Photo: John Paul Navarro from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Von Piotr Oliński, Junior Legal Analyst bei FOR Foundation (Civic Development Forum) und Student der Rechtswissenschaften in Warschau und Bonn.

Polen hat niemals eine starke ordoliberale Tradition entwickelt. Jedoch bildet die soziale Marktwirtschaft laut Artikel 20 der polnischen Verfassung „die Grundlage der wirtschaftlichen Ordnung der Republik Polen”. Wie kam es dazu, dass die intellektuelle Tradition der Freiburger Schule in Polen Verfassungsrang gewann?

Die polnische Wirtschaftswende zum Beginn der neunziger Jahre war alles andere als eine rein theoretische Auseinandersetzung. Im Land tobte eine Hyperinflation, die Wirtschaft war veraltet und insuffizient und der Staat verschuldet. Das Ziel der ersten demokratischen Regierung unter Tadeusz Mazowiecki war aber klar: die Abschaffung der Planwirtschaft und die Rückkehr zur Marktwirtschaft nach dem Vorbild der westlichen Länder. Die Inspiration durch den deutschen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg war sichtbar – Mazowiecki soll, als er den Wirtschaftswissenschaftler Leszek Balcerowicz zu seinem Stellvertreter und Finanzminister ernannte, gesagt haben, er suche „seinen Ludwig Erhard”.

Balcerowicz hat es als stellvertretender Premierminister und Finanzminister in den Jahren 1989 bis 1991 geschafft, die Inflation zu mildern, marktwirtschaftliche Mechanismen einzuführen, eine Vielzahl von Staatsunternehmen zu privatisieren und die Grundlagen für die Trennung von Notenbank und Regierungspolitik einzuführen. In zügigem Tempo wechselte Polen von kommunistischer Planwirtschaft zu einer lebendigen Marktwirtschaft. Die rechtliche Fassung dieser Wende sollte aber später kommen.

Die junge Dritte Polnische Republik hatte einige Zeit gebraucht, um ihre Verfassung zu verabschieden. Ende Dezember 1989, drei Monate nach der Bildung der Regierung Mazowiecki hat der Sejm die sogenannte „Dezember-Novelle” zur Verfassung der polnischen Volksrepublik verabschiedet. Damit kam es zu einem grundsätzlichen Systemwechsel – der „sozialistische Staat”, in denen der Souverän das „arbeitende Volk der Städte und Dörfer” sei, wurde umgewandelt in einen demokratischen Rechtsstaat mit Privateigentum und Gewerbefreiheit. Der Weg zu einer neuen Verfassung war aber noch lang. Im Oktober 1992 wurden die gegenseitigen Verhältnisse zwischen den höchsten Staatsorganen durch die sogenannte „kleine Verfassung” geregelt, die auch den Verfassungsausschuss der Nationalversammlung mit der Erstellung einer neuen Verfassung beauftragte.

Die Grundlagen der neuen wirtschaftlichen Ordnung wurden im Laufe der Arbeit des Ausschusses relativ spät diskutiert – erst 1995 tauchten die ersten Ideen auf zur Fassung der verfassungsrechtlichen Rahmen der Wirtschaftsordnung. Der Ausschuss konnte aber lange nicht zu einer Fassung kommen, die alle politischen Wünsche befriedigen würde. Abgelehnt wurden sowohl die Vorschläge, die Grundlagen der neuen Ordnung auf einer Verbindung von Privateigentum und Gewerbefreiheit zu stützen, als auch der Vorschlag, auf Arbeit als den Grundbegriff zu setzen. Innerhalb der nächsten Sitzungen wurde langsam klar, welche Werte die Verfassung im Bereich des Wirtschaftlichen garantieren soll: Gewerbefreiheit, Privateigentum, Solidarität, sowie Tarifpartnerschaft. Aber auf einen alles verbindenden Schlüsselbegriff musste die Öffentlichkeit bis zum Jahr 1997 warten.

