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Photo: Christopher L. from Flickr. (CC BY 2.0)

Von Robert Nef, Stiftungsratsmitglied des Liberalen Instituts der Schweiz, Zürich.

Die EU beruht auf einem veralteten, territorialen, etatistischen und korporatistischen Konzept, dessen Ursprünge in die Nachkriegszeit und in die Zeit des Kalten Krieges zurückreichen. Sie verfolgt explizit und implizit sechs Hauptziele: Friedens- und Verteidigungsunion, aussenpolitische Union, Wirtschafts-, Währungs-, Fiskal- und Sozialunion. Von den sechs Zielen sind aus liberaler Sicht lediglich das erste und dritte — und von diesem auch nur die Deregulierung, nicht aber die Harmonisierung und das organisierte Zusammenwirken von Lobbyisten und EU-Bürokratie (Crony Capitalism) — interessant. Die andern vier gefährden nicht nur die nationale Eigenständigkeit der Mitglieder, sondern grundlegende liberale Werte. Aufgrund der allzu ambitiösen Ziele hat die EU unabsehbare zentralistische Entwicklungstendenzen. Und weil wichtige Mitgliedsländer derzeit in Finanznöten stecken, übt sie deswegen zunehmend Druck auf die Schweiz aus.

Die EU ist von ihrer Entstehungsgeschichte und von ihren Strukturen her ein Versuch, die Krisen des national strukturierten, sozialdemokratischen Industriezeitalters auf supranationaler bzw. kontinentaler Ebene zu überwinden. Eigentlich werden aber die durch eine allgemeinverbindliche demokratisch legitimierte nationale Gesetzgebung auf den ersten Blick nicht mehr lösbaren Probleme, zum Beispiel in der Währungspolitik, in der Migrationspolitik und in der tickenden Zeitbombe der kollektiven Altersvorsorge, einfach auf die europäische Ebene gehoben. Die grosse Schwäche der EU im Bereich der Legislativen hängt mit der Tatsache zusammen, dass in einem Staatenverbund, der an sich noch weniger zentralistisch sein sollte wie ein Bundesstaat, mit der EU- Kommission eine einzige schlecht legitimierte zentralistische Institution geschaffen wurde, die angeblich die auf den Verfassungsvertrag abgestützten allgemeinverbindlichen Gesetze erlassen soll. Der Streit um die Gewichtung der nationalen Stimmenanteile bei der kollektiven Meinungsbildung lässt nichts Gutes ahnen. Was daraus folgt, ist eine Verstärkung der heutigen Exekutiv- und Richterherrschaft. Dies täuscht darüber hinweg, dass man einem Kontinent einen Zentralstaat aufzwingen will, dessen historisch-politische Strukturen allenfalls eine nach aussen offene Freihandelsassoziation und allenfalls noch einen auf Frieden und gemeinsame Sicherheit ausgerichteten Staatenbund nahelegen. Schon ein Bundesstaat mit einem funktionierenden Zweikammersystem, in dem die Kleinen, Bevölkerungsschwachen gleiche Mitbestimmungsmöglichkeiten hätten wie die Grossen, wäre – anders als in den USA und in der Schweiz – in der EU nicht konsensfähig. Weder die USA noch die Schweiz kennen übrigens die höchst fragewürdige Praxis des zentralstaatlichen „bail out“ eines bankrotten Gliedstaates.

Die EU ist mithin ein rückwärtsgewandtes Projekt, das im strukturkonservativen Denken des Merkantilismus, der korporatistisch gezähmten bzw. gefesselten Marktwirtschaft, des Kalten Krieges und des entmündigenden Daseinsvorsorgestaates verhaftet geblieben ist und das für die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts schlecht gerüstet ist. Die Europäer stehen vor der Wahl, ob sie durch noch mehr Regulierung, Zentralisierung, Umverteilung und Harmonisierung eine Legitimitätskrise und eine Vollzugskrise ansteuern wollen, oder ob sie noch rechtzeitig den Aufbruch wagen zu offenen Strukturen, in denen autonome Zivilgesellschaften mit kleinen, eigenständigen, schlanken und kostengünstigen politischen Strukturen und in grundsätzlich benutzerfinanzierten oder privatisierten Infrastrukturen friedlich konkurrieren und kooperieren, um unter vielfältigen Lösungen die jeweils adäquateste zu ermitteln und kontinuierlich zu adaptieren.

