Photo: Mike Beales from Flickr (CC BY-ND 2.0)
Forderungen nach einer „Demokratisierung“ der EU laufen meist auf eine Stärkung von EU-Instanzen wie Parlament und Kommission heraus. Demokratie funktioniert jedoch umso besser, je mehr auf überschaubaren Ebenen entschieden wird. Die baltischen Staaten haben eine solche überschaubare Größe und sind auch darüber hinaus vorbildlich.
Demokratie: der Bürger als Wächter seiner eigenen Interessen
Es ist ein grundlegendes Missverständnis, Demokratie lediglich mit einem Abstimmungsmodus oder einer Institution zu verbinden. Demokratie heißt vor allem auch, wie es der englische Historiker Lord Acton einmal formulierte, „jeden Bürger zum Wächter seiner eigenen Interessen zu machen“. Darum ist es durchaus sinnvoll, dass wir etwa bei der Beschreibung unseres Staatswesens stets von einer „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ sprechen. Die EU wird nicht demokratischer, wenn ein Parlament gemeinsam Entscheidungen trifft über Steuern, Ausgaben und Gesetze für über 500 Millionen Menschen von Gibraltar bis Lappland, von Zypern bis Nordirland. Die EU wird demokratischer, wenn mehr Entscheidungen auf möglichst niedriger Ebene gefällt werden können. Ursprünglich stand dieses Subsidiaritätsprinzip ja auch einmal an der Wiege der Europäischen Union. Leider wurde es von dort bald in den Antiquitätenschrank verbannt, wo es nur noch für Sonntagsreden herausgeholt wird.
Eine wirkliche Demokratisierung der Europäischen Union würde darin bestehen, möglichst kleinen Einheiten möglichst große Kompetenzen zuzugestehen. Entscheidend für das Gelingen dieses Konzepts ist, dass die Einheiten eine überschaubare Größe haben. Verantwortlichkeiten müssen klar zu durchschauen sein. Konsequenzen aus politischen Entscheidungen klar definierbar und für die Betroffenen spürbar. Und Exit-Optionen müssen mit nicht allzu hohen Kosten verbunden sein. Bei einer weitgehend einheitlichen EU bleibt neben der Schweiz und Norwegen (die man sich erst einmal leisten können muss) nur noch die Auswanderung auf einen anderen Kontinent. Das sind bei weitem zu hohe Kosten für eine „Abstimmung mit den Füßen“.
Small is beautiful
Viele europäische Staaten sind eigentlich bereits zu groß, um die oben beschriebenen Kriterien zu erfüllen. Die baltischen Staaten haben hingegen Größen, die der sinnvollen Organisation eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens durchaus noch angemessen sind: Litauen mit 2,9 Millionen, Lettland mit etwa 2 Millionen und Estland mit 1,3 Millionen Einwohnern. Litauen ist also etwas kleiner als Berlin, Lettland so groß wie Ostwestfalen-Lippe und Estland wie der Regierungsbezirk Unterfranken.
Bei solchen Größen kennt man sich zwar nicht mehr persönlich, aber man teilt doch ähnliche Lebenswelten und kann den Nutzen oder Schaden von Entscheidungen noch verhältnismäßig gut übersehen. Hier ist das Einfallstor noch schmal für eine Umverteilung, die lauter Sonderinteressen bedient. Hier ist die Kontrolle von Politikern noch relativ leicht durchzuführen, einschließlich der Möglichkeiten, auf sie Druck auszuüben. Hier sind Politik und Bürokratie noch nicht in der vollen Anonymität und Symbolik verschwunden wie das bereits in den meisten europäischen Staaten der Fall ist, von der EU ganz zu schweigen.
Erfolgsgeschichten im Baltikum
Sicherlich tragen viele unterschiedliche Faktoren dazu bei, dass die baltischen Staaten in den Jahren seit ihrer Unabhängigkeit im Ganzen gesehen Erfolgsgeschichten geschrieben haben. Dennoch ist der Faktor der Größe nicht unwesentlich, weil sich viele Reformen und Innovationen überhaupt nur in diesem kleinen Kontext durchsetzen ließen. Denn kleine Einheiten sind nicht nur sehr viel einfacher echter demokratischer Kontrolle zu unterwerfen – kleine Einheiten sind auch ungleich flexibler, wenn es darum geht, auf Krisen zu reagieren oder unkonventionelle Wege zu beschreiten.
