereits das neunte Jahr nach der Bankenkrise, die 2007 ihren Beginn nahm. Seitdem hat sich die Verschuldung in den Krisenstaaten wie Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, Griechenland, Zypern massiv erhöht. Die Arbeitslosigkeit hat in diesen Ländern historische Höchststände erreicht. Bis auf Spanien ist das Wachstum überall mau und das staatliche Defizit groß.

Es ist genau das Gegenteil eingetreten, was Köhler, de Soto und anderen vorausgesagt haben. Die Praxis des Euro hat nicht zur Konvergenz, sondern zur Divergenz der Ökonomien geführt. Nicht der Geist des Euros war daran Schuld, sondern das Schleifen des Rechtsrahmens durch die Institutionen selbst. Dadurch sind die Regeln beliebig geworden. Das ist zumindest historisch uneuropäisch. Die europäische Freiheitsidee hat sich vor Jahrhunderten gerade gegen die Allmacht der Herrschenden durchgesetzt, weil Bürger ihren Königen und Fürsten abtrotzten, dass diese nicht über dem Recht stünden, sondern ihm untergeordnet sind. Die Herrschaft des Rechts ist Teil der Kulturtradition Europas. Eine Rückbesinnung auf diese Tradition ist gleichzeitig die Überlebenschance für die gemeinsame Währung – vielleicht ihre einzige.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Phillip from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Es sei die beste Rede gewesen, die Angela Merkel jemals gehalten hat. So hat es wohl die Presseabteilung des Konrad-Adenauer-Hauses am Ende der Parteitagsrede Merkels den Journalisten ins Notizbuch diktiert. Genauso war es dann am nächsten Tag in den meisten Tageszeitungen zu lesen. 73 Minuten und 6 Sekunden dauert sie. Anschließend applaudierte der Parteitag 9 Minuten lang. Auch das wurde dokumentiert und analysiert. Es war weniger Applaus als 2014, aber mehr als 2013. „Gott sei Dank“ werden die Parteitagsstrategen wohl gedacht haben. Doch im Lichte betrachtet, muss man sagen, es war eher ein Rechenschaftsbericht als eine Rede: Was sie über das Jahr gemacht hat, welche Kollegen sie getroffen hat und so.

Sing-Sang der Verantwortungslosigkeit

Doch es wurde klar, was Merkel antreibt. Eine Vision oder ein Kompass ist es sicherlich nicht. Denn wenn sie davon spricht, es seien die europäischen Werte auf dem Prüfstand gestanden und es sei ein „humanitärer Imperativ“ gewesen, den an der ungarischen Grenze festsitzenden Flüchtlingen zu helfen, dann bleibt das im weichen Singsang. Sie versucht, sich ihrer Verantwortung als Kanzlerin und als Regierungschefin zu entziehen. Der „humanitäre Imperativ“ ist nicht das, was sie unterstellt. Nicht Frau Merkel ist an die ungarische Grenze gefahren und hat den Flüchtlingen eine warme Suppe oder frische Kleidung gebracht, genau das wäre ein „humanitärer Imperativ“ gewesen, sondern sie hat stattdessen europäisches Recht ausgesetzt. Vielleicht hätte sie sich an Wilhelm von Humboldt orientieren sollen, der die Erzwingung der Gesetze als einzige legitime Funktion des Staates sah. Das bedeutet im Falle der Flüchtlinge an der ungarischen Grenze eben nicht, dass Angela Merkel das Recht hat, das Dubliner Abkommen einfach auszusetzen, sondern sie hätte darauf drängen müssen, dass es durchgesetzt wird. Das entbindet die deutsche Regierung jedoch nicht, Hilfe zu leisten. Es wäre schon Monate vor dem 4. September möglich gewesen, den überforderten Ländern an der Außengrenze der EU organisatorische, finanzielle und humanitäre Hilfe anzubieten. Stattdessen schleift Merkel europäisches Recht und sorgt dafür, dass der Schengenraum implodiert. In ihrer Rede hat sie zwar den Schengenraum als große Errungenschaft in Europa herausgestellt, was dieser zweifelsohne auch ist. Jedoch ist es ihr individuelles Handeln, das ihn zum Einstürzen bringt.