Mit dieser durchaus in der bürgerlichen Tradition verankerten Option hat die europäische Idee Zukunft. Die Europäer müssen ihre Vielfalt wahren und pflegen und den Weg zu einer neuen EFTA im ursprünglichen Sinn einer – New European Free Trade Association = NEFTA – beschreiten, einer nach innen und aussen offenen Gemeinschaft in der die Mitglieder hohe Autonomie geniessen. Aus diesem Grund sollten wir Europäer die Ambitionen der politisch-administrativen nationalstaats-ähnlichen Megastruktur und allfällige Weltmachtträume hinter uns lassen. Europa braucht enge und flexible wirtschaftliche und kulturelle Kontakte auf der Basis des fremdherrschaftsfreien Tauschs. Europa braucht auch jenen Frieden, den es im Lauf der Jahrhunderte immer wieder selbst zerstört hat. Als Basis einer gemeinsamen Sicherheitspolitik genügt ein robustes Friedensbündnis gestützt auf nationale Streitkräfte, welche die Defensive sicherstellen und interne und allenfalls gegenseitig wieder aufflammende Aggressionsgelüste im Keim ersticken können und auf international vernetzten aber grundsätzlich autonom funktionierenden Geheimdiensten zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität.

Anstelle des unlesbaren Verfassungsvertrags von Lissabon wäre ein kurzes Dokument wie die Magna Charta Libertatum oder der Bundesbrief der alten Eidgenossen in Erwägung zu ziehen. Freihandel entsteht nicht durch neue komplizierte bilaterale und multilaterale Regeln, sondern durch den von den Beteiligten selbstbestimmten, im eigenen Interesse offerierten und vollzogenen schrittweisen Abbau bestehender Schranken.

 

Photo: Tim Samoff from Flickr. (CC BY-ND 2.0)

Man hört in Deutschland zuweilen den Vorwurf, die Meinungsfreiheit sei eingeschränkt, da sie nur noch eine formale Hülle sei. Die öffentlich-rechtlichen Medien würden die veröffentlichte Meinung beherrschen. Selbst zwischen den großen Medienhäusern gebe es ein faktisches Agreement, was politisch korrekt sei und damit veröffentlich werden dürfe. Als Beispiele werden angeführt die zu einseitig verurteilte Rolle Russlands in der Ukrainekrise oder jüngst auch der Umgang mit dem Autor Akif Pirinçci nach seiner Pegida-Rede in Dresden.

Er hat weiter ein Forum

Beides trifft nicht zu. Schon alleine das Internet und die sozialen Medien sichern die Pluralität der Meinungen. Selbst Putin hat mit dem Sender RT in Deutschland inzwischen ein Sprachrohr, das die offizielle russische Sicht der Dinge in die sozialen Medien und die deutsche Öffentlichkeit feuert. Das unterscheidet Deutschland und den Westen von Russland, wo Pressevielfalt und Medienfreiheit in den letzten Jahren immer stärker bedrängt werden.

Bei Pirinçci werden die Reaktionen seines Verlages, der seine Bücher nicht mehr verlegen will, und von Amazon kritisiert, der die Bücher aus seinem Onlineshop nehmen wollte. Diejenigen, die dies monieren, tun dies häufig mit Bezug auf das berühmte Zitat, das eigentlich Voltaire zugeschrieben wird, aber von der englischen Schriftstellerin Evelyn Beatrice Hall stammt: „Ich missbillige, was du sagst, aber ich werde bis zum Tod dein Recht verteidigen, es zu sagen.“

Pirinçcis Rede bei Pegida war nicht nur vulgär und geschmacklos. Sie war auch rassistisch und fremdenfeindlich, vom Anfang bis zum Ende. Punkt! Manche meinen, jetzt mit Relativismus und Pseudotoleranz darauf reagieren zu müssen. Die Zeitschrift „eigentümlich frei“, für die ich bislang geschrieben habe, kündigt sogar prominent an, seine Bücher verkaufen zu wollen. Nicht aus der Überzeugung heraus, dass Pirinçci recht hat, sondern aus einer Haltung des grundsätzlichen Widerstands gegen „die Herrschenden“ heraus. Nach dem Motto: seine Feinde sind auch unsere Feinde. Dafür möchte ich mich nicht weiter hergeben.