In allen drei Staaten wurden nach deren wiederhergestellter Unabhängigkeit im Jahr 1991 sehr umfassende marktwirtschaftliche Reformen in Gang gesetzt. Dieser Geist hat sich auch bis heute in großen Teilen durchgehalten und gehört zum Konsens der meisten politischen Parteien in den drei Ländern. Lettland hat sich aus einer massiven wirtschaftlichen Krise zwischen 2008 und 2010 durch für europäische Verhältnisse unerhörte Reform-Maßnahmen rasch wieder herauskatapultiert. Die Stellen im öffentlichen Sektor wurden um ein Drittel abgebaut, Löhne und Gehälter gekürzt und das Staatsdefizit nachhaltig reduziert. Die Folge war ein deutlicher Rückgang von Inflation, Arbeitslosenrate und ein deutlicher Anstieg des Wirtschaftswachstums. Eine Expertenstudie aus dem Jahr 2012 stellte fest: „Der Erfolg Lettlands lehrt, dass ein flexibler Arbeitsmarkt, verbesserte Rahmenbedingungen für Unternehmen und ein breiter gesellschaftlicher Konsens für Reformen eine wichtige Rolle spielen, um die Krise zu überwinden.“
Ein Europa, das dem Bürger dient
Nur Luxemburg hat im Euro-Raum eine ähnlich niedrige Staatsschuldenquote wie Estland (10,2% des BIP), Litauen (35,7 %) und Lettland (36,0 %). Gleichzeitig haben die drei Länder auch mit die niedrigsten Staatsquoten in Europa (Estland: 38,8 %; Lettland: 36,9 %; Litauen: 34,9 %). Während EU-weit die Arbeitslosigkeit seit dem Jahr 2010 nur um 0,3 % reduziert worden ist, ist sie in Litauen von 17,8 auf 9,6 Prozent zurückgegangen, in Lettland von 18,7 auf 9,8 und in Estland gar von 16,9 auf 5,7 Prozent. In allen drei Ländern gibt es eine Flat Tax und ein verhältnismäßig geringes Maß an Regulierungen – soweit das im Rahmen der EU noch möglich ist. Insbesondere Estland hat auch eine bemerkenswerte politische Kultur: Man kann dort per SMS wählen, es gibt die Möglichkeit einer e-residency und in fast 7 der 24 Jahre estnischer Unabhängigkeit wurde das Land von Ministerpräsidenten regiert, die unter 40 Jahre alt waren – der amtierende Taavi Roivas kam vor anderthalb Jahren im Alter von 34 Jahren ins Amt.
Eine langfristige Perspektive für die EU kann sich an diesen Staaten orientieren, die in vielerlei Hinsicht moderner sind als die großen Nationalstaaten im Westen Europas. Das wäre eine EU, in der kleinen Einheiten ein möglichst hohes Maß an Eigenständigkeit zugestanden wird. Die Brüsseler Politik und Bürokratie würden von ihrem Status als Planer zurückgestuft auf den von Diplomaten und Wächtern. Ihre Rolle bestünde darin, die Zusammenarbeit der kleinen Einheiten in verschiedenen Clubs (wie beispielsweise Schengen oder der Euro-Zone) zu koordinieren und eventuell auch eine gemeinsame Sicherheitspolitik zu koordinieren. Und sie bestünde ganz wesentlich darin, die Einhaltung der vier Grundfreiheiten der Europäischen Union zu überwachen und durchzusetzen. Alle anderen Hoheitsrechte würden hingegen auf jene Einheiten übertragen, wo sie der Bürger tatsächlich und real kontrollieren und bestimmen könnte. Es wäre ein Europa der Bürger, das den ursprünglichen Geist der Demokratie wieder ernst nimmt: jeden Bürger zum Wächter seiner eigenen Interessen zu machen. Es wäre ein Europa, das den Fortschritt fördert, dem Frieden dient und die Freiheit garantiert.
Ein ungeheuer wichtiges Thema wird angesprochen und der Ansatz ist erfreulich, was aber verschenkt wird: Aus der anhand einer Aufzählung von Einzelheiten behaupteten Modernität lässt sich auf deren
Leistungsfähigkeit nicht schliessen. Für die baltischen Staaten disqualifiziert sich m.E. eine derartige Aufzählung ohne eine Diskussion der Demographie (manchmal scheint außer dem jeweiligen Ministerpräsidenten die ganze Jugend Richtung Arbeitsplätze ausgewandert). Am schiefsten ist die Gedankenfolge soweitnahe gelegt wird, man müsse die EU nur in kleine Staaten teilen, damit sie
demokratisch leistungsfähig werde – Schottland und Katalonien drohen!
Ich habe acht Jahre lang im Baltikum gelebt. Ich liebe die Menschen dort. Vor allem die Esten sind tatkräftig, positiv, sachlich und ergebnisorientiert.
Die Schlussfolgerung des Autors ist jedoch rein willkürlich. Hier hat jemand zuerst seinen Wunsch formuliert (kleinere politische Einheiten) und danach willkürlich die baltischen Erfolge damit erklärt.
Tatsächlich hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. Die Esten sind nicht erfolgreich, weil sie klein sind. Sie sind erfolgreich, weil sie nach der Unabhängigkeit *nichts* hatten – auch keine vorgefertigte Weltsicht.
Stattdessen schauen Esten auf das was *wirklich funktioniert*. Sie suchen den kürzesten Weg zum Erfolg – nicht den ideologisch korrekten Weg. Wenn man *nichts* hat, kann man sich solche Spielchen nicht erlauben.
Bei jedem Problem fragen sie: „Wie kann ich das am Besten lösen?“. Und wählen dann die *passendste* Struktur. Für manche Fragen ist das der einzelne Mensch. Andere Themen kann eine Stadt allein entscheiden. Und manche Themen sind am Besten auf der Europäischen Ebene angesiedelt.
Föderalismus funktioniert in beide Richtungen. Verteidigung, Handelsabkommen, Digitalisierung und viele andere Themen können wir nur gemeinsam als Europäer bewältigen.
Esten, Letten und Litauer verstehen das und sind darum große Fans der Europäischen Union.
Mein Rat: Lernen wir von den Esten. Lernen wir unsere Lösungen der Wirklichkeit anzupassen, statt die Wirklichkeit in ein ideologisches Konzept zu zwängen.
http://www.pyak.de/zeit-fuer-ein-europa-der-buerger/