Keine gute Rede, aber vor allem: Keine gute Politik

Jetzt wird gekittet und geflickt. Sichere Herkunftsstaaten werden neu definiert, Sach- statt Geldleistungen ausgereicht, sechsmonatige Verwahrung in den Aufnahmeeinrichtungen angeordnet, 4.000 neue Stellen in der Bürokratie geschaffen, der Türkei Milliarden versprochen und den Bundesländern und Kommunen einen Teil der Kosten ersetzt. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel rechnet bis Ende 2017 mit Mehrausgaben für den Staat von 135 Milliarden Euro. Schon pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass Steuererhöhungen vorbereitet werden. Vielleicht erst nach den Landtagswahlen im Frühjahr. Vielleicht nur die Mineralölsteuer. Gut, dass der Dieselkraftstoff aktuell so billig ist. Am verlässlichsten und ergiebigsten für den Finanzminister ist zweifelsohne die Mehrwertsteuer. Nein, nein, der „humanitäre Imperativ“ muss uns etwas Wert sein. Nein, Frau Merkel hat nicht nur keine gute Rede auf dem Parteitag gehalten, sie hat vor allem keine gute Politik gemacht.

Photo: big-ashb from flickr (CC BY 2.0)

In diesen Tagen der europäischen Krise werden wieder die europäischen Werte beschworen. Europa sei eine Wertegemeinschaft, betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel neulich im Parlament der Europäischen Union. Merkel bezog diese floskelhafte Aussage auf die Flüchtlingskrise. Sie forderte, Europa müsse sich an Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, der Achtung von Minderheiten und Solidarität orientieren.

Kampf um Werte in Europa – banalisiert

Zweifelsohne sind dies wichtige Werte, die Europa historisch verbinden. Es waren spanische Dominikaner, die im 16. Jahrhundert beim Anblick der Unterdrückung der Bevölkerung in Mittel- und Südamerika die Menschenwürde als universelles Grundrecht gegenüber dem spanischen König einforderten. Es war im 13. Jahrhundert die Magna Charta, die die Willkür des englischen Königs beschnitt und den Weg zum Rechtsstaat bahnte. Schon im 16. Jahrhundert wurden die Werte Toleranz und Achtung von Minderheiten eindrücklich verwirklicht, als etwa das Königreich Polen-Litauen verfolgten Protestanten aus ganz Europa eine neue Heimat gab. Und es war der als Sankt Martin verehrte Bischof von Tours, der im 4. Jahrhundert seinen Mantel aus freien Stücken mit einem Bettler am Wegesrand geteilt hat.

Ob Angela Merkel wohl an diese historischen Ereignisse gedacht hat? Es spricht nicht viel dafür. Doch da ist sie nicht alleine. Heute werden die Werte Europas umgedeutet und in Sonntagsreden banalisiert. In der real existierenden Europäischen Union wird unter Menschenwürde der Beschäftigung vernichtende Mindestlohn und unter Rechtsstaatlichkeit die Vertragsbrüche von Maastricht und Dublin verstanden, unter Toleranz die Regulierung von Kerzen, Ölkännchen und Glühbirnen, unter der Achtung von Minderheiten die Förderung der Nomenklatura in Brüssel und unter Solidarität die Rettung europäischer Banken. Die europäische Wertegemeinschaft ist ein Wieselwort. Erst durch konkrete Institutionen werden abstrakte Werte real und fassbar.