Falsch verstandene Toleranz

Was die Verteidiger Pirinçcis nicht erkennen: es ist eine falsch verstandene Toleranz, die Feinde der Toleranz zu tolerieren. Ludwig von Mises stellte schon 1927 in seinem Buch „Liberalismus“ fest: „Der Liberalismus aber muss unduldsam sein gegen jegliche Art von Unduldsamkeit. … Weil er Duldung aller Meinungen … verlangt, muss er alle in ihre Schranken zurückweisen, wenn sie mit Intoleranz hervortreten.“ Im Kern übernehmen diejenigen, die nun für  Pirinçci  in die Bresche springen, die Methodik der Linksextremen in den 1970er Jahren: Es ist der Kampf gegen das System, bei dem auch Allianzen gebildet werden, die nur der gemeinsame Hass gegen den Staat und seine Institutionen zusammenhält. Das führt zu Radikalisierung und Sektierertum, Marginalisierung und Isolierung. In dieser Isolation merkt man dann oft nicht mehr, dass man doch nur eine kleine Minderheit ist. Gegenseitige Bestätigung und eine Haltung der Abschottung führen dann mithin zu einer noch stärkeren Radikalisierung.

In diesem Prozess ist die Gefahr groß, dass man die eigenen Grundsätze ignoriert, die man an anderer Stelle hochhält. Wo sind denn in der Causa Pirinçci die Haftung und die Übernahme von Verantwortung für eigenes Handeln? Beim Staat und bei Banken, bei Politikern und beim Establishment ist man schnell bereit, das einzufordern. Aber die Reaktion auf Akif Pirinçci wird als Angriff auf die Meinungsfreiheit gebrandmarkt. Nichts ist abwegiger: Pirinçci hat seine Rede nicht nur vorab angekündigt und vor einem großen Publikum vorgetragen, sondern durfte sich nach den Erfahrungen der letzten Jahre auch absolut sicher sein, dass sie in den sozialen Netzwerken breit diskutiert und kommentiert würde.

Auch Akif Pirinçci ist für sein eigenes Handeln verantwortlich. Verantwortung zu übernehmen, fängt nicht erst bei überschuldeten Banken und den Ländern Südeuropas an, sondern vor der eigenen Haustür. Wenn sich Verlage und Buchhändler nicht mittelbar für die Äußerungen Pirinçcis in Haftung nehmen lassen wollen, dann ist das ihr gutes Recht. Denn es ist ihr Eigentum, das sie durch die Auslistung und die Kündigung der Verträge schützen wollen. Es ist auch kein gutes Argument, zu sagen, es beträfe auch die völlig unpolitischen Bücher von ihm – so schade es um die Katzen sein mag. Wer sich selber als Person so inszeniert, darf sich nicht wundern, wenn er als Person auch zur Rechenschaft gezogen wird.

Moderne Medien gewährleisten Meinungsfreiheit

Niemand wir daran gehindert, seine Bücher selber zu verlegen und selber zu verkaufen. Es gibt auch sicherlich Verlage im In- und Ausland, die Bücher eines Rassisten veröffentlichen. Das Internet und die sozialen Netzwerke erleichtern deren Veröffentlichung und Verbreitung sogar enorm. Die Meinungsfreiheit ist heute viel besser gewährleistet als dies in der Vor-Internetzeit überhaupt denkbar war. Klar ist aber auch: die Zugangswege zu den potentiellen Kunden sind ohne Amazon und Co. sicherlich nicht so breit und vielfältig. Doch was heißt das für die Toleranten der Intoleranz? Wollen sie hier die Chancengleichheit einfordern, die sie sonst als „Wieselwort“ bezeichnen. Sollte der Staat umverteilen, damit Chancengleichheit realisiert wird, vielleicht sogar eine neue Demokratieabgabe als Chancengleichheits-GEZ einführen? Nein, das kann die Antwort nicht sein. Die Gleichheit vor dem Recht ist das Entscheidende und für deren Durchsetzung sollten deshalb Liberale streiten.