Nach einer Konsultation mit der im Verfassungsausschuss vertretenden Fraktionen brachte schließlich der sozialdemokratische Abgeordnete Marek Borowski den Vorschlag ein, auf eine Kompromissformel zu setzen. Die Wirtschaftsordnung sollte definiert werden als eine „Soziale Marktwirtschaft, gestützt auf die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit, Privateigentum und Solidarität, Dialog und Zusammenarbeit der sozialen Partner”. Zwar bemerkten die anderen Abgeordneten und Experten, dass die Benutzung des Begriffs „Soziale Marktwirtschaft” eine ganz wesentliche Änderung der Wirtschaftsordnung als Folge haben kann. Borowski erwiderte, dass der Begriff zwar seine Wurzeln im deutschen Liberalismus habe, aber auch anders interpretiert werden und zu einem „Motto” werden könne, das sowohl durch Arbeitgeber als auch durch Arbeitnehmer akzeptiert werden kann. Am Ende der Sitzung wurde diese Fassung in den Entwurf der neuen Verfassung aufgenommen, am 2. April 1997 durch die Nationalversammlung verabschiedet und zwei Monate später im Verfassungsreferendum durch die Bürger als geltendes Recht bestätigt.

Das Problem war nur, dass die Tradition der Freiburger Schule zu der Zeit in Polen nicht weit verbreitet war (was schon die Diskussion im Verfassungsausschuss zeigte). Schon 1995 bemerkte Leszek Balcerowicz, dass der Begriff stark an Popularität gewonnen habe, aber nicht in dem Verständnis, das ursprünglich durch Erhard, Müller-Armack und Eucken beabsichtigt war. Bis heute bleibt der Ordoliberalismus Gegenstand des Interesses von wenigen Forschern, und die Bücher von Walter Eucken und Ludwig Erhard sind nur in einer kleinen Auflage in manchen Bibliotheken und Antiquitätengeschäften verfügbar. Und so wurde zwar die Soziale Marktwirtschaft zum verfassungsrechtlichen Muster für die wirtschaftliche Gesetzgebung und das Verwaltungshandeln, aber bleibt nur für wenige Experten zugänglich.

Das kann man klar sowohl in der Rechtsprechung wie auch in der Rechtslehre sehen. Der polnische Verfassungsgerichtshof musste sich aufgrund seiner zentralen Bedeutung im Wirtschaftsverfassungsrecht mehrmals mit der Auslegung des Begriffs der Sozialen Marktwirtschaft beschäftigen. Diese Auslegungen sind nicht identisch. Manchmal hat sich der Verfassungsgerichtshof eng an das ordoliberalen Gedankengut angelehnt: das Wesentliche der Sozialen Marktwirtschaft interpretierte er als die marktwirtschaftlichen Mechanismen, die durch den Staat modifiziert, aber nicht ersetzt werden können. In anderen Urteilen aber legte das Verfassungsgericht Polens die Idee der Sozialen Marktwirtschaft aus als eine Verbindung von Marktwirtschaft und Sozialstaat, die „auf dem Boden der sozialdemokratischen und christlich-demokratischen Lehre” entstanden sei, was ganz weit von dem Grundgedanken der Freiburger Schule entfernt ist. Auch in juristischen Lehrbüchern liest man im Bezug zu Artikel 20 der Verfassung eher über eine Kombination aus Marktwirtschaft und Sozialstaat oder als einen Mittelweg zwischen Laissez-faire Kapitalismus und Zwangswirtschaft.

Die Frage der theoretischen Grundlagen der polnischen Wirtschaftsverfassung könnte abstrakt erscheinen. Sie hat aber ganz im Gegenteil eine sehr praktische Bedeutung. Artikel 20 (Soziale Marktwirtschaft) und 22 (Gewerbefreiheit) bilden zusammen ein subjektives öffentliches Recht, das die Grundlage für tausende Verfahren vor den Verwaltungsgerichten darstellte. Würde das Bewusstsein über die Regeln und Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft steigen, würde das auch die Politik beeinflussen – zum Beispiel, wenn es um die Rolle der staatlichen Unternehmen in der Wirtschaft geht, die in den letzten sieben Jahren deutlich an Macht gewannen.

