Photo: Marion S. Trikosko from Wikimedia Commons (CC 0)

Von Alexander Kobuss, Research Fellow bei Prometheus Oktober 2021 – Februar 2022. Alexander hält einen Master of Education in den Fächern Geschichte und Sozialwissenschaften von der Universität zu Köln. Aktuell promoviert er zur Geschichte der sozialen Marktwirtschaft und untersucht dabei vor allem die Gründungszeit der Bundesrepublik. Seine geförderte Masterarbeit beschäftigte sich mit der Rezeption der sozialen Marktwirtschaft in Großbritannien.

Die 1970er Jahre waren eine turbulente Zeit. Sie waren die Zeit hervorragender Disco-Klassiker von ABBA oder Boney M, aber auch ein Jahrzehnt politischer Umbrüche. Das „Krisenjahrzehnt“ war gekennzeichnet durch Ereignisse wie den Krieg in Vietnam, die Watergate-Affäre, Ölkrisen, den Nordirland-Konflikt und die sogenannte Stagflation. Letztere traf ganz besonders Großbritannien, bedeutete nachhaltigen Konflikt in der britischen Politik und brachte die Idee der sozialen Markwtirtschaft über den Ärmelkanal.

Nach Ende des zweiten Weltkrieges entwickelte sich im britischen Parlamentarismus der post war consensus. Die konservative Tory- und die linke Labour-Partei kamen überein, dass ein starker Staat die Wirtschaft in die richtigen Bahnen lenken müsse. Nach Jahren des kontinuierlichen Ausbaus des Wohlfahrtsstaates zeigte die Stagflation der 1970er – eine Mischung auf hoher Inflation und ökonomischer Stagnation – die negativen Konsequenzen des staatsfreundlichen Konsenses auf. Lähmende Bürokratie, niedriges Wachstum und hohe Inflation schadeten dem Wohlstand der britischen Bevölkerung. Die wenigen Profiteure des consensus waren gut organisierte Gruppen, die ihre Gewerkschafts- und Geschäftsinteressen gegen den den ökonomischen Fortschritt des Landes ausspielten.

Seinen Höhepunkt fand das ökonomische Krisenjahrzehnt im Winter of Disconent. Eine Winterrezession in den Jahren 1978/79 wurde von so schweren Streiks der Gewerkschaften begleitet, dass Krankenhäuser wochenlang stillstanden, der Abfall nicht entsorgt und die Toten nicht begraben wurden. Dies bereitete den Boden für ein politisches Erdbeben: 1979 wurde Margaret Thatcher mit dem Versprechen liberaler ökonomischer Reformen zur ersten weiblichen Premierministerin Großbritanniens gewählt. Während Thatchers Wahl in die Geschichtsbücher einging, wurde eine spannende Debatte weitestgehend vergessen: die Auseinandersetzung der Tories mit dem deutschen Konzept der sozialen Marktwirtschaft.

Spuren einer Debatte um politische Kommunikation

Ausgangspunkt dieser Debatte ist das 1975 veröffentlichte Pamphlet „Why Britain needs a social market economy“ des Politikers Keith Joseph. In dem, vom konservativen Think-Tank Centre for Policy Studies publizierten Papier, legte Joseph dar, dass die deutsche Volkswirtschaft deutlich besser mit den Krisen der 1970er Jahre umging als die britische. Daher sei es an der Zeit, sich an dem deutschen Konzept der sozialen Marktwirtschaft zu orientieren. Dabei war es den Tories wichtig, die Prinzipien der freien Marktwirtschaft wie zum Beispiel eine konsequente Liberalisierung der britischen Wirtschaft nicht nur inhaltlich, sondern auch rhetorisch attraktiv zu machen.

Thatcher hingegen war kein Freund eines Begriffs, der dem Sozialismus auch nur phonetisch ähnlich klang. Ihr konsequenter Widerstand gegen eine Anbiederung an alles was an den postwar consensus erinnerte, zeigt sich auch bei einem Treffen mit einer Gruppe von one nation conservatives, die sich wirtschaftspolitisch in Krisenzeiten nicht allzu weit vom consensus entfernen wollten. Ähnlich wie in ihrer Reaktion auf die soziale Marktwirtschaft soll Thatcher schroff reagiert, aus ihrer Handtasche das Buch „Die Verfassung der Freiheit“ des liberalen Ökonomie-Nobelpreisträgers F.A. Hayek gezogen und gesagt haben: „this is what we believe!“ In ihren Memoiren schrieb sie, dass der Begriff soziale Marktwirtschaft genauso schnell im parteiinternen Diskurs aufkam wie er auch wieder „leise vergessen“ wurde.

Das kurze Aufleben der „social market economy“

Thatcher sollte Recht behalten. Ohne den Begriff sicherte sie sich überzeugend ihre erste Wiederwahl und brachte die gesamte Partei hinter ihre konsequentere Position. Thatchers Erdrutschsieg wurde auch durch die Spaltung der Labour Partei begünstigt, aus der sich die moderate Social Democratic Party (SDP) ausgründete. Die SDP, im Bündnis mit den Liberalen, erzielte bei der Wahl 1982 einen Achtungserfolg mit 25% der Gesamtstimmen. Zwar war es nicht genug, um mit den Tories unter Thatcher mitzuhalten, aber es reichte, um einen bekannten Begriff wieder in den politischen Diskurs einzubringen: die social market economy. SDP und Liberale orientierten sich diesmal nicht an den Gründungvätern der sozialen Marktwirtschaft, sondern an den Erfolgen der sozialliberalen Koalition in Deutschland zur gleichen Zeit. Der SDP gelang es aber nicht, den Begriff mit einem konkreten wirtschaftspolitischen Programm zu füllen. Nachdem Thatcher auch ihre zweite Wiederwahl sicherte, versank die SDP in der politischen Bedeutungslosigkeit, fusionierte mit den Liberalen zu den Liberal Democrats und der Begriff der sozialen Marktwirtschaft scheiterte erneut.