Wenn sich nach Pirinçcis Auftritt in Dresden nun viele Journalisten und Verlage, aber auch viele Individuen – wie ich – von ihm distanzieren, dann ist das in den meisten Fällen kein Opportunismus und kein Kuschen vor der öffentlichen Meinung. Dann ist das Ausdruck der Überzeugung, dass Meinungsfreiheit nicht gleichbedeutend ist mit Indifferenz. Diese Formen des Protestes gegen Äußerungen wie die Pirinçcis, erfüllen genau das, was Mises schrieb: „Den Kampf gegen das Dumme, das Unsinnige, das Irrige, das Böse führt der Liberale mit den Waffen des Geistes und nicht mit roher Gewalt und Unterdrückung.“

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Tichys Einblick.

Berichtigung

Unter https://prometheusinstitut.de/keine-toleranz-der-intoleranz/ ist am 19. November 2015 unter der Überschrift „Keine Toleranz der Intoleranz“ in Bezug auf die Zeitschrift „eigentümlich frei“ formuliert worden „Die Zeitschrift „eigentümlich frei“, […] kündigt sogar prominent an, [Pirinçcis] Bücher verlegen […] zu wollen.“ Soweit hierdurch der falsche Eindruck entstanden sein sollte, dass die Lichtschlag KG mitgeteilt habe, es würden künftig Bücher von Herrn Akif Pirinçci verlegt, stellen wir hiermit richtig, dass die Lichtschlag KG lediglich mitgeteilt hat, dass Pirinçcis gerade erschienenes Buch „Die große Verschwulung“ über die Lichtschlag KG bezogen werden kann. Die Lichtschlag KG vertreibt das Buch von Akif Pirinçci; weder verlegt sie aktuell das Buch von Akif Pirinci, noch hat sie angekündigt, solches zukünftig zu tun.

Photo: Mike Beales from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Forderungen nach einer „Demokratisierung“ der EU laufen meist auf eine Stärkung von EU-Instanzen wie Parlament und Kommission heraus. Demokratie funktioniert jedoch umso besser, je mehr auf überschaubaren Ebenen entschieden wird. Die baltischen Staaten haben eine solche überschaubare Größe und sind auch darüber hinaus vorbildlich.

Demokratie: der Bürger als Wächter seiner eigenen Interessen

Es ist ein grundlegendes Missverständnis, Demokratie lediglich mit einem Abstimmungsmodus oder einer Institution zu verbinden. Demokratie heißt vor allem auch, wie es der englische Historiker Lord Acton einmal formulierte, „jeden Bürger zum Wächter seiner eigenen Interessen zu machen“. Darum ist es durchaus sinnvoll, dass wir etwa bei der Beschreibung unseres Staatswesens stets von einer „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ sprechen. Die EU wird nicht demokratischer, wenn ein Parlament gemeinsam Entscheidungen trifft über Steuern, Ausgaben und Gesetze für über 500 Millionen Menschen von Gibraltar bis Lappland, von Zypern bis Nordirland. Die EU wird demokratischer, wenn mehr Entscheidungen auf möglichst niedriger Ebene gefällt werden können. Ursprünglich stand dieses Subsidiaritätsprinzip ja auch einmal an der Wiege der Europäischen Union. Leider wurde es von dort bald in den Antiquitätenschrank verbannt, wo es nur noch für Sonntagsreden herausgeholt wird.

Eine wirkliche Demokratisierung der Europäischen Union würde darin bestehen, möglichst kleinen Einheiten möglichst große Kompetenzen zuzugestehen. Entscheidend für das Gelingen dieses Konzepts ist, dass die Einheiten eine überschaubare Größe haben. Verantwortlichkeiten müssen klar zu durchschauen sein. Konsequenzen aus politischen Entscheidungen klar definierbar und für die Betroffenen spürbar. Und Exit-Optionen müssen mit nicht allzu hohen Kosten verbunden sein. Bei einer weitgehend einheitlichen EU bleibt neben der Schweiz und Norwegen (die man sich erst einmal leisten können muss) nur noch die Auswanderung auf einen anderen Kontinent. Das sind bei weitem zu hohe Kosten für eine „Abstimmung mit den Füßen“.

Small is beautiful

Viele europäische Staaten sind eigentlich bereits zu groß, um die oben beschriebenen Kriterien zu erfüllen. Die baltischen Staaten haben hingegen Größen, die der sinnvollen Organisation eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens durchaus noch angemessen sind: Litauen mit 2,9 Millionen, Lettland mit etwa 2 Millionen und Estland mit 1,3 Millionen Einwohnern. Litauen ist also etwas kleiner als Berlin, Lettland so groß wie Ostwestfalen-Lippe und Estland wie der Regierungsbezirk Unterfranken.