Ist die Soziale Marktwirtschaft in Polen ein Produkt des Zufalls? Dass sie die Grundlage der polnischen Wirtschaftsverfassung bildet, ist sowohl das Ergebnis von bewusster Inspiration durch das deutsche Wirtschaftswunder, als auch ein Zufallsergebnis der parlamentarischen Diskussionen. Klar ist, dass dadurch die ordoliberale Tradition in Polen bedeutend bleibt. Ihre Entdeckung durch die breite Öffentlichkeit könnte zugunsten der individuellen Freiheit viel, sowohl in der Rechtspraxis, als auch in der Politik, ändern.

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Von Dr. Benedikt Koehler, Historiker in London.

Eine von Ökonomen des zwanzigsten Jahrhunderts häufig vermittelte Lektion war, dass staatliche Eingriffe in die Märkte kontraproduktiv sein können. Diese Intuition wurde jedoch schon lange vorher zum Ausdruck gebracht, nämlich 1857, während einer Finanzkrise, die die Regierungen in den USA und in Europa dazu veranlasste, die Rettung von Banken in Erwägung zu ziehen. Zwei Zeitgenossen waren dagegen, weil sie überzeugt waren, dass Bankenrettungen mehr schaden als nutzen würden: US-Präsident James Buchanan und Karl Marx.

Im Jahr 1857 war eine Finanzkrise kein unbekanntes Phänomen. Große Volkswirtschaften hatten bereits mehrere Episoden von sogenannten „Umwälzungen“ durchlebt. Im Jahr 1857 hatten mehrere Jahre regen Handels Investoren und Kreditgeber dazu verleitet, ihre Verpflichtungen zu überziehen. Zu Beginn des Jahres hatte eine unerwartete Unterbrechung der Zahlungen einiger New Yorker Händler die Banken veranlasst, ihre Kreditzusagen einzuschränken, und die Kreditnehmer hielten ihre Investitionen zurück. Diese Verzögerung wäre vielleicht nur vorübergehend gewesen, wenn nicht im August die Nachricht die Runde gemacht hätte, dass ein großer institutioneller Kreditgeber, die Ohio Life Insurance and Trust Company, ausgefallen war. Von New York aus breitete sich eine Kettenreaktion über das ganze Land aus. Banken schlossen, Fabriken wurden dichtgemacht, und die Arbeiter wurden nach Hause geschickt. Ohio, das Epizentrum des Ausbruchs der Krise, war ein Lichtblick in diesem düsteren Bild. Die Banken in Ohio gründeten im Eiltempo und unter Verzicht auf staatliche Eingriffe einen Verein für gegenseitige Garantien, und Ohio war einer der ersten Staaten, in denen die Märkte wieder in Ordnung gebracht wurden.

Präsident James Buchanan machte die Finanzkrise zum ersten Tagesordnungspunkt seiner Rede zur Lage der Nation am 8. Dezember 1857. Er sprach drei wichtige Punkte an.

Zunächst drückte er sein Mitgefühl angesichts der Entbehrungen aus, die dem Land auferlegt wurden: „Inmitten eines unübertroffenen Überflusses an allen landwirtschaftlichen Erzeugnissen und allen Elementen des nationalen Reichtums finden wir unsere Manufakturen eingestellt, unsere öffentlichen Arbeiten verzögert, unsere privaten Unternehmungen verschiedener Art aufgegeben und Tausende von Arbeitskräften aus der Beschäftigung geworfen und in Not gebracht.“ Zweitens betonte er jedoch, dass das Land nicht von der Regierung erwarten könne, dass sie „das Leid und die Not des Volkes lindert. Die Regierung kann nicht umhin, dafür tiefes Mitgefühl zu empfinden, auch wenn sie nicht die Macht hat, Hilfe zu leisten“. Drittens deckte James Buchanan die eigentliche Ursache der Finanzkrise auf, nämlich „unverantwortliche Bankinstitute, die von ihrem Wesen her eher die Interessen ihrer Aktionäre als das öffentliche Wohl im Auge haben.“