Immer wieder sollten sich später Intellektuelle an dem Konzept versuchen. Doch das deutsche Konzept der sozialen Marktwirtschaft konnte sich nie in Großbritannien durchsetzen. So blieb die social market economy eine Fußnote im Ringen um gute politische Kommunikation in der Ära Thatcher.

Photo: Michela Simoncini from Flickr (CC BY 2.0)

Von Alexander Horn, Geschäftsführer von Novo Argumente und Unternehmensberater. Zuletzt erschien sein Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.

Die Inflation droht außer Kontrolle zu geraten, denn die Inflationsbremsen sind kaputt. Wir brauchen nichts Geringeres als eine Kehrtwende in der Wirtschafts- und Geldpolitik.

Schon vor Monaten warnte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), dass die Inflation außer Kontrolle geraten könnte: „Die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale ist real“, daher müsse der Staat nun mit gezielten Entlastungen den Kaufkraftverlust der Menschen begrenzen und so, Lindner „verhindern, dass die Inflation sich selbst verstärkt.“[1]

Das wird nun jedoch infolge des rasanten Inflationsgeschehens nicht mehr zu unterbinden sein, denn nicht nur bei den Löhnen und Gehältern, sondern in allen Wertschöpfungsketten gibt es die gefürchteten Zweitrundeneffekte. Weder die Unternehmen noch die Erwerbstätigen können den enormen Preisanstieg durch Sparmaßnahmen ausgleichen, ohne dass es auf die Profitabilität beziehungsweise den Lebensstandard durchschlägt. Um ihre Profitabilität zu bewahren, sind die Unternehmen gezwungen, ihre steigenden Kosten in den Wertschöpfungsketten weiterzugeben und überwälzen diese – sofern sie die Möglichkeit haben – auf die Verbraucher. Diese wiederum können den innerhalb der letzten zwei Jahre erlittenen Kaufkraftverlust infolge des Verbraucherpreisanstiegs von inzwischen mehr als 15 Prozent ebenfalls nicht wegstecken. In den Tarifverhandlungen, so der Präsident des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, gehe es letztlich um nichts anderes als darum, zwischen den Tarifpartnern die „Verluste zu verteilen“.[2]

Wer verliert am meisten?

Die Inflation gewinnt seit Monaten zunehmend an Dynamik. Im Oktober sind die Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahresmonat sogar um 10,4 Prozent nach oben geschnellt. Nun sorgen nicht mehr nur die Energiepreise für die rasante Preisdynamik, denn auch die Nahrungsmittelpreise explodieren Sie lagen im Oktober sogar um 20,3 Prozent höher als vor einem Jahr.[3] Der Preisauftrieb, so die Bundesbank nüchtern, sei „inzwischen breit angelegt.“[4]

Die Gewerkschaft Ver.di und der Beamtenbund mussten für die etwa 2,5 Millionen Beschäftigten bei Bund und Ländern nachziehen. Sie fordern 10,5 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 500 Euro mehr pro Monat, was bei unteren Lohngruppen einen deutlich höheren prozentualen Lohnaufschlag bedeuten würde.

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), tönte sogleich, er „halte Lohnerhöhungen von 10,5 Prozent für den öffentlichen Dienst für überzogen“.[5] Noch bevor die 10,5-Prozent-Forderung auf dem Tisch lag und in Anbetracht der in ganz Europa anstehenden Tarifverhandlungen blies der Chefökonom der EZB, Philip R. Lane ins gleiche Horn. Um zu einer niedrigeren Inflation zurückkehren zu können, sei die „Erkenntnis notwendig“, dass „die Rentabilität der Unternehmen sinken“ werde, „und dass die Löhne auch eine Zeit lang nicht mit der Inflation Schritt halten können.“[6]

Vor einigen Wochen noch musste sich die IG-Metall den Vorwurf des Chefs des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Stefan Wolf, gefallen lassen, dass sie an „Realitätsverlust“ leide und für die Wirklichkeit der Branche „blind geworden“ sei. Die Gewerkschaft forderte 8 Prozent mehr Lohn für die knapp 4 Millionen Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie und akzeptierte bereits mit dieser Lohnforderung die von Lane geforderten Reallohneinbußen.[7] Aber auch Tarifergebnisse, die weit unterhalb des Verbraucherpreisanstiegs liegen, werden zu Zweitrundeneffekten führen. Um sich schadlos zu halten, müssen die Arbeitgeber die höheren Löhne wiederum auf ihre Preise draufschlagen.

Kaputte Inflationsbremse …

Regierungen und Zentralbanken stehen der sich entfaltenden Inflationsspirale weitgehend hilflos gegenüber, denn über die vergangenen Jahrzehnte haben die Staaten der entwickelten Volkswirtschaften eine Wirtschafts- und Geldpolitik verfolgt, die die Inflationsbremsen, über die eine gesunde Marktwirtschaft verfügt, zerstört hat.

Die Entwicklung der Arbeitsproduktivität spielt hierbei die zentrale Rolle, auch wenn in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion fast ausschließlich auf die Geldpolitik und die temporären Marktverzerrungen, die durch die Corona-Krise und den Ukraine-Krieg ausgelöst wurden, abgehoben wird. Denn von der Verbesserung der Wertschöpfungsprozesse gehen kostensenkende Effekte aus. Diese können die Unternehmen zur Verbesserung ihrer Profitabilität nutzen, sofern es ihnen gelingt, die eigenen Verkaufspreise hoch zu halten – oder sie sind in einem eher wettbewerbsstarken Umfeld gezwungen, die Kostenvorteile durch Preissenkungen weiterzugeben, um sich wettbewerblich am Markt durchzusetzen. Bereits seit Mitte der 1970er Jahre hat sich die in den 1950er und 1960er Jahren rasante Entwicklung der Arbeitsproduktivität jedoch immer weiter abgebremst, so dass ab der Finanzkrise 2008 in Deutschland – wie auch in anderen entwickelten Volkswirtschaften – praktisch keine Verbesserungen mehr erzielt wurden.