Bei solchen Größen kennt man sich zwar nicht mehr persönlich, aber man teilt doch ähnliche Lebenswelten und kann den Nutzen oder Schaden von Entscheidungen noch verhältnismäßig gut übersehen. Hier ist das Einfallstor noch schmal für eine Umverteilung, die lauter Sonderinteressen bedient. Hier ist die Kontrolle von Politikern noch relativ leicht durchzuführen, einschließlich der Möglichkeiten, auf sie Druck auszuüben. Hier sind Politik und Bürokratie noch nicht in der vollen Anonymität und Symbolik verschwunden wie das bereits in den meisten europäischen Staaten der Fall ist, von der EU ganz zu schweigen.

Erfolgsgeschichten im Baltikum

Sicherlich tragen viele unterschiedliche Faktoren dazu bei, dass die baltischen Staaten in den Jahren seit ihrer Unabhängigkeit im Ganzen gesehen Erfolgsgeschichten geschrieben haben. Dennoch ist der Faktor der Größe nicht unwesentlich, weil sich viele Reformen und Innovationen überhaupt nur in diesem kleinen Kontext durchsetzen ließen. Denn kleine Einheiten sind nicht nur sehr viel einfacher echter demokratischer Kontrolle zu unterwerfen – kleine Einheiten sind auch ungleich flexibler, wenn es darum geht, auf Krisen zu reagieren oder unkonventionelle Wege zu beschreiten.

In allen drei Staaten wurden nach deren wiederhergestellter Unabhängigkeit im Jahr 1991 sehr umfassende marktwirtschaftliche Reformen in Gang gesetzt. Dieser Geist hat sich auch bis heute in großen Teilen durchgehalten und gehört zum Konsens der meisten politischen Parteien in den drei Ländern. Lettland hat sich aus einer massiven wirtschaftlichen Krise zwischen 2008 und 2010 durch für europäische Verhältnisse unerhörte Reform-Maßnahmen rasch wieder herauskatapultiert. Die Stellen im öffentlichen Sektor wurden um ein Drittel abgebaut, Löhne und Gehälter gekürzt und das Staatsdefizit nachhaltig reduziert. Die Folge war ein deutlicher Rückgang von Inflation, Arbeitslosenrate und ein deutlicher Anstieg des Wirtschaftswachstums. Eine Expertenstudie aus dem Jahr 2012 stellte fest: „Der Erfolg Lettlands lehrt, dass ein flexibler Arbeitsmarkt, verbesserte Rahmenbedingungen für Unternehmen und ein breiter gesellschaftlicher Konsens für Reformen eine wichtige Rolle spielen, um die Krise zu überwinden.“

Ein Europa, das dem Bürger dient

Nur Luxemburg hat im Euro-Raum eine ähnlich niedrige Staatsschuldenquote wie Estland (10,2% des BIP), Litauen (35,7 %) und Lettland (36,0 %). Gleichzeitig haben die drei Länder auch mit die niedrigsten Staatsquoten in Europa (Estland: 38,8 %; Lettland: 36,9 %; Litauen: 34,9 %). Während EU-weit die Arbeitslosigkeit seit dem Jahr 2010 nur um 0,3 % reduziert worden ist, ist sie in Litauen von 17,8 auf 9,6 Prozent zurückgegangen, in Lettland von 18,7 auf 9,8 und in Estland gar von 16,9 auf 5,7 Prozent. In allen drei Ländern gibt es eine Flat Tax und ein verhältnismäßig geringes Maß an Regulierungen – soweit das im Rahmen der EU noch möglich ist. Insbesondere Estland hat auch eine bemerkenswerte politische Kultur: Man kann dort per SMS wählen, es gibt die Möglichkeit einer e-residency und in fast 7 der 24 Jahre estnischer Unabhängigkeit wurde das Land von Ministerpräsidenten regiert, die unter 40 Jahre alt waren – der amtierende Taavi Roivas kam vor anderthalb Jahren im Alter von 34 Jahren ins Amt.

