Photo: Images Money from Flickr (CC BY 2.0).

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Spekulanten sind zurzeit nicht populär. Für die Globalisierungsskeptiker von Attac ist Spekulation verantwortlich für hohe Lebensmittelpreise und Hungersnöte in der Dritten Welt. Warren Buffett, selbst äußerst erfolgreicher Spekulant, hält seiner Branche den Spiegel vor und wirft seinen Kollegen das Spiel mit „finanziellen Massenvernichtungswaffen“ vor. Die Vorstellung, dass Spekulation moralisch anrüchig und volkswirtschaftlich schädlich sei, ist weit verbreitet. Die Politik wird regelmäßig aufgefordert, Spekulation durch Steuern und Verbote einzudämmen.

Was genau Kritiker unter Spekulation verstehen, geben sie selten zu erkennen – was nicht verwundert: Eine Definition spekulativen Verhaltens, die die Kernmotivation der vielkritisierten Finanzmarktakteure trifft und zugleich durch die selbe Motivation geprägtes Verhalten im Alltag ausschließt, ist nicht leicht zu formulieren. Gemeint zu sein scheinen professionelle Geschäftsaktivitäten, die auf Gewinne durch zukünftige Preisänderungen abzielen. Doch genau solche Aktivitäten spielen in der Marktwirtschaft eine segensreiche Rolle.

Damit Spekulation zur Verbesserung der mittels Preissystem bereitgestellten Informationen beitragen und ihre Risiken bündelnde Funktion wahrnehmen kann, bedarf es einer Rahmenordnung, die garantiert, dass Spekulanten im Verlustfall für ihre Entscheidungen haften. Auf die Forderung einer solchen Rahmenordnung sollten sich auch die Kritiker konzentrieren.

Eine riskante Wette auf die Zukunft

Der Duden definiert Spekulation als „Geschäftstätigkeit, die auf Gewinne aus zukünftigen Veränderungen der Preise abzielt“. Solche Tätigkeiten können sich auf vielen verschiedenen Märkten abspielen – beispielsweise auf Güter-, Finanz- oder Währungsmärkten. So kann ein Spekulant ein Güterbündel in Erwartung einer baldigen Preissteigerung kaufen. Bestätigen sich seine Erwartungen, so erzielt er beim Verkauf einen Profit. Auch das Wetten auf bestimmte Preisentwicklungen, etwa mittels entsprechender Finanzpapiere, stellt Spekulation dar.

Als spekulativ können demnach grundsätzlich solche Aktivitäten verstanden werden, die vom jeweils Handelnden als vorteilhaft in Hinblick auf seine Erwartungen über zukünftige Ereignisse erachtet werden, also in psychische oder monetäre Gewinne münden. Da Erwartungen über die Zukunft sich im Nachhinein als falsch herausstellen können, ist Spekulation stets riskant. Eine derart breite Definition von Spekulation schließt viele berufliche und private Entscheidungen mit ein: Von der täglichen Kleidungswahl auf Grundlage von Wetterberichten über die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen bis hin zur privaten Altersvorsorge.

Dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend werden als Spekulation hier jedoch nur solche Tätigkeiten bezeichnet, die in einem professionellen Rahmen zu Erwerbszwecken ausgeübt werden, bepreisbare Güter zum Gegenstand haben und potentiell zu monetären Gewinnen führen. Obwohl zwischen dem zugrundeliegenden Kalkül kein prinzipieller Unterschied liegt, gilt der private Kauf einer Goldmünze daher nicht als Spekulation, die professionelle Finanzmarktwette auf den Goldpreis jedoch schon. Der Kauf einer zweiten Packung Salat in Erwartung eines leeren Gemüseregals am Wochenende gilt nicht als Spekulation, der Handel mit Terminkontrakten für landwirtschaftliche Erzeugnisse dagegen schon.

Keine Preissteigerung und Knappheit durch Spekulation

Die Vorwürfe an Spekulanten sind vielfältig und haben je nach betroffenem Markt einen anderen Fokus. Auf Gütermärkten, speziell jenen für landwirtschaftliche Erzeugnisse, werden Spekulanten oft für hohe bzw. „verzerrte“ Preise und künstliche Knappheit verantwortlich gemacht. Ohne Spekulation, so die Vorstellung der Kritiker, wären die Preise für Endverbraucher niedriger und die jeweiligen Güter reichlicher verfügbar. Was genau beispielsweise Attac unter Spekulation versteht, bleibt offen – jedenfalls fällt der Kauf und Verkauf von Finanzinstrumenten mit über die Termin- und Preissicherung hinausgehender Funktion darunter. Doch sind Spekulanten tatsächlich interessiert daran und in der Lage, Preise systematisch zu treiben und das Angebot auf dem Markt zu drücken?

Richtig ist, dass der spekulative Ankauf von Gütern (bzw. Anrechten auf diese) zu zusätzlicher Nachfrage und damit kurzfristig zu Preissteigerungen führt. Der spekulative Akt ist jedoch erst dann vollzogen, wenn die Güter wieder verkauft werden – andernfalls kann der Spekulant keinen Gewinn erzielen. Durch den Verkauf schafft er wiederum ein zusätzliches Angebot und trägt kurzfristig zu sinkenden Preisen bei. Finanzinstrumente erlauben es Spekulanten, auch durch fallende Preise Gewinne zu erzielen. Als Gruppen haben Spekulanten deshalb kein einheitliches Interesse an höheren Preisen. Individuell nimmt jeder Spekulant zu mindestens zwei Zeitpunkten Einfluss auf Preise und Knappheitsverhältnisse. Und zwar mit jeweils gegensätzlicher Wirkung.