Die tiefere Ursache hierfür sind rückläufige Unternehmensinvestitionen. Die Unternehmen investieren im Verhältnis zu der von ihnen erzielten Wertschöpfung immer weniger in die technologische Verbesserung ihrer Produktions- und Dienstleistungsprozesse, wie auch in den Aufbau von Kapazitäten für völlig neuartige innovative Produkte. Ab dem Beginn der 2000er Jahre hat die rückläufige Investitionsneigung der Unternehmen sogar dazu geführt, dass der Unternehmenssektor zunehmend größere Finanzierungsüberschüsse erzielt.[8] Die Unternehmen funktionieren seitdem wie Banken, die dem Kapitalmarkt freie Mittel zur Verfügung stellen, weil sie für die von ihnen erzielten Gewinne keine eigene profitable Verwendung sehen. Rückläufige Investitionen in den technologischen Fortschritt haben sich, da sie die Kosten senken, sogar zu einem bedeutenden Treiber für hohe Dividenden entwickelt, was wiederum hohe Unternehmensbewertungen rechtfertigt. Obwohl rückläufige Investitionen ursächlich sind, wurde das Anschwellen der Kapitalmärkte durch den stetigen Zufluss von immer mehr freien Mitteln von Ökonomen-Seite aus nicht als Investitionsschwäche, sondern als globale „Sparschwemme“ interpretiert.

Ab den 1980er Jahren sind die Zentralbanken dazu übergegangen, dieses zunehmend von Investitionslähmung betroffene wirtschaftliche Gefüge zu stabilisieren. Um die nun prosperierenden Finanzmärkte vor Krisen und Bewertungsrückschlägen zu bewahren, wurde zunächst eine asymmetrische Zinspolitik angewendet. Bei sich ankündigenden Krisen wurden die Zinssätze drastisch gesenkt und nach Überwindung der Krisen nicht wieder auf das vorherige Niveau angehoben, so dass sich die Bewertung der Vermögen immer weiter aufblasen konnte. Diese, von den Zentralbanken abgesicherte, Finanzialisierung, hat den Trend noch verstärkt, Kapital in die Finanzmärkte zu pumpen und auf Papiergewinne zu setzen anstatt in neue Unternehmenstechnologie zu investieren und darüber Gewinne einzustreichen. Als während der Finanzkrise 2008 und erneut während der Eurokrise 2012 das Finanzsystem aufgrund der entstandenen Unwucht zwischen einer darbenden Realwirtschaft und prosperierenden Finanzmärkten zu kollabieren drohte, wurde erneut mit dem Aufpumpen der Finanzmärkte reagiert, um die Wirtschaft – und inzwischen sogar überschuldete Staaten – mit noch billigerem und viele Billionen schwerem Zentralbankgeld zu retten.

Wegen der weitgehenden technologischen Stagnation der Wirtschaft in den entwickelten Volkswirtschaften, in der es nur wenigen Unternehmen gelingt, sich wettbewerblich durchzusetzen und technologisch stagnierende Unternehmen aus dem Markt zu drängen, können auch weniger profitable Unternehmen dauerhaft überleben. Insbesondere diese sind vom süßen Gift des billigen Geldes abhängig geworden, um durch niedrige Fremdkapitalzinsen ihre niedrige oder fehlende Profitabilität auszugleichen. Diese von den Zentralbanken geschaffene Abhängigkeit der Unternehmen, aber auch vieler Staaten, lässt sich nicht lösen, ohne diese Unternehmen in eine existenzielle Krise zu stürzen. Die Zentralbanken haben, indem sie die Abhängigkeit der Wirtschaft von extrem billigem Geld zugelassen haben, sich selbst die Möglichkeit genommen, sich einer Geldentwertung mit einer deutlichen Anhebung der Zinsen entgegenzustemmen. Nicht nur das: Brechen zu viele Unternehmen zusammen, stellt dies die geldpolitische Gewähr für die fortschreitende Finanzialisierung in Frage. Das erklärt die extrem zögerliche Haltung der EZB, die, um nicht handeln zu müssen, sogar so weit geht, dies auf ihre eigene Inkompetenz in der Inflationsbewertung zu schieben. Faktisch hat die EZB während ihrer Mini-Zinsschritte genau darauf geachtet, dass sie gefährdete Schuldner mit noch mehr billigem Geld als zuvor versorgt und das Zinsniveau weit, weit unterhalb der Inflationsrate bleibt.[9] Die geldpolitische Inflationsbremse ist völlig zerstört.

Aber auch die durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität wirkende Inflationsbremse ist kaputt. Denn weil die Unternehmen nur noch wenig in die Verbesserung ihrer Produkte und Prozesse investieren, sind sie wegen ausbleibender Produktivitätsgewinne kaum noch in der Lage, die Gesamtkosten zu senken und Kostensteigerungen aufzufangen. So konnten sie in der Vergangenheit Lohn- und Gehaltssteigerungen gut wegstecken, die im Bereich der Arbeitsproduktivitätssteigerungen lagen. Es gelang ihnen, nominale Lohnsteigerungen zulassen, ohne die Preise zu erhöhen, so dass das Verbraucherpreisniveau stabil gehalten wurde. Aus der Differenz zwischen nominalen Lohnsteigerungen und dem weniger stark steigenden Verbraucherpreisen resultierten Reallohnsteigerungen. Bis zu Beginn der 1990er Jahre ergaben sich diese noch in respektablem Umfang, seitdem ist der Reallohnzuwachs durch die weiter rückläufige Produktivitätsentwicklung zunehmend geschwächt worden – und nun zusammengebrochen.