James Buchanan muss von dem finanziellen Rettungsboot gewusst haben, mit dem Ohio aus der Krise segelte. Es wäre nur zu plausibel gewesen, diesem Beispiel auf Bundesebene zu folgen und einen staatlichen Garanten zur Unterstützung wankender Banken zu schaffen. Diesen Vorschlag lehnte Buchanan jedoch ab – ein staatliches Eingreifen in die Finanzmärkte würde zu falschen Anreizen führen, argumentierte er. Zu glauben, die Vereinigten Staaten könnten eine zentrale Finanzinstitution einrichten, um eine Finanzkrise zu entschärfen, sei illusorisch: Diese Institution sei dazu geneigt, ihre Interessen mit denen der Finanzinstitutionen abzustimmen, die sie beaufsichtigen solle.

„Aber eine Bank der Vereinigten Staaten würde, selbst wenn sie dazu in der Lage wäre, die Emissionen und Kredite der staatlichen Banken nicht einschränken, weil ihre Aufgabe als Währungsregulierer oft in direktem Konflikt mit den unmittelbaren Interessen ihrer Aktionäre stehen muss. Wenn wir von einem Akteur erwarten, dass er einen anderen einschränkt oder kontrolliert, müssen ihre Interessen zumindest in gewissem Maße gegensätzlich sein. Aber die Direktoren einer Bank der Vereinigten Staaten würden dasselbe Interesse und dieselbe Neigung wie die Direktoren der Staatsbanken verspüren, die Währung auszuweiten, ihren Günstlingen und Freunden mit Krediten entgegenzukommen und hohe Dividenden auszuschütten. Diese Erfahrung haben wir mit der letzten Bank gemacht.“

Die Krise von 1857 war eine Zäsur.

Frühere Finanzkrisen hatten sich auf das Inland beschränkt, aber in der Zwischenzeit hatten die Fortschritte in der Schifffahrt und der Telegrafie die Märkte über den Atlantik hinweg miteinander verbunden. Die Leser der New York Daily Tribune konnten am 30. November 1857 Berichte des Londoner Korrespondenten der Zeitung, Karl Marx, über die Entwicklung der Finanzkrise in Europa lesen: „Die wirtschaftliche Krise Großbritanniens scheint in ihrer ungeheuren Entwicklung drei verschiedene Formen angenommen zu haben: einen Druck auf die Geld- und Warenmärkte von London und Liverpool, eine Bankenpanik in Schottland und einen Zusammenbruch der Industrie in den Manufakturen.“ Die Auswirkungen der Krise konnten in Großbritannien nicht eingedämmt werden und machten sich bald auch in Kontinentaleuropa bemerkbar. In Hamburg, einem autonomen Stadtstaat, beschloss die Regierung zu intervenieren und startete eine steuerfinanzierte Rettungsaktion. In seinem Bericht über die Entwicklung der Lage gab Karl Marx diese Einschätzung ab:

„Der Senat schlug vor und erhielt von den freien Bürgern der Stadt die Erlaubnis, verzinsliche Wertpapiere auszugeben … Um die Preise aufrechtzuerhalten und so die aktive Ursache der Notlage abzuwehren, muss der Staat die Preise zahlen, die vor dem Ausbruch der Handelspanik galten, und den Wert von Wechseln realisieren, die nichts anderes mehr darstellten als ausländische Ausfälle. Mit anderen Worten: Das Vermögen der gesamten Gemeinschaft, das die Regierung vertritt, soll die Verluste der Privatkapitalisten ausgleichen. Diese Art von Kommunismus, bei dem die Gegenseitigkeit auf einer Seite liegt, scheint für die europäischen Kapitalisten recht attraktiv zu sein.“

James Buchanan hätte es anders formuliert, aber im Kern hätte er Karl Marx zustimmen müssen: Die Rettung notleidender Banken stellt eine „Art Kommunismus“ dar.

Ist es überhaupt von Bedeutung, was James Buchanan und Karl Marx im Jahr 1857 über eine Finanzkrise zu sagen hatten? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir untersuchen, wie sich die Einstellungen geändert haben.