Da Spekulanten nur dann Gewinne erzielen können, wenn sie ihr Verhalten systematisch an zukünftig erwarteten Preis- und Knappheitsentwicklungen ausrichten und etwas häufiger richtig als falsch liegen, tragen sie langfristig zu einem weniger volatilen Preis- und Versorgungsniveau bei, das anderen Marktakteuren die Planung erleichtert. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass Spekulanten Preise systematisch verzerren und Knappheitsverhältnisse langfristig beeinflussen können.

Der Spekulant als Versicherer

Auch die Tätigkeit von Versicherungen kann als Spekulation gedeutet werden. Spekulanten, die sich in vielen Märkten gleichzeitig betätigen, nehmen eine risikobündelnde Funktion wahr, indem sie anderen Marktteilnehmern Risiken abnehmen. Aufgrund ihres komparativen Vorteils in der akkuraten Einschätzung zukünftiger Entwicklungen auf verschiedenen Märkten gelingt ihnen ein besseres Risikomanagement als es den einzelnen Marktteilnehmern möglich wäre.

Im Agrarmarkt etwa ist es weitverbreitete Praxis, dass Erzeuger das Anrecht auf ihre zukünftige Ernte im Voraus zu einem fixen Preis verkaufen und sich so gegen zukünftig niedrige Preise absichern. Das Risiko liegt dann beim Käufer dieses Anrechts – typischerweise einem Spekulanten, der das Risiko in diversifizierten Portfolios ausgleicht, indem er anderen Markteilnehmern das Recht verkauft, die noch nicht geernteten Güter zu einem fixen Preis zu kaufen.

Effizientere Märkte

Der Zweck von Preisen ist es, die Bedürfnisse der Marktteilnehmer und daraus resultierende relative Knappheitsverhältnisse zu kommunizieren. Märkte mit Preisen mit hohem Informationsgehalt sind effizient – die Preise von auf ihnen gehandelten Produkten spiegeln die Informationen und Erwartungen aller Marktteilnehmer wider.

Ihrer Informationsfunktion kommen Preise besonders gut nach, wenn Märkte „dick“ sind, also aus einer Vielzahl von Teilnehmern und Transaktionen bestehen. Insbesondere Spekulanten tragen dazu bei, Märkte „dicker“ zu machen, denn ihr Gewinn fällt umso höher aus, je akkurater ihre Einschätzung zukünftiger Entwicklungen ist – eine wertvolle Information, die sie für alle Marktteilnehmer nutzbar machen.

Markt sortiert Herdentiere aus

Doch sind Spekulanten überhaupt in der Lage, den Informationsgehalt von Preisen zu erhöhen? Im Zusammenhang mit Finanzmarktkrisen vertreten viele Kritiker die Auffassung, Spekulanten würden sich nicht an wohlinformierten Einschätzungen über zukünftige Entwicklungen orientieren, sondern schlicht daran, wie andere Spekulanten sich verhalten. Als Herdentiere würden sie daher übertriebene Preiskorrekturen und –haussen hervorrufen und den Informationsgehalt von Preisen senken. In extremen Fällen könne solches Herdenverhalten gar zu Spekulationsblasen führen, wenn Preise nur noch steigen, weil Spekulanten kaufen und Spekulanten nur noch kaufen, weil die Preise steigen. Ein beliebtes Beispiel ist die Blase auf dem US-Immobilienmarkt 2007, deren Platzen als Auslöser der Finanzkrise gilt.

Auch wenn Herdenverhalten auf Märkten grundsätzlich möglich ist, gibt es jedoch keinen Grund für die Annahme, dass es in Marktwirtschaften ein lohnendes Geschäftsmodell darstellen würde. In einer Wirtschaftsordnung mit individueller Haftung bedeutet die wiederholt falsche Einschätzung zukünftiger Entwicklungen für einen dem Herdentrieb verfallenen Spekulanten hohe Verluste und schließlich den Marktaustritt – spätestens wenn die Blase platzt. Aus Sicht der anderen Marktteilnehmer ist ein solcher Prozess segensreich, da nur jene Spekulanten auf dem Markt verbleiben, deren Verhalten in der Lage ist, den Informationsgehalt von Preisen tatsächlich zu stärken.

Spekulation braucht marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmen

Herdenverhalten und Blasenbildung wird auf Märkten tendenziell bestraft statt gefördert. Problematische Ausmaße kann es insbesondere annehmen, wenn individuelle Spekulanten nicht erwarten müssen, für ihre riskanten Entscheidungen zu haften. Während der US-Immobilienblase 2007 wurde die individuelle Haftung durch implizite und explizite Staatsgarantien aufgeweicht. So haben Immobilienspekulanten ihr Verhalten im Vorfeld der Finanzkrise an der –im Nachhinein durchaus bestätigten – Erwartung ausgerichtet, im Verlustfall durch öffentliche Mittel entschädigt zu werden. In der Euro-Zone sind die Zinsen auf Staatsanleihen im Vorfeld der Finanzkrise nahezu vollständig konvergiert – ein Umstand, der dafür spricht, dass die Gläubiger grosso modo zutreffend erwarteten, im Falle der Zahlungsunfähigkeit eines Landes von den übrigen Ländern Bailouts zu erhalten.