Die Trennung von Kirche und Staat, Marktwirtschaft, individuelle Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie sind Institutionen, die diese Werte Wirklichkeit werden lassen. Die Trennung von Kirche und Staat ist das Ergebnis eines über Jahrhunderte ausgetragenen Machtkampfes zwischen den Kirchen und den weltlichen Herrschern. Der Drang der Kaiser und Könige, sich in innerkirchliche Belange einzumischen, und das Ansinnen der Päpste und Bischöfe, sich die weltlichen Herrscher zu ihren Untertanen zu machen, hat eine Machtbalance hervorgebracht, deren Ergebnis die tatsächliche Trennung der beiden Bereiche war. Anders als etwa in den meisten islamischen Staaten, die keine Trennung zwischen Religion und Staat kennen. Ein entscheidender Unterschied ist, dass in unseren Breitengraden das kirchliche Recht nicht über dem staatlichen Recht steht, sondern ihm untergeordnet ist. Zwar entstammt die europäische Rechtstradition auch dem kanonischen, also kirchlichem Recht, aber auch dies entstammt letztlich griechisch-römischer Rechtstradition.

Wachsende Kluft zwischen Werten und Institutionen

Die Marktwirtschaft und der Kapitalismus haben ihre Verankerung im Privateigentum und im Individualismus. Beides verdanken wir der schottischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, dessen prominentester Vertreter Adam Smith war. Einige wesentliche Erkenntnisse über deren Funktionieren haben sogar bereits die scholastischen Philosophen im 13. Jahrhundert und die Gelehrten der Schule von Salamanca im 16. Jahrhundert gewonnen und formuliert.

Die individuelle Freiheit folgt der Erkenntnis, dass nicht das Streben nach gemeinsamen Zielen eine freie und offene Gesellschaft ermöglicht, sondern, dass die größtmögliche Verwirklichung individueller Freiheit am Ende auch die Freiheit einer ganzen Gesellschaft mehrt.

Der Rechtsstaat sichert in der Tradition eines Immanuel Kant die Gleichheit vor dem Gesetz. Sein kategorischer Imperativ: “Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde” hat nicht nur die europäische Verfassungsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert maßgeblich beeinflusst, sondern auch die amerikanische.

Das Aufbegehren gegenüber den Königen und Fürsten durch das Volk brachte letztlich auch die Demokratie hervor, deren Wurzeln wir in der Schweiz verorten können wie in Großbritannien, in den Niederlanden wie in Polen. Bald erkannte man, dass es nicht genügt, nur dem reinen Mehrheitsprinzip zu folgen, sondern, dass man Demokratie einhegen muss in einen Grundrechtskatalog, der das Individuum vor der Despotie der Mehrheit schützt. Heute wissen wir, dass Fortschritt darin besteht, dass die Wenigen die Vielen überzeugen. Neue Ideen treten zuerst bei Einzelnen auf, bevor sie zur Mehrheitsmeinung werden können.

Diese Institutionen entstammen einer europäischen Wertetradition, die längst vergessen scheint, weil Werte und Institutionen immer wieder auseinander klaffen. Sie wieder an das Tageslicht zu bringen, würde Europa helfen, seine Krise zu überwinden und der europäischen Wertegemeinschaft wieder einen Sinn zu geben.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Tichys Einblick.

Photo: Jorbasa Fotografie from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Von Dr. Karolin Herrmann, Referentin für Haushaltspolitik und Haushaltsrecht beim Deutschen Steuerzahlerinstitut

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt und als hätte man darauf gewartet, gab die Europäische Kommission unlängst eine zur Vorweihnachtszeit passende Mitteilung heraus. Darin plant sie neue Sicherheitsanforderungen für Kerzen, Kerzenhalter und Kerzenzubehör, denn diese, so die Kommission, könnten ein Risiko für die Verbrauchersicherheit darstellen. Was unter einer Kerze zu verstehen ist, liefert der Text gleich mit – nämlich ein „Produkt, das aus einem oder mehreren brennbaren Dochten besteht, die von einer bei Raumtemperatur (20 °C bis 27 °C) halbfesten Brennmasse gestützt werden.“ Um den Verbraucher zu schützen, hat sich das europäische Expertengremium besondere Sicherheitsanforderungen einfallen lassen. So sollen frei stehende Kerzen oder Kerzen, die mit einem Halter oder Behälter geliefert werden, nicht umkippen dürfen. Bei Kerzen, die ohne Halter oder Behälter geliefert werden, muss der Hersteller den Verbraucher künftig darauf hinweisen, dass die Verwendung eines geeigneten Halters erforderlich ist.