Eine langfristige Perspektive für die EU kann sich an diesen Staaten orientieren, die in vielerlei Hinsicht moderner sind als die großen Nationalstaaten im Westen Europas. Das wäre eine EU, in der kleinen Einheiten ein möglichst hohes Maß an Eigenständigkeit zugestanden wird. Die Brüsseler Politik und Bürokratie würden von ihrem Status als Planer zurückgestuft auf den von Diplomaten und Wächtern. Ihre Rolle bestünde darin, die Zusammenarbeit der kleinen Einheiten in verschiedenen Clubs (wie beispielsweise Schengen oder der Euro-Zone) zu koordinieren und eventuell auch eine gemeinsame Sicherheitspolitik zu koordinieren. Und sie bestünde ganz wesentlich darin, die Einhaltung der vier Grundfreiheiten der Europäischen Union zu überwachen und durchzusetzen. Alle anderen Hoheitsrechte würden hingegen auf jene Einheiten übertragen, wo sie der Bürger tatsächlich und real kontrollieren und bestimmen könnte. Es wäre ein Europa der Bürger, das den ursprünglichen Geist der Demokratie wieder ernst nimmt: jeden Bürger zum Wächter seiner eigenen Interessen zu machen. Es wäre ein Europa, das den Fortschritt fördert, dem Frieden dient und die Freiheit garantiert.

Photo: j.e.mcgowan from Flickr. (CC BY 2.0)

David Cameron ist ein wahrer Europäer. Mit seiner Rede beim renommierten Londoner Think Tank „Chatham House“ über seine Vorschläge für eine Reform der Europäischen Union hat er an das appelliert, was Europa stark gemacht hat – seine Vielfalt. „Vor allem muss Europa flexibel wie ein Netzwerk operieren, nicht starr wie ein Block. Vielfalt ist Europas größte Stärke,“ so der britische Premier. So spricht kein Nationalist, der neue Grenzen aufbauen will. So spricht ein europäischer Realist, der eine evolutorische Zusammenarbeit in Europa anstrebt, der aber die demokratische Legitimation nicht permanent durch einen zersetzenden Pragmatismus aushebelt.

Netzwerk der Vielfalt

Er spricht sich für einen intensiveren Binnenmarkt aus, für mehr Wettbewerb, für fiskalische Selbstverantwortung, für Bürokratieabbau, Deregulierung und gegen den wachsenden europäischen Zentralismus. Und er stellt ein Dogma infrage – die immer engere Union, die unumkehrbar sei. Er will sich nicht durch die Eurokrise immer weiter in den Schuldensumpf hineinziehen lassen. Diejenigen im Euroraum, die immer neue Institutionen und Abhängigkeiten schaffen, sollen diese auch verantworten.
Es ist nicht nur eine Abwehrrede, wie ihm leicht unterstellt werden kann. Er will eine intensivere Zusammenarbeit beim freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital. Er reduziert die EU nicht nur auf das Ökonomische. Auch in Sicherheitsfragen will er stärker kooperieren.

Den Verfall Europas stoppen

Seine Rede kommt zum richtigen Zeitpunkt. Denn die EU steckt in einer tiefen Sinnkrise. In der Eurokrise ist der Verfall der Sitten tagtäglich spürbar. Aus bislang guten Nachbarn werden Schuldner und Gläubiger, die sich gegenseitig mißtrauen, hintergehen und erpressen. In der Flüchtlingskrise scheitert gerade die Idee der Personenfreizügigkeit zwischen souveränen Staaten, weil die deutsche Kanzlerin, ihre Vorstellung in der Asylpolitik allen anderen Staaten in Europa oktroyieren will und die Außengrenzen offen sind wie ein Scheunentor.
Großbritannien ist unendlich wichtig für ein Europa der Vielfalt. Seine große Rechtstradition mit der Magna Charta und der Bill of Rights, seine große Tradition an Freiheitsdenkern wie Adam Smith, John Stuart Mill und Edmund Burke und die Weltoffenheit des Vereinigten Königreichs als Wegbereiter des Freihandels und der Marktwirtschaft ist unersetzlich für ein freiheitliches Europa. Das Ausscheiden der Briten aus der EU würde das Koordinatensystem in Richtung noch stärkerer Umverteilung, Rechtsbeugung und Zentralismus verschieben. Das wäre fatal. Es würde den Bürokraten in Brüssel in die Hände spielen. Es ist schon bezeichnend, dass der Frage des Verbleibs von Griechenland und Zypern eine viel größere Aufmerksamkeit in Brüssel zuteil wird, als dem Verbleib Großbritanniens. Wahrscheinlich wären viele in der EU-Kommission froh, wenn die ewigen Querulanten aus London endlich gingen. Doch das sollte uns mißtrauisch machen.