… und ein Inflationstreiber

Während die Inflationsbremsen durch die Wirtschafts- und Geldpolitik zerstört wurden, hat sich, ausgelöst durch die ökologische Klimapolitik, ein dauerhafter Inflationstreiber etabliert. Die geplante Umstellung der Energieversorgung auf ausschließlich erneuerbare Energien, in Deutschland auf Windkraft und Solarenergie, ist ein enorm kostspieliger Kraftakt. Denn Wind- und Solarstrom ist um ein Vielfaches teurer als Strom aus konventionellen Energieträgern, wenn dieser entsprechend den Bedürfnissen moderner Industriegesellschaften bedarfsgerecht verfügbar gemacht wird. Das zeigt sich an der Entwicklung der Strompreise in Deutschland. Der Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeugung lag im letzten Jahr bei erst 42,4 Prozent. Windkraft steuerte lediglich 21,5 Prozent bei, Photovoltaik nur 8,7 Prozent.[10] Obwohl der Beitrag von Wind- und Solarstrom zur Stromversorgung in Deutschland bisher also nur etwa ein Drittel beiträgt, hat dessen Subventionierung dazu geführt, dass sich die Verbraucherstrompreise in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt haben.[11] Um den weiteren Preisanstieg zu bremsen, hat sich die Bundesregierung innerhalb eines Jahres bereits mehrfach gezwungen gesehen, die Strompreise mit jährlich zweistelligen Milliardenbeträgen aus dem Staatshaushalt zu subventionieren.

Dauerrisiko Inflation

Die nun von der Corona-Krise wie auch vom Ukraine-Krieg ausgehenden inflationären Effekte, treffen in den entwickelten Ländern auf eine gelähmte Wirtschaft, die auch auf längere Sicht nicht mehr die Kapazitäten hat, einer in Gang gekommenen Inflation entgegenzuwirken. Inflationärer Druck entsteht einerseits durch die Herausbildung von temporären Anbietermärkten, in denen Unternehmen aufgrund des Mangels höhere Preise durchsetzen können, andererseits durch effektiv höhere Produktions- und Logistikkosten für nicht-russisches Gas sowie andere knappe Güter. Ohne einen grundlegenden Kurswechsel bliebe wenig anderes übrig, als zu hoffen, dass dieser inflationäre Druck sich nicht weiter verschärft und sich gewissermaßen von selbst zumindest teilweise wieder zurückbildet. Das jedoch wird so schnell nicht der Fall sein, denn die vorläufig drastisch weiter steigenden Gas- und Strompreise werden zu ebenso drastischen Zweitrundeneffekten führen. Die Wirtschaft hat die Resilienz, diese Preissteigerungen zumindest teilweise und jedenfalls auf lange Sicht aufzufangen, mittlerweile verloren.

Das Schüren von Ängsten vor einer Lohn-Preis-Spirale, mit der versucht wird, den Erwerbstätigen die Schuld an einer Inflation zu geben, die außer Kontrolle zu geraten droht, ist starker Tobak. Verantwortlich für diese Inflationskrise ist eine verfehlte Wirtschafts-, Geld- und Klimapolitik, die Anstatt die Inflation zu bremsen, diese sogar noch befeuert. Die akute Gefahr, dass inflationäre Schübe außer Kontrolle geraten können und zu wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen führen, die selbst wirtschaftlich kerngesunde Unternehmen mit ihrer Existenz bezahlen und die Bürger mit Wohlstandseinbrüchen, wird solange bestehen bleiben, bis die Inflationsbremsen wieder in Stand gesetzt sind. Dazu braucht es aber zunächst das Eingeständnis, dass die Wirtschafts- und Geldpolitik der letzten Jahrzehnte die realwirtschaftlichen Probleme, die sich in der Stagnation der Arbeitsproduktivität manifestieren, mit viel Geld zu übertünchen versucht hat, anstatt diese Probleme zu adressieren.

Aber das scheint noch ein weiter Weg. Denn selbst die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland kommen nicht darüber hinweg, die faktisch noch immer bestehende relative Stärke der deutschen Unternehmen, als Beleg dafür zu betrachten, dass doch alles Bestens sei. So behauptet der bereits erwähnte DIW-Präsident Fratzscher, der die Lohnforderungen im öffentlichen Dienst für überzogen hält, das Wachstum der Arbeitsproduktivität in Deutschland sei „weiterhin robust“. Die „hohe Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen in der globalen Welt“ sei in den „allermeisten Fällen nicht durch geringe Löhne und niedrige Preise“ erklärbar, sondern durch hohe Produktivität und exzellente Qualität“, und diese heile Welt wird noch schöner, weil nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Beschäftigten der deutschen Unternehmen „hoch produktiv und motiviert“ seien.[12] Bis sich diese Realitätswahrnehmung ändert sollten die Erwerbstätigen der Empfehlung des Ifo-Präsidenten Fuest folgen und zusehen, dass sie beim nun anstehenden „Verluste verteilen“ möglichst gut wegkommen, indem sie nicht in Zweitrunden der Inflation hinterherrennen, sondern selbst vor die Welle kommen.

Um diese inflationäre Negativspirale zu durchbrechen, die von der Auseinandersetzung darüber, wer letztlich den Wohlstandsverslust trägt, angeheizt wird, müssen die Ursachen schleunigst angegangen werden. Und die liegen in einer gelähmten Realwirtschaft, die die Fähigkeit eingebüßt hat den Wohlstand der erwerbstätigen Massen zu heben, und in einer Wirtschafts- und Geldpolitik die einzig darauf ausgerichtet ist, dieses Problem mit immer mehr Schulden zu bemänteln und möglichst weit in die Zukunft zu verschieben.


[1] https://www.rnd.de/politik/christian-lindner-ueber-inflation-die-gefahr-einer-lohn-preis-spirale-ist-real-7BHDCTXBWNFWHH2OY7UKXQTIEE.html

[2] https://www.capital.de/wirtschaft-politik/zentralbanken-warnen-vor-inflationsgekoppelten-lohnerhoehungen-31892452.html#:~:text=Inflation%20Zentralbanken%20warnen%20vor%20inflationsgekoppelten%20Lohnerh%C3%B6hungen&text=24.05.2022%2C%2015%3A31%203%20Min.&text=Nicht%20nur%20die%20Angst%20vor,Ma%C3%9Fnahmen%20zur%20Sicherung%20der%20Reall%C3%B6hne.