 

 

Im Lichte der vorangegangenen Diskussion wird deutlich, dass solche Rettungsaktionen Kosten haben, die weit über den Schaden für den Steuerzahler hinausgehen. Langfristig untergraben sie die segensreiche Wirkung der Spekulation im Preisfindungs- und Risikoverteilungsprozess. Besteht dagegen ein die individuelle Haftung durchsetzender Ordnungsrahmen, so müssen jene Spekulanten, die die Zukunft systematisch fehleinschätzen den Markt verlassen.

Zurück bleiben jene Akteure, deren komparativer Vorteil in der akkuraten Einschätzung zukünftiger Entwicklungen liegt. Ihr Gewinnstreben hat in der Marktwirtschaft segensreiche Wirkungen: Es trägt zu einem weniger volatilen Preis- und Versorgungsniveau bei, reduziert das durch den Einzelnen zu tragende Risiko und stärkt den Informationsgehalt von Preisen.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Steven Lilley from Flickr (CC BY-SA 2.0).

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues, und Kevin Spur, Student der Ökonomie an der Freien Universität Berlin.

Auf dem Papier: Abwicklungsmechanismus vielversprechend

Der Einheitliche Europäische Bankenabwicklungsmechanismus trat am 01. Januar 2015 in Kraft und klingt auf dem Papier recht vielversprechend. Informiert die Einheitliche Bankenaufsicht den Ausschuss des Bankenabwicklungsmechanismus, dass eine Bank in Zahlungsschwierigkeiten gekommen ist, entscheidet dieser, ob eine private Lösung möglich oder eine Abwicklung notwendig ist. Im Falle der Abwicklung gilt als oberstes Prinzip der sogenannte Bail-In: Bevor Mittel aus dem Abwicklungsmechanismus gestattet werden, müssen zunächst Gläubiger und Anteilseigner Verluste in Höhe von mindestens 8 % der Bilanzsumme hinnehmen. So soll verhindert werden, dass die Steuerzahler zur Kasse gebeten werden.

Realität: Einsatz gegen inländische Interessen unattraktiv

So gut der Mechanismus auf dem Papier klingen mag, so schwach ist der Anreiz von Regierungen, ihn gegen die Interessen von einflussreichen Gläubigern zur Anwendung zu bringen. Am schwächsten ist er möglicherweise für die Regierung des betroffenen Landes, in dem eine notleidende Bank sitzt, wie der Fall Italien aktuell vor Augen führt. Beispielhaft für den kriselnden italienischen Bankensektor steht die älteste Bank der Welt Monte dei Paschi. Über 40.000 Privatanleger, zumeist Italiener, halten etwa 2,1 Milliarden Euro nachrangiger Anleihen dieser Bank.

 

 

Ließe die italienische Regierung den Abwicklungsmechanismus zur Geltung kommen, würde sie es sich mit diesen Gläubigern verscherzen. Es ist zu erwarten, dass zu den dann leidenden Gläubigern nicht nur Kleinanleger gehören, die dann geneigt wären, ihrem Unmut in der Wahlkabine Ausdruck zu verleihen, sondern auch einflussreiche Gläubiger, die alles andere als Kleinanleger sind. Dieser Anreizsituation sind auch die Regierungen anderer Eurozonenländer in Bezug auf die Banken in ihrem Land ausgesetzt.

Ausländische Regierung: Ebenfalls kein Anreiz, auf Anwendung zu pochen

Zudem haben auch andere Länder der Eurozone keine Veranlassung, auf die Anwendung des Bankenabwicklunsgmechanismuses im Falle einer drohenden Bankeninsolvenz im Eurozonen-Ausland zu dringen. Werden die Steuerzahler des betroffenen Mitgliedstaates zur Kasse gebeten, bleiben die eigenen Steuerzahler unversehrt und die Interessen möglicher inländischer Gläubiger der ausländischen Bank sehen ihr Interesse ebenfalls gewahrt. So fällt derzeit das Dringen der EU-Regierungen auf die Anwendung des Bankenabwickungsmechanismuses für italienische Banken wenig überraschend sehr zurückhaltend aus.

Problematisch werden die Bail-Outs einer Regierung für Banken und deren Gläubiger in ihrem Land für die Regierungen der übrigen Länder der Eurozone möglicherweise erst, wenn die bankenrettende Regierung durch die Erteilung der Rettungskredite selbst in Zahlungsschwierigkeiten gerät. Aber selbst in diesem Fall wäre es im Sinne einflussreicher ausländischer Gläubiger, die Kosten der Banken- und Gläubigerrettung auf die große Masse der Steuerzahler zu verteilen. Mit dem European Stabilization Mechanism (ESM) steht dafür neben der EZB ein weiteres Vehikel bereit.

Ein Interesse an der Anwendung des Bankenabwicklungsmechanismuses scheint eine Regierung einzig dann zu haben, wenn viele der Gläubiger der von der Insolvenz bedrohten Bank Ausländer sind. Handelt es sich um Ausländer aus Ländern außerhalb der Eurozone, ist die Anwendung des Abwicklungsmechanismuses relativ wahrscheinlich.Handelt es sich jedoch um Ausländer aus anderen Ländern der Eurozone, könnten die Regierungen dieser Länder deshalb gar einen Anreiz haben, sich aktiv gegen die Anwendung des Abwicklungsmechanismuses einzusetzen.