Freizügigkeit: Die Achillesferse der EU

Diese Kreise wollen ein anderes Europa. Sie wollen den europäischen Superstaat durch die kalte Küche erzwingen, ohne dafür demokratisch legitimiert zu sein. Die Eurokrise ist das beste Beispiel. Ein lokales Problem wird zentral gelöst, ohne dafür substanziell die Vertragsgrundlagen zu ändern. Das Recht wird geschoben und gebogen bis es zur Unkenntlichkeit entstellt ist.
Die Personenfreizügigkeit ist die Archillesferse der Cameronschen Rede. Diese will er für neue EU-Mitglieder aussetzen, bis sie ökonomisch aufgeschlossen haben. Hier spricht der Konservative Cameron, der sich vor mehr Wettbewerb im Arbeitsmarkt fürchtet. Doch seine Lösung, EU-Bürger von sozialen Leistungen in Großbritannien für einige Jahre auszuschließen, ist dagegen konsequent und richtig. Europa braucht auch im Blick auf die Sozialsysteme Wettbewerb, bei dem die verschiedenen Systeme mit unterschiedlichen Beitrags- und Leistungsbündeln ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen können und sich langfristig die leistungsstärksten durchsetzen und Vorbildcharakter annehmen.
Der damalige EU-Kommissar Ralf Dahrendorf hat 1971 unter dem Pseudonym Weiland Europa eine scharfe Kritik am damaligen Zustand der Europäischen Gemeinschaft geübt. Im Spiegel schrieb er dazu: „Es ist nicht alles in Europa schon darum gut, weil es europäisch ist. Ein europäisches Europa ist vielmehr auch ein differenziertes, buntes, vielfältiges Europa. Es ist ein Europa, in dem gemeinsam getan und gleichartig geregelt wird, was auf diese Weise besser, ja vielleicht nur auf diese Weise sinnvoll getan und geregelt werden kann.“ So hat es damals der Liberale Dahrendorf und so ähnlich hat es jetzt auch der Konservative Cameron formuliert. Es war und ist der Weg eines freiheitlichen Europas.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Tichys Einblick.

Photo: thanos tsimekas from Flickr. (CC BY 2.0)

Es gibt eine Renaissance liberalen Denkens in Deutschland. Das mag auf den ersten Blick verwundern. Eine große Koalition regiert dieses Land, eine liberale Partei fehlt im Parlament und auch sonst treibt der alltägliche Paternalismus überall seine Blüten. Überall reicht uns der Staat und die Regierung ihre klebrigen Hände, die man, sobald man zugegriffen hat, nie mehr los wird.

Dennoch ist dies nur das oberflächliche Bild. Wenn man etwas tiefer blickt, dann wird sehr schnell deutlich, dass es in Deutschland inzwischen eine breite Szene meist junger Menschen gibt, die sich liberalen, klassisch-liberalen und libertären Zielen verpflichtet fühlen. Das wird auch am kommenden Samstag wieder deutlich. Dann treffen sich in der Heidelberger Universität wahrscheinlich über 400 junge Menschen aus ganz Deutschland zur Regionalkonferenz der European Students for Liberty .

Diese weltweit tätige Studentenorganisation ist den Idealen einer offenen Gesellschaft verpflichtet. Die jungen Menschen halten die individuelle Freiheit hoch, schätzen die Marktwirtschaft, das private Eigentum und die Gleichheit vor dem Recht. Sie lesen Werke von Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises, weil sie zum Beispiel Antworten auf die Verwerfungen an den Finanzmärkten suchen, die sie im etablierten Lehrplan ihrer Hochschule nicht finden. Beide, Hayek und Mises, sind Freiheitsdenker der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, einer ökonomisch und philosophischen Denkrichtung des Liberalismus. Ihre heutigen Stars heißen Guido Hülsmann, Philipp Bagus, Thorsten Polleit und Stefan Kooths die jeder auf ihre Art, die Ideen der „Austrians“ weiterentwickeln, publizieren oder lehren.