[3] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/10/PD22_458_611.html#:~:text=Harmonisierter%20Verbraucherpreisindex%2C%20Oktober%202022%3A&text=Im%20September%202022%20hatte%20die,voraussichtlich%20um%200%2C9%20%25.&text=Vorl%C3%A4ufige%20Werte.

[4] https://www.bundesbank.de/resource/blob/896066/5a77338cc5b5aa3a46f1c308f4ab253e/mL/2022-08-ueberblick-data.pdf

[5] https://presse-augsburg.de/oeffentlicher-dienst-oekonomen-kritisieren-lohnforderungen-von-verdi/822977/

[6] https://www.blick.ch/wirtschaft/reaktion-auf-inflation-ezb-chefoekonom-warnt-vor-lohn-preis-spirale-id17913110.html

[7] https://www.capital.de/wirtschaft-politik/ig-metall-fordert-acht-prozent-mehr-lohn–folgt-jetzt-die-lohn-preis-spirale–32536948.html#:~:text=Diese%20Gefahr%20kennen%20sowohl%20Arbeitgeber,vier%20Prozent%20Steigerung%20pro%20Jahr.

[8] Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: „Aufschwung weiter kräftig – Anspannungen nehmen zu“ in: Gemeinschaftsdiagnose 2/2017, S. 66.

[9] https://www.tichyseinblick.de/wirtschaft/ezb-inflation-fragmentierung/

[10] https://www.entega.de/strompreisentwicklung/https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/03/PD22_116_43312.html#:~:text=Stromerzeugung%20aus%20erneuerbaren%20Energien%20zur%C3%BCckgegangen&text=Strom%20aus%20Windkraft%20hatte%20dadurch,Energietr%C3%A4ger%20in%20der%20Stromerzeugung%20gewesen.

[11] https://www.entega.de/strompreisentwicklung/#:~:text=In%20den%20letzten%20Jahrzehnten%20ist,betrug%20die%20Steigerung%20rund%20128%20%25.

[12] https://www.diw.de/de/diw_01.c.845442.de/nachrichten/mythos_namens_lohn-preis-spirale.html#:~:text=Wenn%20%C3%BCberhaupt%2C%20dann%20k%C3%B6nnte%20in,in%20den%20kommenden%20Jahren%20%C3%BCberspannen.

Photo: Ryunosuke Kikuno from Unsplash (CC 0)

Von Melanie del Giudice, Research Fellow bei Prometheus April bis Juni 2022. Melanie hat von 2018 bis 2022 an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen Communication, Culture and Management studiert. Ihre geförderte Bachelorarbeit untersucht Satiresendungen auf einen populistischen Kommunikationsstil und diskutiert die Befunde in einem demokratietheoretischen Rahmen.

Populismus finden wir in Ideologie, Politik und Stil. Geballt finden wir ihn in Einzelpersonen wie Donald Trump, Vladimir Putin oder Marine le Pen. Doch finden wir ihn – in seine Einzelteile zerlegt – auch an unerwarteter Stelle: in Satiresendungen.

Die Überraschung liegt mitunter daran, dass man Populismus gerne nur der rechten politischen Sphäre zuschreibt. Betrachtet man Populismus jedoch genauer, stellt man fest, dass er als Kommunikationsstil von allen politischen Akteur*innen verwendet werden kann. Politische Akteur*innen sind aber nicht nur Politiker*innen, sondern auch andere Gruppen, die einen relevanten Einfluss auf die Meinungsbildung von Wähler*innen haben, wie zum Beispiel in Satiresendungen.

Im Rahmen meiner Bachelorarbeit habe ich mir deshalb die Frage gestellt, ob deutsche Satiresendungen einen populistischen Kommunikationsstil verwenden. Es ist kein Geheimnis, dass die quotenstärksten deutschen Satiresendungen heute-show und ZDF Magazin Royale die Meinungsbildung und das politische Engagement in Deutschland beeinflussen. Die Literatur ist sich jedoch noch nicht einig, ob das etwas Gutes oder Schlechtes für die Demokratie verheißt. In meiner Bachelorarbeit habe ich die Satiresendungen heute-show und ZDF Magazin Royale auf einen populistischen Kommunikationsstil untersucht und meine Ergebnisse in einem demokratietheoretischen Rahmen diskutiert.

Vor meiner Recherche erwartete ich, dass ich keine populistischen Merkmale vorfinden würde. Schließlich kann man sich bei beiden Sendungen sicher sein, dass rechter Populismus wie Fremdenfeindlichkeit oder Hass auf religiöse Minderheiten keinen Platz findet. Populismus ist aber keineswegs ein Mittel, welches ausschließlich die politische Rechte verwendet. Dies lernt man, wenn man Populismus als Kommunikationsstil begreift, der von jedem und jeder politischen Akteur*in verwendet werden kann. Ob sich hinter diesem Kommunikationsstil eine Ideologie verbirgt, ist dabei eine ganz andere Frage. Klar ist: politische Akteur*innen des gesamten politischen Spektrums können sich eines populistischen Kommunikationsstils bedienen. Die Politikwissenschaftler Jagers und Walgrave trennen dabei zwischen zwei Arten des kommunikativen Populismus: Wird ganz einfach über „das Volk“ und seine Wünsche und Bedürfnisse gesprochen, so ist dies die Basis für einen „dünnen“ Populismus. Dieser bildet die Basis für allen Populismus. Wird nicht über „das Volk“ gesprochen, so liegt kein populistischer Kommunikationsstil vor. Kommen die Kritik an Eliten und der Ausschluss von bestimmten Bevölkerungsgruppen hinzu, sprechen Jagers und Walgrave von einem „dicken“ Populismus, der oftmals mit einer bestimmten Ideologie verbunden ist.

Methodisch habe ich eine in der Politikwissenschaft anerkannte Methode auf die Satiresendungen heute-show und ZDF Magazin Royale, mit leichten Anpassungen, angewendet. In diesem Vergleich wurde deutlich, dass die Satiresendungen heute-show und ZDF Magazin Royale in allen Indices vergleichbare Werte mit der belgischen Partei „Vlaams Blok“ (heute „Vlaams Belang“) aufwiesen, die regelmäßig als populistisch eingestuft wurde.