Concentrated benefits vs. diffused costs

Die Situation, in der sich die Steuerzahler in der Eurozone wiederfinden, lässt sich mit Hilfe des von Mancur Olson formulierten Modells der „concentrated benefits vs. diffused costs“ nachvollziehen. Während die Gläubiger, vor allem gewichtige Gläubiger, eine relativ gut organisierte Gruppe mit relativ starkem Einfluss auf das Gebaren von Regierungen sind, ist die große Gruppe der Steuerzahler relativ schlecht organisiert und hat dementsprechend wenig Einfluss. Die Gläubiger sind deshalb in der komfortablen Situation, auf politische Maßnahmen derart Einfluss nehmen zu können, dass ihnen auf sie konzentrierte Vorteile zuteilwerden, während die Kosten der politischen Maßnahmen auf die große Gruppe der Steuerzahler verteilt werden, die alle individuell relativ geringe Lasten auf sich nehmen müssen, wenn es beispielsweise zu einem Bail-Out kommt.

Durchsetzungsschwaches Regelwerk

So vielversprechend die Beteiligung der Gläubiger durch den Abwicklungsmechanismus klingen mag, so schwach ist der Anreiz inländischer und ausländischer Regierungen, notleidende Banken über ihn abzuwickeln. Zu gut scheinen die Gläubiger der Banken im Vergleich zur großen Zahl der Steuerzahler organisiert zu sein. Obwohl Wachstum und Beschäftigung von der Abwicklung unproduktiver Banken profitieren würden, wiegen diese Vorteile für viele Personen im politischen Prozess anscheinend weniger schwer als die konzentrierten Nachteile der Gläubiger durch Bail-Ins.

Die Designer des Bankenabwicklungsmechanismus mögen hehre Ziele verfolgt haben. Eine gute Intention ist jedoch nicht ausreichend, um ein Regelwerk zu schaffen, das auch tatsächlich zu dem erwünschten Verhalten führt. Dafür muss ausreichend glaubhaft sein, dass das Regelwerk auch durchgesetzt wird. Weder in der Fiskal- noch in der Geldpolitik ist das der EU in den vergangenen Jahren sonderlich häufig gelungen.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Simon Harrod from Flickr (CC BY 2.0) 

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Julian Reichardt, Student der Volkswirtschaftslehre in Berlin. 

Im vergangenen Jahr kippte der Europäische Gerichtshof die in Deutschland geltende Preisbindung für rezeptpflichtige Medikamente. Vor diesem Urteil hatte der deutsche Apothekerverband im Vorfeld inständig gewarnt. Demnach sei eine bestmögliche Medikamentenversorgung, die sich am Schutze der Gesundheit und des Lebens orientiere, ohne Preisbindung nicht zu machen. Diese Argumentation sahen die Luxemburger Richter zwar als prüfenswert an, wiesen sie aber aufgrund unzureichender Belege schlussendlich zurück. Das hartnäckige Werben für eine Preisbindung durch Interessensvertreter ist kein Unikum der Arzneimittelbranche. Taxiunternehmer und Buchhändler versuchen sich ebenso regelmäßig dabei, die angeblichen Vorteile anzupreisen, welche Preisbindungen für Verbraucher haben. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich jedoch, dass es vielmehr sie selber sind, die von den Preisbindungen profitieren. Das Wohl des Verbrauchers bleibt dabei meistens auf der Strecke.

Bessere Medikamentenversorgung durch Preiswettbewerb

Im Zuge der Verhandlungen am EuGH hatte der deutsche Apothekerverband wiederholt auf das angebliche Gefährdungspotential einer Preisliberalisierung für die deutsche Patientenfürsorge aufmerksam gemacht. Eine Aufhebung der Preisbindung werde einen Siegeszug der Versandhändler Bahn brechen, welche so manche ortsansässige Apotheke in den Ruin treiben würde. Eine flächendeckende, wohnortsnahe Arzneimittelversorgung sei hierdurch dem Niedergang geweiht und eine bestmögliche Medikamentenversorgung von nun an nicht mehr gewährleistet.

Die Richter schluckten die Pille der Apothekerverbände nicht. Im Gegenteil. Sie machten in ihrem Urteilsspruch deutlich, dass es klare Anhaltspunkte für den genau gegenteiligen Effekt gebe: Mehr Preiswettbewerb unter den Apotheken würde die gleichmäßige Versorgung mit Arzneimitteln sogar fördern, so das Fazit der Richter. Tendenziell könnten Apotheker bei einer freien Preisentfaltung in strukturschwachen Regionen aufgrund des geringen Wettbewerbdrucks höhere Servicezuschläge verlangen. Sie hätten somit einen Anreiz, vor Ort eine Niederlassung zu eröffnen. Langfristig würde sich dadurch die Versorgungslage auf dem Land verbessern.

Unabhängig davon, ob die Richter mit ihrer Einschätzung bezüglich der Monopolsituation von Apotheken in ländlichen Regionen richtigliegen, sollten Apotheken frei entscheiden können, zu welchem Preis sie Medikamente verkaufen – auch Versandapotheken. Der Wettbewerb unter den Apotheken würde dann nicht mehr nur über die Beratungs- und Servicequalität, sondern auch über den Preis der Medikamente ausgetragen werden. Von einer Preisliberalisierung und den damit einhergehenden geringeren Preisen für rezeptpflichtige Medikamente würden vor allem die Patienten und Beitragszahler der Krankenkassen profitieren. Diesen Kundenvorteil rücken die Apothekerverbände verständlicherweise nicht in den Vordergrund, wenn sie sich für den Erhalt der Preisbindung aussprechen.