Kurzum, die meisten Passagen lesen sich wie ein Paradestück aus dem Brüsseler Kuriositätenkabinett. Warum mich solche Texte ärgern? Sie degradieren den Bürger zum Kleinkind – getreu dem Motto „Messer, Gabel, Schere, Licht – sind für kleine Kinder nicht.“ Aber ist es nicht in der europäischen Verantwortung, den Bürger vor Feuerschäden zu bewahren? Ist es nicht begrüßenswert, wenn uns die EU vor Alltagsgefahren schützt? Warum soll sich die EU nicht um unsere Sicherheit sorgen? Weil eine solche Regelung gegen die Grundprämisse gelebter Subsidiarität verstößt! Liegt es doch in der Verantwortung des Einzelnen und ist es doch eine Frage des gesunden Menschenverstands, wackelige Kerzen nicht ohne geeignete Unterlage anzuzünden. Der sichere Umgang mit entflammbaren oder scharfen Gegenständen ist Teil eines individuellen Erziehungs- und Lernprozesses und erfordert keine supranationale Initiative. Die europäische Fürsorge und Zwangsbeglückung ist Kalkül und zugleich Deckmäntelchen, um supranational mehr Kompetenzen und ein höheres Budget durchsetzen zu können. Befindet sich Europa also in der Wohlfühlfalle?

Allein in diesem Jahr wurden auf europäischer Ebene mehr als 1.800 Rechtsakte auf den Weg gebracht. Tatsächlich entbehren viele Verordnungen und Richtlinien jeglicher ordnungspolitischen Grundlage. Nehmen Sie nur die Richtlinie Nummer 603/2013, nach der die Kennzeichnung von Säuglingsnahrung so zu gestalten ist, dass sie Mütter nicht vom Stillen abhält. Der Verordnungsgeber vermutet, dass Frauen durch Babyfotos auf Milchpulververpackungen manipuliert werden könnten und verbietet ab Sommer 2016 eine entsprechende Bebilderung. Auch hier muss die Frage erlaubt sein, ob sich die EU wirklich um den Schutz von Kleinkindern bemüht oder den Eltern unvermittelt Fehlverhalten unterstellt.

Spätestens hier schließt sich die grundsätzliche Frage an, wie die Kompetenzen innerhalb der Europäischen Union zu verteilen sind. Politikwissenschaftler verweisen dabei gern auf ein Demokratiedefizit in der EU. Es fehle an einer strikten Trennung der „Staatsgewalten“. Tatsächlich haben sowohl die Europäische Kommission als auch der Ministerrat Kompetenzen, die sich auf die Exekutive und auf die Legislative beziehen. Der Kommission obliegt neben dem Initiativrecht für die Gesetzgebung auch die Kompetenz, die Umsetzung des EU-Haushalts zu kontrollieren. Der Ministerrat kann Rechtsakte beschließen und internationale Verträge aushandeln, hat aber auch Kompetenzen der initiierenden und ausführenden Exekutive, denn er entscheidet aufgrund der rotierenden Ratspräsidentschaften über die Gesetzgebungsagenda.

An der Wahl der Kommission sind die Bürger weder unmittelbar noch mittelbar beteiligt. Die Kommissionsmitglieder werden alle fünf Jahre von den Mitgliedstaaten gewählt, das Europäische Parlament bestätigt das gesamte Kollegium via Zustimmungsvotum. Ein Misstrauensvotum für einzelne Kommissionsmitglieder gibt es nicht.

Der Ministerrat setzt sich je nach Sachthema aus den jeweiligen Fachministern der Mitgliedstaaten zusammen. Das Demokratiedefizit besteht in der Zusammensetzung des Ministerrats. Die jeweiligen Fachminister der Mitgliedstaaten werden nur mittelbar von den Bürgern der Europäischen Union gewählt und kontrolliert. Die Bekleidung der Ministerposten erfolgt auf nationaler Ebene über Wahlen. Hier werden die Bürger ihre Entscheidung aber primär an der nationalen Politik ausrichten.