Ich konnte zeigen, dass die Satiresendungen heute-show und ZDF Magazin Royale verwenden beide einen „dicken“ Populismus. Das heißt, beide Satiresendungen sprechen über das Volk, sie kritisieren Eliten und schließen bestimmte Bevölkerungsgruppen aus. Dabei verwenden sie den „dicken“ Populismus nicht so wie es klassische, rechte Populist*innen tun, sodass ihr Kommunikationsstil oftmals nicht auf Anhieb als populistisch eingestuft wird, sondern sie verwenden einen eher linken populistischen Kommunikationsstil. Dabei kritisieren sie die Eliten in Politik, Staat und Wirtschaft und schließen ganze Bevölkerungsgruppen aus.

Das Ergebnis meiner quantitativen Inhaltsanalyse zeigt auch, dass sich Populismus als Kommunikationsstil nicht auf die rein politische Sphäre begrenzt, sondern auch über die Grenze des Politischen hinausgeht: bis hin zu Unterhaltungsangeboten wie Satiresendungen. Zugegeben, die Satiresendungen heute-show und ZDF Magazin Royale gehören zur politischen Sphäre, verkörpern aber mehr als das rein Politische: sie integrieren, kritisieren und informieren über politiknahe und -ferne Sachverhalte. Dabei vermitteln sie die politischen und gesellschaftsrelevanten Inhalte unterhaltsam und tragen dabei zur Meinungsbildung ihrer Rezipient*innen bei. Und weil politische Satiresendungen zur Meinungsbildung ihrer Zuschauer*innen beitragen, ist es interessant und wichtig zu wissen, wie und mit welchem Kommunikationsstil die Satiresendungen ihre Inhalte vermitteln.

Meine Forschungsarbeit kann viele Fragen nicht beantworten, doch zu einem klaren Ergebnis kommt sie: Die Satiresendungen heute-show und ZDF Magazin Royale verwenden einen populistischen Kommunikationsstil, sie beeinflussen damit ihre Zuschauer*innen und die Verwendung eines dick populistischen Kommunikationsstils ist im demokratietheoretischen Rahmen, mit Blick auf die liberale Demokratie, negativ zu bewerten.

Und was bedeutet das für Satireliebhaber*innen? Wir sollten Satiresendungen mit Vorsticht genießen und im Hinterkopf behalten, wie die Inhalte kommuniziert werden. Sind wir uns dessen bewusst, steht dem großen Lacher nichts mehr im Weg!

Literatur:

Cranmer, M. (2011). Populist communication and publicity: An empirical study of contextual differences in Switzerland. Swiss Political Science Review, 17(3), 286–307. https://doi.org/10.1111/j.1662-6370.2011.02019.x

Jagers, J., & Walgrave, S. (2007). Populism as political communication style: An empirical study of political parties’ discourse in Belgium. European Journal of Political Research, 46(3), 319–345. https://doi.org/10.1111/j.1475-6765.2006.00690.x

Kleinen-von Königslöw, K. (2014). Politischer Humor in medialen Unterhaltungsangeboten. In Politische Unterhaltung – Unterhaltende Politik. Forschung zu Medieninhalten, Medienrezeption und Medienwirkung (pp. 163–191). Herbert von Halem.

Young, D. G. (2017). Theories and Effects of Political Humor : Discounting Cues , Gateways , and the Impact of Incongruities The Content of Political Humor. August 2019, 1–17. https://doi.org/10.1093/oxfordhb/9780199793471.013.29

Photo: Ricardo Ardon from Unsplash (CC 0)

Von Vincent Czyrnik, Research Fellow bei Prometheus Juli bis Oktober 2022. Vincent hat Wirtschaftswissenschaften und Psychologie im Bachelor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg studiert. Dort absolvierte er auch seinen Master in Wirtschaftsethik und promoviert zum Thema Kryptowährungen am Lehrstuhl von Prof. Dr. Ingo Pies. Seine geförderte Master-Arbeit setzte sich mit der Bitcoin Einführung in El Salvador auseinander.

Aus einer kleinen Blechhütte heraus grinst freundlich ein Mann. Hinter ihm sind Regale zu erkennen mit handelsüblichen Waren: Alkohol, Süßigkeiten und Zeitungen. Neben der Eiswerbung an der Front des Geschäfts befinden sich mehrere Fotos, vermutlich von der Familie des freundlichen Mannes. Darüber leuchtet ein Sticker in grellem Orange: „Bitcoin accepted here“.

Im September 2021 führte der mittelamerikanische Kleinstaat El Salvador Bitcoin als gesetzliches Zahlungsmittel ein. Fast alles, vom Eis in der kleinen Blechhütte über die Steuern an den Staat bis hin zum Haus im idyllischen El Zonte kann man mit Bitcoin bezahlen. Bei den Bitcoin-Romantikern sorgte die Einführung für Euphorie: Sie sehen einen wichtigen Schritt weg vom inflationären Fiat-System hin zu einem transparenten und dezentralen Geldsystem. Kritiker der Einführung besonders in internationalen Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) sind hingegen besorgt: die hochvolatile Währung Bitcoin gefährde die finanzielle Stabilität des Landes.

Die Kritik des IWF ist nicht unberechtigt. Bitcoin ist circa zehn Mal volatiler als der US-Dollar oder Euro. Man stelle sich nur vor, der freundliche Mann mit seinem kleinen Blechhütten-Geschäft verkauft einen Tag lang Eis in Bitcoin, die dann aufgrund von Kursschwankungen 20 Prozent weniger wert sind. Der Mann, der vermutlich an der Armutsgrenze lebt, rutscht durch die Kursverluste unter diese Grenze und kann sich Lebensmittel für seine Familie nicht mehr leisten. Um diesem Problem zu entgegnen, hat die salvadorianische Regierung eine App namens Chivo eingeführt. Chivo ermöglicht es, schnell und kostenlos mit Bitcoin zu bezahlen, und ebenso schnell Bitcoin in US-Dollar in der App umzutauschen. Dadurch können Salvadorianer, wenn sie möchten, mit dem US-Dollar in einer weniger volatilen Währung sparen.