Statt dem etwas entgegenzusetzen, lässt sich Gesundheitsminister Gröhe allem Anschein nach weiterhin für die Interessen der traditionellen Apotheken einspannen. Nach aktuellem Stand möchte er die Versandapotheken zum „Schutze der Verbraucher“ verbieten, um die Versorgung durch die wohnortsnahen traditionellen Apotheken nicht zu gefährden. Der Schluss liegt nahe, dass es sich hierbei um gezielte Interessenpolitik im Sinne der Apotheker handelt: Nur ungern möchte sich der CDU-Politiker im Wahljahr 2017 gegen die Interessen der gut organisierten Apotheker stellen.

MyTaxi und Uber: Einsparungspotentiale in Millionenhöhe

Der Markt für Medikamente ist nicht der einzige, auf dem etablierte Platzhirsche um ihre Privilegien ringen. Seit Jahren wehren sich Taxiunternehmen und ihre Interessenverbände gegen Konkurrenten, die wie MyTaxi oder Uber auf Apps statt auf Taxistände setzen. Auch ihnen ist sehr viel an der Preisbindung in ihrer Branche gelegen. Dies ist verständlich. Erlaubt die Preisbindung es Taxiunternehmen doch, sich Konkurrenten vom Leibe zu halten, die bereit wären, die gleiche Leistung oder gar eine bessere Leistung zu einem niedrigeren Preis anzubieten.

Öffentlich stellen die Interessensvertreter gerne die angeblichen Vorzüge der Preisbindung für den Verbraucher in den Vordergrund: Die auf dem Taximarkt geltende Preisbindung würde einen ruinösen Preiswettbewerb verhindern und somit das für die allgemeine Daseinsvorsorge wichtige Funktionieren des örtlichen Taxenverkehrs sichern.

Für ein Versagen des Marktes für Fahrdienstleistungen spricht jedoch nichts. Vieles spricht allerdings dafür, dass Taxiunternehmen, wie auch andere Unternehmen, keine zusätzliche Konkurrenz mögen. Die Aufhebung der Preisbindung würde die Konkurrenz zwischen den derzeitigen Taxiunternehmen und alternativen Anbietern intensivieren. Anbieter mit einem schlechten Preis-Leistungs-Verhältnis würden sich nicht lange auf dem Markt halten können und müssten entweder attraktivere Angebote machen oder den Markt verlassen. Die Attraktivität der gemachten Angebote würde demnach für die Kunden gegenüber dem derzeitigen Preisbindungsszenario sogar steigen.

 

 

Wie hoch die Vorteile einer Preisliberalisierung für die Verbraucher wären, lassen Zahlen aus Amerika erahnen. Die Kosteneinsparungen, die Kunden allein durch UberX für das Jahr 2015 realisieren konnten, lagen dort Schätzungen zufolge bei etwa 6,8 Milliarden US-Dollar. Das sind handfeste Vorteile für Verbraucher, die ihnen hierzulande mit Hinweis auf ihren eigenen Schutz vorenthalten werden.

Büchervielfalt auch ohne Preisbindung

Ein weiterer prominenter Fall, in dem angebliche Verbraucherinteressen vorgeschoben werden, um Klientelinteressen salonfähig zu machen, ist die Buchpreisbindung. Diese schreibt den Verlagen vor, für jedes Buch einen unveränderbaren Preis festzusetzen, der für alle Letztverkäufer verbindlich ist. Das erklärte Ziel der Buchpreisbindung ist, ein vielfältiges Angebot an Büchern zu garantieren, welches über Bestseller hinausgeht und auch die Verlegung weniger populärer, aber kulturell wertvoller Titel ermöglicht.

Der angeführte positive Effekt der Preisbindung auf die Anzahl der erschienenen Buchtitel lässt sich jedoch nicht beobachten. Die beiden Haupteffekte einer Aufhebung der Preisbindung sind empirischen Studien zu Folge andere: Zum einen eine Verlagerung von kleinen unabhängigen Buchhandlungen zu größeren Filialen, zum anderen eine Verringerung der Preise für Bestseller. Die Profiteure der Buchpreisbindung scheinen also in erster Linie kleine Buchhandlungen zu sein, während eine Aufhebung der Buchpreisbindung dem ursprünglich ausgegebenen Ziel der Buchpreisbindung eher nicht entgegensteht.

Einige Angehörige unserer Gesellschaft mögen ein Faible für kleine Buchhändler haben, die ohne Buchpreisbindung im Wettbewerb mit großen Buchhandlungen und Onlineanbietern, die eine vielfältigere Auswahl zu niedrigeren Preisen anbieten, keine Chance auf ein profitables Fortbestehen hätten. Den Fortbestand kleiner Buchhändler zu sichern, ist jedoch gewiss nicht Aufgabe des Staates.