Prof. Hülsmann lehrt in Frankreich, Prof. Bagus in Madrid, Prof. Polleit in Frankfurt und Prof. Kooths in Berlin. Letzterer, Stefan Kooths, ist neben seiner Tätigkeit als Leiter des Prognosezentrums des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel nicht nur Kurator beim Prometheus-Institut, sondern auch Initiator des neuen Studiengangs „Entrepeneurial Economics and Management“ an der privaten Business and Information Technology School (BITS) in Berlin. Erstmalig wird damit ein Masterstudiengang an einer deutschen Hochschule angeboten, der eine grundlegende Ausbildung im Bereich der „Austrian Economics“ ermöglicht. Eine wunderbare Entwicklung!

Thorsten Polleit ist Präsident des Ludwig von Mises-Instituts in Deutschland und Autor zahlreicher Bücher zu den Grundlagen der Geldpolitik und der Österreichischen Schule. Ebenso Philipp Bagus, der Prof. am Lehrstuhl von Jesús Huerta de Soto in Madrid ist. Und Guido Hülsmann ist einer der entscheidenden Wegbereiter der libertären Bewegung im deutschsprachigen Raum. Sein Buch „Die Ethik der Geldproduktion“ aus 2007 hat die grundlegende Probleme des heute vorherrschenden staatlichen Geldsystems vom Fundament her aufgearbeitet.

Daneben sind Vereinigungen wie die Hayek-Gesellschaft , Think Tanks wie Open Europe Berlin, IREF und Prometheus Teil dieses liberalen Blumenstraußes. Jeder trägt auf seine Art zur Blüte bei. Was alle vereint, ist ihre nichtstaatliche, also private Finanzierung. Es sind meist Unternehmerpersönlichkeiten, die die notwendigen Mittel bereitstellen. Diese vorausschauenden Unternehmer haben erkannt, wie wichtig die Veränderung des Denkens in einer Gesellschaft ist. Es geht um den Kampf der Ideen in einer Gesellschaft. Es ist eben kein Zufall, dass der Staat sich immer mehr in die Entscheidungsprozesse jedes Einzelnen einmischt. In den 1950er und 1960er Jahren haben die Linken mit der Forderung nach der Demokratisierung in allen Lebensbereichen den Marsch durch die Institutionen angetreten. Heute sind sie angekommen und bestimmen die Grundlage für das vorherrschende Denken in Deutschland. Seitdem ist die Kindererziehung, die Unternehmensführung, die Ernährung und vieles andere mehr, einer Mehrheitsentscheidung unterworfen. Diese freiheitszerstörende Entwicklung gilt es aufzuhalten und dauerhaft zu verändern. Dafür braucht es noch mehr Unterstützung – auch finanziell.

Das besondere an der liberalen Gegenbewegung  ist, dass sie von jungen Menschen getragen wird. Sie vergraben sich  nicht im akademischen Elfenbeinturm, sondern sie lesen wieder die Bücher von Hayek („Die Verfassung der Freiheit“, „Der Weg zur Knechtschaft“ oder „Die Entnationalisierung des Geldes“) oder von Ludwig von Mises („Human Action“, „Liberalismus“ „Vom Wert der besseren Ideen“ oder „Nationalökonomie“). Diese haben nichts an Aktualität und Attraktivität verloren, sondern werden sogar erneut aufgelegt. Mancher mag das zuweilen als Dogmatismus abtun und zugleich dem  prinzipienbasierten Handeln abschwören. Doch der deutsche Liberalismus ist bislang nie an seiner Standfestigkeit und Prinzipientreue gescheitert, sondern an den Zugeständnissen an die Sozialisten in allen Parteien. Die Prinzipien werden nur bei schönem Wetter hochgehalten. Sobald der Gegenwind kommt, es stürmt und hagelt, schwenkt man in den pragmatischen Weg ein. Doch das war und ist der Untergang des Liberalismus. Wer dies ändern will, muss ein breiteres Fundament in der Gesellschaft legen, das auch bei Sturm und Regen nicht aus den Angeln gerissen werden kann. Darum geht es – auch am Wochenende bei den Students for Liberty.