Die Bankenrettungen von 2008 veranlassten Bernie Sanders, ein Schlagwort zu recyceln: Rettungsaktionen seien Sozialismus für die Reichen. Mit diesem Begriff – Sozialismus für die Reichen – wurde ein Vorwurf wiederbelebt, der vor mehreren Jahrzehnten in der amerikanischen Politik die Runde machte, als er von Martin Luther King und Robert Kennedy geäußert wurde. Damals wurde er jedoch in anderen Zusammenhängen verwendet. Das neue Element des Satzes von Sanders war, dass er sich auf die Rettung von Banken bezog. Wenn heute eine Regierung einer Finanzkrise ihren Lauf lassen würde, würde die Öffentlichkeit die Schuld an den Folgen eher der Regierung als den Banken geben. Im Jahr 1857 war man noch gegenteiliger Meinung. An den entgegengesetzten Enden des politischen Spektrums, vom Oval Office bis zur Mansarde in Soho, herrschte die Meinung vor, dass Bankenrettungen eine falsche Verwendung öffentlicher Gelder seien. Im Jahr 2008 war dieser Konsens zum Gräuel geworden.

Der Wendepunkt in der Einstellung zur staatlichen Unterstützung der Finanzmarktstabilität kam nach der Finanzkrise von 1907 und mit der Schaffung der Federal Reserve Bank. Damals ging man davon aus, dass eine zentrale Behörde, die die Finanzmärkte beaufsichtigt, Finanzkrisen ein Ende setzen oder zumindest ihre Auswirkungen mildern würde. Doch seither sind die Krisen nicht kleiner, sondern größer geworden. Und nach jeder Krise haben die Regierungen ihre Befugnisse zum Eingreifen in die Finanzmärkte erweitert.

Mit der Krise von 2008 betraten die Zentralbanken Neuland und wurden nicht nur mit der Rettung von Banken, sondern auch mit dem Kauf von Anleihen, Aktien und der Finanzierung von Staatsdefiziten betraut. Wenn die Krise von 1907 die Zentralbanken zu Kreditgebern der letzten Instanz machte, so hat die Krise von 2008 sie zu Investoren der letzten Instanz gemacht.

James Buchanan und Karl Marx verfügten nicht über ein analytisches Instrumentarium zum Thema Staatsversagen, aber sie hatten die richtigen Intuitionen. Die Analyse musste auf George Stigler warten, der die Ökonomie der „regulatory capture“ (der Vereinnahmung von regulatorischen Akteuren durch Interessengruppen) entwickelte und aufzeigte, dass staatliches Eingreifen kein Allheilmittel ist, um Marktstörungen zu beheben, und dass etablierte Unternehmen die Regierung unterwandern können, um ihre eigenen Ziele zu erreichen.

Das Konzept der „regulatory capture“ wurde zunächst auf die Analyse monopolistischer Märkte, wie etwa Versorgungsunternehmen, angewandt. Später gerieten die Finanzmärkte für Privatkunden in den Fokus. Auf den Finanzmärkten für Privatkunden ziehen die etablierten Unternehmen immer Vorteile daraus, wenn die Regulierungsbehörden ihnen neue Vorschriften auferlegen, denn je höher die Fixkosten in ihrem Sektor sind, desto höher sind die Hindernisse, die neue Wettbewerber fernhalten. Man darf vermuten, dass die Regulierungsbehörden nicht nur im Privatkundengeschäft Einfluss auf die Finanzmärkte nehmen. Die quantitative Lockerung nach 2008 wurde als Notmaßnahme angepriesen, aber diese Notmaßnahme ist heute noch in Kraft. Das Konzept der „regulatory capture“ würde zumindest erklären, warum diese Entwicklung der Notenbankpolitik weder für James Buchanan noch für Karl Marx oder George Stigler unerwartet käme …

Erstmals erschienen bei Promarket.

Photo: Defence Intelligence of Ukraine (CC BY 4.0)

Am 12. Dezember haben wir unsere Weihnachtsfeier begangen. Zu dem Anlass haben wir nicht nur ukrainisches Essen serviert, sondern auch um Spenden für die Menschen in der Ukraine gebeten. Unser Research Fellow Iryna Kovalenko aus Kyjiv hat ein paar Gedanken mit uns geteilt.