Die Preisbindung hat ausgedient

Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Aufgabe von Preisbindungen auf den Märkten für rezeptpflichtige Medikamente, Taxifahrten und Bücher zu den von den jeweiligen Interessengruppen prophezeiten Desastern führen würde. Im Gegenteil. Es spricht vieles dafür, dass die dem Schutz der breiten Masse der Verbraucher dienenden politischen Ziele grundsätzlich besser durch eine Preisliberalisierung erreicht werden könnten. Anstatt sich in Passivität zu üben und auf Maßregelungen des Europäischen Gerichtshofs zu warten, sollte sich der deutsche Gesetzgeber selbständig aufraffen, Preisbindungen im Sinne der Verbraucher aufzuheben.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Anna Hanks from Flickr (CC BY 2.0).

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Nachdem im vergangenen Jahr fünf weitere US-Staaten den medizinischen Gebrauch von Hanfprodukten liberalisiert haben, ist dieser nun in der Mehrheit der US-Staaten legal. Auch in Deutschland ist es jüngst zu Liberalisierungen gekommen. Zwar ist der erleichterte Zugang zu entsprechender Arznei für Patienten zu begrüßen. Doch viele Konsumenten profitieren davon nur in geringem Maße, da ihnen der Erwerb zu nicht-medizinischen Zwecken weiterhin verboten ist.

Zahlreiche Studien, die auf Erfahrungen mit der liberaleren Gesetzgebung in den Niederlanden, Portugal und einigen US-Staaten zurückgreifen, lassen die offiziell angeführten Argumente für die Prohibition unbegründet erscheinen. Weder führt die Liberalisierung weicher Drogen zu einer höheren Kriminalitätsrate, noch erhöht sie das Abhängigkeitsrisiko dramatisch.

Dagegen lässt die Liberalisierung von Hanfrauschmitteln Vorteile erwarten: Konsumenten könnten Rauschmittel entsprechend ihrer Präferenzen ohne Befürchtung rechtlicher Konsequenzen genießen. Ihre einvernehmlichen Transaktionen mit Produzenten würden nicht mehr auf dem Schwarzmarkt stattfinden. Freiwerdende Polizei- und Justizressourcen könnten dringenderen Zwecken zugeführt werden. Die Besteuerung des Hanfkonsums würde die Senkung schädlicherer Steuern ermöglichen.

Liberalisierung international auf dem Vormarsch

Immer mehr Länder ermöglichen den Gebrauch von Hanfprodukten zu medizinischen Zwecken, so auch Deutschland. Produktion, Handel und Besitz (nicht jedoch der Konsum) von Hanfrauschmitteln bleiben hierzulande allerdings weiterhin illegal. In der Praxis wird der Erwerb kleinerer Mengen zum Eigengebrauch nicht zwingend verfolgt, doch Anbau, Verarbeitung, Distribution und Erwerb führten 2015 zu rund 169.000 registrierten Delikten.

Die Niederlande und Portugal werden oft als Beispiele für eine liberalere Drogenpolitik angeführt. Zwar unterscheidet sich die dortige Rechtslage von der deutschen nicht dramatisch, doch weicht sie in relevanten Details ab. So ist in den Niederlanden der Verkauf, Erwerb und Konsum von Hanfprodukten im Rahmen sogenannter Coffeeshops für niederländische Staatsbürger legal. In Portugal werden Erwerb und Konsum nicht mehr strafverfolgt, wenngleich sie formal illegal bleiben und Hanfrauschmittel beschlagnahmt werden können.

 

 

In den USA, deren Bundesregierung seit Jahrzehnten einen fragwürdigen War on Drugs führt, erlauben mittlerweile sieben Bundesstaaten und D.C. den Vertrieb und Konsum kleinerer Mengen von Hanfrauschmitteln. Anders als in den Niederlanden und Portugal ist teilweise der Anbau geringfügiger Mengen gestattet, wenngleich die Möglichkeiten für die industrielle Produktion von und den Großhandel mit Hanfrauschmitteln für nicht-medizinische Zwecke stark limitiert bleiben. Einen ersten Schritt in Richtung legaler Produktion ging Uruguay in 2013. Seitdem dürfen Haushalte und Farmkooperativen dort größere Mengen Cannabis anpflanzen.

Kein höheres Konsumrisiko für Minderjährige

Gegner der Liberalisierung von Hanfrauschmitteln fürchten, dass ein größerer Teil der Bevölkerung, insbesondere Jugendliche, entsprechende Produkte konsumieren würde, sobald ihm der Zugang zu Drogen erleichtert wird. Eine höhere Konsumrate ist nicht per se problematisch, wenn sie aus freiwilligen Entscheidungen resultiert, doch ein höheres Konsumrisiko unter Minderjährigen wäre Anlass zur Besorgnis. Ein Survey-Artikel von 2016 berichtet, dass bisherige Studien keine Hinweise auf ein wachsendes Konsumrisiko unter Jugendlichen aufgrund liberalerer Drogengesetze liefern, wenngleich Hanfkonsum in legalisierenden Staaten als weniger riskant wahrgenommen wird.

Die meisten Studien basieren auf Erfahrungen mit der Legalisierung medizinischer Hanfprodukte. In der Praxis kann allerdings davon ausgegangen werden, dass erleichterter Zugang für Patienten auch zu erleichtertem Zugang für Menschen führt, die Hanfprodukte aus anderen Gründen konsumieren wollen. Studien, die sich explizit mit der Regulierung nicht-medizinischer Hanfprodukte beschäftigen, finden zwar, dass Konsumraten unter Jugendlichen in Staaten mit laxeren Drogengesetzes höher sind – sowohl in den USA als auch international –, doch einen kausalen Zusammenhang können sie nicht identifizieren.