Doch wozu wollen die Salvadorianer Bitcoin neben dem US-Dollar verwenden, wenn sie doch alles beim Alten belassen und allein mit US-Dollar das Eis, die Steuern oder das Eigenheim bezahlen könnten? Bitcoin hat gegenüber dem US-Dollar zwei Vorteile. Erstens ist das digitale Bezahlen mit Bitcoin deutlich günstiger als mit Kreditkarten. Würde man das Eis aus der Blechhütte mit der Kreditkarte bezahlen, fallen gut und gerne drei Prozent Gebühren an – ganz abgesehen von den Kosten für den Ladenbesitzer, ein Lesegerät für Kreditkarten einzurichten. Durch das Bezahlen mit Bitcoin kann genutzt werden, was 65 Prozent der Salvadorianer ohnehin schon haben: ein Smartphone. Sie können mit ihrem Handy kostenlos Chivo (oder eine andere Bitcoin-Wallet) herunterladen und in Sekundenschnelle ihre Bitcoin an den Ladenbesitzer senden. Selbstverständlich können die Salvadorianer weiterhin mit Bargeld bezahlen. Doch diejenigen, die die Vorteile des digitalen Bezahlens nutzen möchten, bekommen durch Bitcoin eine einfache, sichere und anonyme Möglichkeit dazu geboten.

Der zweite Vorteil Bitcoins besteht in seiner Verwendung für Auslandsüberweisungen. 20(!) Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts El Salvadors setzt sich aus diesen Überweisungen zusammen. Viele Salvadorianer wandern für kurz oder lang in die USA aus, arbeiten dort für gutes Geld und versorgen ihre Familien daheim. Da aber 70 Prozent der Salvadorianer kein Bankkonto besitzen, ist es teuer und umständlich, Geld aus dem Ausland nach daheim zu senden. Vor Bitcoin nutzten sie teure Finanzdienstleister wie Western Union, die bis zu sechs Prozent der Überweisungssumme für sich beanspruchen.

Besitzen Sender und Empfänger eine Chivo-App, können nun weltweit schnell und kostenlos Bitcoin gesendet werden (mit alternativen Wallets wie zum Beispiel Muun kostet eine Überweisung zumeist unter einem Cent). Für den internationalen Zahlungsverkehr bietet das Bitcoin-Netzwerk damit ein enormes Potenzial. El Salvador versucht, dieses zu nutzen.

Doch findet die in der Theorie gute Idee in der Praxis nur wenig Anwendung. Ein erster Grund ist der kurze Zeitraum seit der Implementierung: Erst gut ein Jahr ist Bitcoin in El Salvador gesetzliches Zahlungsmittel. Für viele Menschen ist die Technologie Neuland und sie haben noch kein Verständnis und Vertrauen darin entwickelt.

Hinzu kommen zahlreiche technische Probleme mit der Chivo-App: Geld ging bei Überweisungen verloren, Chivo-Konten wurden ohne erkennbare Gründe gesperrt und beim Kundenservice musste man teils stundenlang in den „Chivo-Servicezentren“ auf Hilfe warten. Laien, die durch die Chivo-App zum ersten Mal mit Bitcoin in Berührung kamen, nutzen dann doch lieber Bargeld anstelle eines Systems, dessen Vorteile sich nicht gleich intuitiv erschließen.

Bitcoin weilt dadurch in El Salvador ein zögerliches Dasein. Gleichwohl bieten viele Geschäfte optional Bitcoin-Zahlungen an. Bitcoin-Romantiker betrachten das Land schon jetzt als den Pilgerort, „an dem alles begann“. So gibt es in El Zonte im Süden des Landes den „Bitcoin-Beach“, der einige Touristen anzieht. Skeptiker dagegen sehen das Bitcoin-Experiment schon jetzt als gescheitert an. Es bleibt abzuwarten. Und in der Wartezeit kann man sich beim freundlichen Mann in seinem Blechhütten-Geschäft ein Eis holen – und wer will, kann das schon jetzt mit Bitcoin bezahlen.

Photo: Michael Krahn from Unsplash (CC 0)

Von Felix Heinhold, Research Fellow bei Prometheus von Januar bis April 2022. Nach einem Bachelorstudium in International Business Administration in Ludwigshafen schloss Felix sein Master Studium in International Management an der Cathólica Lisbon School of Business & Economics in Portugal ab. Seine geförderte Master-Arbeit beschäftigte sich mit Corporate Sociopolitical Activisim, der aktiven Stellungnahme von privaten Unternehmen zu gesellschaftlichen Debatten.

Am 6. Januar 2021 hielt die Welt für einen Moment den Atem an. Um 12:00 Uhr Ortszeit entfesselt der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, Donald Trump, mit einer Brandrede seine Anhänger, die daraufhin das Kapitol in Washington D.C. stürmen. Um 12:30 Uhr durchbrechen sie erste Polizeibarrieren, um 14:00 Uhr dringen sie in das Parlamentsgebäude ein, etwa eine halbe Stunde später besetzen sie die Sitzungssäle des Kapitols. Die Parlamentssitzung zur Bestätigung der Präsidentschaftswahlergebnisse ist unterbrochen. Erst gegen 17:40 Uhr gelingt es Sicherheitskräften, das Kapitol zu sichern, sodass um 21:02 Uhr Senat und Repräsentantenhaus ihre Sitzung wiederaufnehmen und die Wahl von Joe Biden und Kamala Harris bestätigen können. Die Welt atmet auf, der Schockmoment endet.

Die Reaktion – When business gets political.