Dem Ministerrat steht der Ausschuss der ständigen Vertreter (COREPER) zur Seite. Dem Gremium sind etwa 300 Arbeitsgruppen aus 28 EU-Mitgliedstaaten untergeordnet, in denen nationale Beamte themenbezogen zusammenarbeiten. Der COREPER bereitet die Ratssitzungen vor, beschließt die Tagesordnungen und legt dem Ministerrat entscheidungsreife Entwürfe vor, die meist nur noch der förmlichen Zustimmung bedürfen. Die Sitzungen des COREPERs und des Ministerrats finden in der Regel nicht öffentlich statt. Eine demokratische Legitimierung und Kontrolle des Ministerrats ist durch das hochgradig administrativ verflochtene COREPER nicht gegeben.

Diese wenigen Spiegelstriche verdeutlichen, dass es in der EU tatsächlich ein Demokratiedefizit gibt. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass es im Zuge des Lissabon-Vertrags bereits Verbesserungen gegeben hat und die Kompetenzen des Europäischen Parlaments gestärkt wurden. Die Frage ist auch, ob eine alleinige Verringerung des Demokratiedefizits in der EU genügt, um die europäischen Kompetenzen wirksam zu beschränken. Demokratie ist ein Willensbildungsverfahren und Ausdruck der jeweiligen Mehrheitsmeinung. Demokratie ist eine gute und die wahrscheinlich am ehesten Freiheit schaffende Methode, um widerstreitende Meinungen zu vereinen. Demokratie ist aber nur eine hinreichende und keine notwendige Bedingung, um Willkür, Ad-hoc-Gesetzgebung und politische Selbsterhaltungsinteressen wirksam zu begrenzen.

Europa braucht einen Ordnungsrahmen, der sich aus universalen Regeln zusammensetzt. Dazu gehört etwa die Verteidigung der mit dem europäischen Binnenmarkt verbundenen Grundfreiheiten oder die Schaffung eines Rechtsrahmens, um den grenzüberschreitenden Wettbewerb zu regeln. Hingegen kann eine politische Vertiefung nicht mit der steigenden gesellschaftlichen Komplexität und Vielfalt harmonieren. Oder akademisch ausgedrückt: Die Präferenzverfehlungskosten einer supranational koordinierten Politik steigen mit der Heterogenität der nationalen Systeme. Wie wichtig eine Prioritätensetzung in der EU ist, zeigt die aktuelle Flüchtlingskrise. Die Entgrenzung europäischer Zuständigkeiten in der Verbraucherpolitik steht im traurigen Widerspruch zum augenscheinlichen Unvermögen, auf europäischer Ebene eine Lösung der Flüchtlingskrise herbeizuführen.

Photo: George Redgrave from Flickr. (CC BY-ND 2.0)

In der Euroschuldenkrise sitzt Deutschland in der Falle. Zwar versucht die Bundesregierung seit der Ursünde von 2010, der ersten Rettung Griechenlands vor der Insolvenz, den Prozess zu gestalten. Tatsächlich wird sie aber von den Schuldenländern vor sich hergetrieben. Immer mehr kommt es zu einer vollständigen Vergemeinschaftung der Schulden. Diese Sozialisierung vollzieht sich jedoch nicht nur bei der Einstandspflicht jedes Mitgliedsstaates des Europäischen Währungsraumes im Rahmen des 2012 geschaffenen Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, sondern geht weit darüber hinaus.

Es ist ein perfides Machwerk, dass sich die Eurokraten in Brüssel dafür ausgedacht haben. Die „Bankenunion“ ist das Vehikel nicht nur für die Vergemeinschaftung der Schulden, sondern bald auch der Spareinlagen im Euro-Club. Das ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Doch wer die Situation in den Krisenländern Südeuropas betrachtet, kommt nicht herum, die Lage als zutiefst besorgniserregend zu erkennen. Hier reicht schon ein Blick nach Italien. Immerhin die drittgrößte Volkswirtschaft im Euro-Raum. Die Staatsschulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung der Italiener sind mit 136 Prozent so hoch wie noch nie seit 90 Jahren. Die italienischen Banken haben über 200 Milliarden Euro fauler Kredite von Unternehmen und private Haushalten in ihren Büchern. Das sind über 12 Prozent der Kredite, die an diese Gruppen ausgegeben wurden. Beide Kennzahlen, die Staatsverschuldungsquote und die Quote der faulen Kredite, steigen weiterhin Monat für Monat an. Die Situation Italiens ist erschreckend schlecht. Jedoch sinkt die Rendite italienischer Staatsanleihen seit 2012 kontinuierlich – aktuell auf 1,44 Prozent bei 10jährigen Staatsanleihen.