Keine wachsende Kriminalität

Gegner der Legalisierung fürchten, dass Cannabiskonsumenten zu härteren Drogen abgleiten und damit die assoziierte Beschaffungskriminalität zunimmt. Befürworter erhoffen sich dagegen den Rückgang schwarzmarktbedingter Kriminalität. Bisherige Studien finden, dass Kriminalitätsraten tendenziell sinken, wenn Hanfprodukte für den medizinischen Gebrauch legalisiert werden. Geringfügig steigende Kriminalitätsraten resultierten dagegen aus der Anhebung der straffreien Menge für den Eigenbedarf in den USA, während entsprechende Reformen in Großbritannien keinen derartigen Effekt hatten.

Die medizinische Forschung ist bezüglich der Frage , welche Auswirkung liberalere Drogengesetze auf die staatlichen Gesundheitssysteme haben, bisher zu keinem Konsens gelangt. Bestehende Studien weisen darauf hin, dass intensiver und regelmäßiger Konsum die Arbeitsproduktivität senkt und mit häufigerem Auftritt bestimmter Krankheiten assoziiert ist. Umstritten sind die Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung. Drogenexperten schätzen Hanfrauschmittel regelmäßig als deutlich harmloser ein als die legale Droge Alkohol, für die legale Hanfrauschmittel Substitute sein können.

Legalisierung entlastet Steuerzahler

Angesichts der hohen Kosten, die für die Aufrechterhaltung der Prohibition und die Bekämpfung prohibitionsbedingter Schwarzmarktaktivitäten anfallen, verwundert nicht, dass Ökonomen deutliche Justizkosteneinsparungen durch die Legalisierung von Hanfrauschmitteln erwarten. Eine Schätzung für die USA geht von etwa 8,7 Mrd. Dollar jährlich aus – Ressourcen, die dringenderen Zwecken zugeführt werden könnten.

Darüber hinaus entgehen dem Fiskus durch die Prohibition bedeutende Einnahmen. Eine 2016 im American Economic Review erschienene Studie schätzt, dass der US-Staat jährlich zwischen 4 und 12 Mrd. Dollar einnehmen könnte, wenn er Hanfprodukte vollständig legalisierte und anschließend mit einem Satz von 25% besteuerte. Dies deckt sich mit einer weiteren Schätzung, die Mehreinnahmen von 8,7 Mrd. Dollar pro Jahr erwarten lässt. Höhere Konsumsteuern lassen sich nutzen, um schädlichere Steuern zu senken.

Aus Erfahrungen lernen

Deutschland würde durch eine Legalisierung von Hanfrauschmitteln kein Neuland betreten, denn die Erfahrungen anderer Länder lassen eine Einschätzung der Folgen zu. Die Erfahrungen Portugals deuten darauf hin, dass positive Begleiterscheinungen wie der Rückgang sexuell übertragbarer Krankheiten oder Todesfälle unter Drogeneinwirkung durch die Entkriminalisierung weicher Drogen zu realisieren sind, selbst wenn deren Produktion und Verkauf illegal bleiben.

Erfahrungen einiger US-Staaten lassen vermuten, dass die Legalisierung des Anbaus für den Eigenbedarf deutliche Preissenkungen und Qualitätssteigerungen bewirkt. Aufgrund von Skaleneffekten wären allerdings weitere Kosteneinsparungen durch die Legalisierung der kommerziellen Produktion zu erwarten. Heimische Produktion würde den derzeit stattfindenden Import aus anderen Ländern reduzieren.

Legalisierung in Deutschland überfällig

Für die oft angeführten negativen Folgen der Freigabe weicher Drogen mangelt es an Evidenz, während die Vorteile für freiwillig miteinander handelnde Konsumenten und Produzenten offenkundig sind. Kontroverser als die Entkriminalisierung des Erwerbs und Konsums ist die Liberalisierung der Anbau- und Vertriebsbedingungen. Gegen eine Übernahme der bereits in anderen Ländern praktizierten liberaleren Regeln für den Heimanbau und Verkauf spricht nichts und bei der Legalisierung der kommerziellen Produktion könnte Deutschland Vorreiter sein.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Wikimedia Commons (CC 0)

Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.

Präsident Macron hat für die Eurozone einen Fonds zur Krisenintervention vorgeschlagen. Der Fonds soll Euroländern, die zum Beispiel in eine Rezession geraten, zinsgünstige Kredite geben. Zu zahlen wäre der durchschnittliche Zins, den die Euroländer am Kapitalmarkt aufbringen müssen. Der Fonds würde daher nur von den weniger kreditwürdigen Ländern in Anspruch genommen, die am Markt einen überdurchschnittlichen Zins zahlen müssten. Dabei hängt die Kreditwürdigkeit weniger von der vorübergehenden Konjunkturlage als vom Umfang der bereits bestehenden Staatsverschuldung (relativ zum Bruttosozialprodukt) und von der Vertrauenswürdigkeit der politischen Institutionen ab.