An diesem Tag haben wir den Versuch gesehen, eine demokratische Wahl durch einen Aufstand des Mobs rückgängig zu machen. Dieser Versuch versetzte die Welt weit über die Grenzen der USA hinaus in einen Schockzustand. Doch die Gesellschaft reagierte schnell. Dabei kamen die ersten Antworten nicht von den üblichen Verdächtigen. Stattdessen waren es die Vertreter großer Unternehmen, die mit am schnellsten reagierten: Sundar Pichai (Alphabet), Brian Moynihan (Bank of America), Jamie Fitterling (Dow), Arvind Krishna (IBM) und Brad Smith (Microsoft) stehen für viele Unternehmen, die die Gewalt des 6. Januars verurteilten, die Gesetzlosigkeit anprangerten und die Rechtmäßigkeit der Präsidentschaftswahl untermauerten. Facebook und Twitter gingen sogar soweit, dass sie die Kommunikationsmöglichkeiten von Donald Trump beschnitten und ihm damit die Möglichkeit nahmen, die Situation weiter zu eskalieren.

Profit vs. Haltung – When the silent spoke.

Es ist bemerkenswert, dass sich Unternehmen in einer politisch hochexplosiven Situation augenscheinlich ohne Not aus der Deckung wagen und für die Demokratie stark machen, da das Beziehen einer klaren Position in einer kontroversen sozialpolitischen Debatte – in diesem Kontext final pro oder contra Trump – mit größter Wahrscheinlichkeit potentielle Kunden des anderen politischen Lagers verprellen wird. Was also nun: Profit oder Haltung?

Diese Frage berührt eine Debatte, die in den Wirtschaftswissenschaften schon seit Dekaden die Gemüter erhitzt: Welchen Zweck haben Unternehmen? Beide Enden des Meinungsspektrums lassen sich einer Personen zuschreiben: Auf der einen Seite der Arena sehen wir den Ökonomen Milton Friedman, Begründer der „Shareholder Primacy“. Auf der anderen Seite steht der Philosoph Edward Freeman, Vertreter der „Stakeholder Theory“. Friedman sieht den einzigen Zweck einer Unternehmung im Erwirtschaften von Profit für die Teilhaber, Freeman hingegen in der Schaffung von Mehrwert für alle von der Unternehmung Betroffenen.

Es mag abgedroschen klingen, doch die Realität liegt irgendwo zwischen den theoretischen Extremen. Unternehmen fällen Entscheidungen oft unter Einbeziehung der Stakeholderinteressen – allerdings unter ökonomischen Gesichtspunkten. Damit steht wieder die Frage im Raum: Wieviel darf es ein Unternehmen kosten, in einer sozialpolitisch kontroversen Debatte Haltung zu zeigen?

Entweder, oder? Machen wir beides!

In meinem Paper „Investor Reaction to Corporations Condemning the U.S. Capitol Riot“ habe ich gezeigt, dass Haltung nichts kosten muss, sondern sich sogar auszahlen kann. Dazu habe ich zuerst die Statements aller Unternehmen gesammelt, die im S&P500 gelistet sind und sich im Nachgang des U.S. Capitol Riot ablehnend dazu geäußert haben. Im Rahmen einer Event-Studie habe ich im Anschluss ausgewertet, wie sich der Aktienkurs dieser Unternehmen im zeitlichen Umfeld des Statements verändert hat. Das Ergebnis belegt einen positiven Zusammenhang zwischen einer ablehnenden Äußerung und dem Unternehmenswert. Klarer formuliert: Die öffentliche Verurteilung des U.S. Capitol Riot hat dazu geführt, dass der Aktienwert des Unternehmens um durchschnittlich 0,39 Prozent anstieg.

Das gilt insbesondere (aber nicht ausschließlich), wenn das Unternehmen überwiegend zu den Demokraten neigende Stakeholder hat. Das ist nachvollziehbar, da eine Verurteilung des U.S. Capitol Riot eine eher Trump-kritische Haltung nahelegt, was wiederum die linksliberale Meinung in den USA abbildet. In anderen Worten: Unternehmen, die in ihrer politischen Haltung der Meinung ihrer Stakeholder entsprechen, profitieren besonders von Statements, die ihre Haltung – und damit auch die ihrer Stakeholder – spiegeln.

Und jetzt?

Die Erkenntnis, dass Unternehmen von politischer Stellungnahme profitieren können, ist nicht nur von akademischem Interesse. Unternehmen akkumulieren enorme Ressourcen, die sie in Akteure mit immenser Gestaltungsmacht verwandeln. In der Vergangenheit haben sie den politischen Entscheidungsbildungsprozess eher indirekt beeinflusst, durch Verbändeaktivitäten und Hinterzimmergespräche. Gegenwärtig zeigen sie ihre Haltung immer offener: Nike sprach sich 2020 klar für die BLM-Bewegung aus, Twitter schloss Donald Trumps Account im Anschluss an den U.S. Capitol Riot 2021, Starbucks positionierte sich in der Debatte um Abtreibung 2022 in den USA klar progressiv. Im Rahmen der Ukrainekrise 2022 schwappte dieser Trend nach Europa über, auch konservative deutsche Unternehmen wie BASF wickelten auf Basis ihrer Überzeugung das Geschäft in Russland weitestgehend ab.

Eine Vorhersage, ob die Politisierung von Unternehmen positive oder negative Konsequenzen haben wird, ist schwierig. Gleichzeitig ist klar, dass der Trend auf absehbare Zeit stärker werden wird: Konsumenten fordern ein entschiedenes Auftreten immer mehr ein. Unternehmen sollen Haltung zeigen. Das tun sie – und haben dabei in der Vergangenheit oft eine progressive, im Rahmen des U.S. Capitol Riot sogar eine demokratietragende Rolle gespielt. Die zukünftige Entwicklung hängt auch von den Konsumenten ab, die als Stakeholder mit ihren Entscheidungen Einfluss nehmen können. Die zunehmend politische Rolle von Unternehmen sollte daher als Chance für einen  wertstiftenden Austausch zwischen mündigen Konsumenten, Unternehmen und Politik begriffen werden.