Dieses Paradoxon, immer mehr Schulden zu machen, aber immer weniger dafür bezahlen zu müssen, hat zwei wesentliche Ursachen. Zum einen die Intervention in die Anleihemärkte der Euro-Staaten durch den Italiener im Amte des EZB-Präsidenten, Mario Draghi. Zum anderen hat das Inkrafttreten des ESM ebenfalls dazu beigetragen, dass Italien sich billiger refinanzieren kann. Der ESM fungiert als eine Art Versicherung. Er sichert den Gläubigern Italiens zu, dass deren Anleihen weniger stark ausfallgefährdet sind. Als Garantiegeber fungiert dafür das ESM-Eigenkapital der Eurostaaten. Dies ist zwar der Höhe nach auf die jeweiligen Einlagen begrenzt (für Deutschland rd. 190 Mrd. Euro), doch diese Begrenzung ist nur momentan fix, sie kann durch die Mitgliedsstaaten bei Bedarf an- oder sogar aufgehoben werden. Dass dies auch die Marktteilnehmer so sehen, kann an der Entwicklung der Renditen kurzlaufender Anleihen bereits beobachtet werden. Dort ist die Beistandspflicht Deutschlands für andere Euro-Staaten eingepreist.

Die Bankenunion ist neben dem ESM die entscheidende Schlinge. Schritt für Schritt zieht sie sich zu. Die Konzentration der Bankenaufsicht bei der EZB, die Schaffung eines zentralen Restrukturierungs- und Abwicklungsmechanismus für Banken und bald auch eine gemeinsame Einlagensicherung aller Banken vollenden diesen Prozess. Wenn dieser Dreiklang umgesetzt ist, dann kann die EZB einseitig die Schieflage einer Bank feststellen, sie mit Geld aus dem Abwicklungsfonds, in die alle Banken des Euro-Clubs eingezahlt haben, abwickeln und die Einlagen der Sparer retten durch den gemeinsamen Einlagesicherungsfonds, in den wiederum alle Banken, Sparkassen und Volksbanken einzahlen müssen.

Damit wird der Kreis der Zahler vom Steuerzahler in den Geberstaaten auf die Sparer in den Geberstaaten erweitert. Gegen diese Entwicklung kann die Bundesregierung faktisch nur noch begrenzt etwas unternehmen. Denn die EU-Kommission stellt sich bei ihrem Verordnungsvorschlag für eine einheitliche Einlagensicherung auf den Standpunkt, dass für die Beschlussfassung im Europäischen Rat lediglich eine doppelte Mehrheit notwendig ist. Mindestens 55 Prozent der Mitglieder müssen zustimmen, die wiederum mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren müssen. Angela Merkel kann die Vergemeinschaftung der Spareinlagen nicht ohne Verbündete stoppen. Doch die sind rar und müssen mit der Lupe gesucht werden.

Wolfgang Schäuble kann noch so laut Zeter und Mordio rufen, das Kind ist bereits viel früher in den Brunnen gefallen. Die Einführung des ESM und die Konzentration der Bankenaufsicht bei der EZB waren die entscheidenden Weichen. Was jetzt kommt, sind lediglich Folgen dieser Fehlentscheidungen. Sämtliche Rückzugsgefechte Schäubles sind daher nur Schattenboxen auf höherem Niveau. Sie sollen den Sparkassen, Volksbanken und den Sparern in diesem Land das Gefühlt geben, der Finanzminister nehme ihre Sorgen erst. Insgeheim hat er sie auf dem Altar in Brüssel geopfert.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Tichys Einblick.