Vergleicht man den geplanten Krisenfonds mit dem existierenden „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM), so fällt zunächst die Verwässerung der Zugangsbedingungen auf. Gemäß Art. 3 des ESM-Vertrages können Kredite nur an diejenigen ESM-Mitglieder vergeben werden, „die schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder denen solche Probleme drohen …, wenn dies zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist“. Solange also zum Beispiel Frankreich nicht schwerwiegende Finanzierungsprobleme drohen, welche die Finanzstabilität der Eurozone gefährden, kommt das Land nicht an das Geld des ESM heran. Im Gegenteil, Frankreich ist Nettozahler, weil es die subventionierten ESM-Kredite an Griechenland, Zypern, Irland, Portugal und den spanischen Bankenfonds mitfinanziert. Der französische Präsident Sarkozy war 2010 bereit, diesen Preis zu zahlen, weil er unbedingt verhindern wollte, dass ein Eurostaat – zuerst Griechenland, nach diesem Präzedenzfall aber vielleicht irgendwann auch Deutschland – aus der Währungsunion austreten würde. Der ESM wird den Franzosen aber allmählich zu teuer, zumal nach der Bundestagswahl Schuldenerleichterungen für Griechenland anstehen. Es ist unwahrscheinlich, dass Frankreich selbst früher oder später vom ESM billige Kredite erhalten könnte. Aber die Zugangsbedingung des neuen Krisenfonds – eine Rezession – wird Paris von Zeit zu Zeit erfüllen können. Wenn die anderen Euroländer – allen voran Deutschland – im gewichteten Durchschnitt kreditwürdiger sind, lohnt sich der französische Griff in die Krisenkasse. Vielleicht gelingt es Macron sogar, den bestehenden ESM ganz oder teilweise zum Krisenfonds für Rezessionen umzufunktionieren.

Macron will nicht nur den ESM-Vertrag, sondern auch den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ändern, denn dieser lässt eine Ausnahme vom Bail-out-Verbot des Art. 125 AEUV nur zu, „wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets zu wahren“ (Art. 136 Abs. 3, eingefügt im März 2011). Die von Macron vorgeschlagene Vertragsänderung bedarf der Zustimmung aller 28 Mitgliedstaaten und könnte in einigen relativ kreditwürdigen Eurostaaten auf Widerstand stoßen.

Neben den Verteilungswirkungen des Krisenfonds ist seine Effizienz zu untersuchen. In der Vergangenheit war es so, dass der Staat in der Rezession sein Haushaltsdefizit erhöhte, indem er sich am Kapitalmarkt verschuldete. Der Weltkapitalmarkt verteilte die Schocks effizient auf die gesamte Weltwirtschaft. Demgegenüber würde der Krisenfonds die Risiken in den Euroländern konzentrieren. Das wäre weniger effizient.

Da sich das Krisenland beim Fonds billiger verschulden kann als am Markt – d. h., billiger, als seiner Kreditwürdigkeit entspricht -, erhält es zugleich einen stärkeren Anreiz sich zu verschulden. Vielleicht gibt es keynesianische Ökonomen, die das begrüßen würden. Nicht einverstanden wären Ricardianer wie Robert Barro und politische Ökonomen wie James Buchanan. Aus politisch-ökonomischer Sicht ist zu beachten, dass die Regierenden vor der Wahl nicht nur die Rezession überwinden, sondern auch einen vorübergehenden Boom – ein konjunkturelles Strohfeuer – herbeizaubern möchten. An einem solchen politischen Konjunkturzyklus sind die Bürger nicht interessiert. Die Zinssubvention des Krisenfonds vergrößert daher die Diskrepanz zwischen den Wünschen der Bürger und den Taten der Politiker.

Da die konjunkturelle Entwicklung unsicher ist, kann Macrons Krisenfonds als Versicherung gegen makroökonomische Schocks betrachtet werden. Der Schaden ist die Rezession oder Krise, die Versicherungsleistung ist die Zinssubvention. Aber in diesem Fall wird die Versicherung nur von denen in Anspruch genommen, deren Kreditwürdigkeit geringer als der Durchschnitt ist. Die überdurchschnittlich kreditwürdigen Mitgliedstaaten zahlen zwar auch Beiträge in den Fonds ein, aber sie empfangen von ihm keine Versicherungsleistungen. Das bedeutet: die relativ kreditwürdigen Mitglieder schenken den nicht so kreditwürdigen Mitgliedern Versicherungsschutz gegen wirtschaftliche Krisen. Die Versicherung ist offensichtlich nicht versicherungsmathematisch fair und daher nicht effizient. Außerdem schwächt sie den Anreiz, durch eine gute Wirtschaftspolitik Krisen zu vermeiden. Das ist der sogenannte Moral Hazard. Es ist ein Fehler zu glauben, dass sich die Menschen gegen alle Risiken versichern sollten.

Der Fonds erspart es den Regierungen der unterdurchschnittlich kreditwürdigen Krisenländer, sich zu hohen Zinsen am Kapitalmarkt zu verschulden. Mit Hilfe des Fonds können sie ihre mangelnde Kreditwürdigkeit vor dem Wahlvolk verschleiern. Er versichert die Politiker gegen das Risiko, dass das Wahlvolk erkennt, wie gering der Weltkapitalmarkt ihre Kreditwürdigkeit einschätzt.

Gefragt, ob sie sich einen Euro-Krisenfonds à la Macron vorstellen könne, bemerkte Angela Merkel jovial: „Why not?“ Der vorliegende Beitrag ist ein Versuch, ihre Frage zu beantworten. Ist der französische Plan raffiniert genug, um die Deutschen zu übertölpeln?