Heute haben wir uns hier versammelt, um Weihnachten zu feiern – den hellsten Tag in der christlichen Welt, einen Tag der Liebe und Hoffnung, ein Fest der Geburt und der Vitalität.

Weihnachten ist ein Beispiel dafür, dass ein Kind zu Wundern fähig ist. Kinder gestalten die Zukunft, drehen das Rad der Geschichte weiter und verändern die Welt: machen Entdeckungen, retten andere, sind bereit zur Selbstaufopferung wie Christus.

Serhiy Zhadan, der herausragendste zeitgenössische Dichter der Ukraine, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, antwortete auf die Frage, was im Krieg am meisten geschützt werden sollte: die Kinder.

Kinder sind die Hoffnung der Welt. Leider verstehen das die Feinde der Menschheit, die Herodes, nur allzu gut. Die Ziele ihrer Bomben sind daher Krankenhäuser, Entbindungsheime, Kindergärten und Schulen. Leider werden 443 ukrainische Kinder Weihnachten nicht mehr erleben. Russen haben sie im Krieg gegen die Ukraine getötet, weitere 855 Kinder verletzt und mehr als 13.000 wurden zur sogenannten Umerziehung deportiert. Unter den Toten sind schwangere Frauen, wie eine 28-jährige Frau aus Kyiv, die im sechsten Monat schwanger war, als am Morgen des 17. Oktober eine russische Drohne in ihr Haus stürzte. Ein zwei Tage altes Baby starb in der Nacht des 23. November in Vilniansk in der Region Saporischschja. Wir werden nie wissen, ob diese ungeborenen und toten Kinder die Welt hätten verändern können.

Wie viele Kinder mussten ihr Zuhause verlassen und in Kellern oder U-Bahnstationen leben, weil ihre Häuser von russischen Raketen zerstört wurden? Wie viele Kinder werden nie wieder ihre Väter und Mütter sehen, weil die Eltern gegangen sind, um ihre Familien, ihre Zukunft und ihre Freiheit zu schützen, aber nicht zurückkehren konnten? Diese Fragen bleiben offen. Aber vielleicht können diese Kinder die Welt besser, freundlicher und sicherer machen.

Zu Weihnachten ist es üblich, zu vergeben und Barmherzigkeit zu üben, aber vielleicht ist in diesem Jahr besonders wichtig, sich nicht von Angst überkommen zu lassen. Haben Sie keine Angst vor dem Bösen in seinen Millionen Gesichtern, sondern haben Sie den Mut, sich ihm jeden Tag zu stellen. Denken Sie daran, dass die Ukraine auch Ihre Freiheit und Ihr friedliches Weihnachtsfest und Ihre Kinder verteidigt, die die Welt verändern können.

Photo: Wikimedia Commons (CC 0)

Die nahende Weihnachts- und Chanukkazeit bringt auch den nicht religiös gebundenen unter uns wieder eine ordentliche Portion Sakralität in Bild, Ton und Wort vor die Sinne. Manches davon hat auch in einer säkularen Welt bleibende Strahlkraft.

Harsche Weihnachtszeit

Auf der Oberfläche hat Weihnachten vor allem mit Heimeligkeit zu tun: Mit dem bethlehemitischen Weihnachtsidyll der idealtypischen Kleinfamilie. Mit Engeln, Glanz und Gloria, Lebkuchen und Punsch. Mit einem blonden Knäblein in einer Krippe in verschneiter Winterlandschaft. Wie absurd weit weg das ist sowohl von der Realität vor 2000 Jahren als auch von den biblischen Botschaften, haben wir uns letztes Jahr bereits etwas vor Augen geführt. Am Grund des höchst dramatischen Ereignisses, dass hier im Verständnis der Christen Gott ein sterblicher Mensch wird, liegt das Element des Prophetischen, das mithin zu den wichtigsten Narrativen der freien Zivilisationen gehört.

Weder Jesus in seinem Selbstverständnis noch die verschiedenen Autoren der Schriften des Neuen Testaments, die ihn und seine Worte gedeutet haben, haben eine ganz und gar neue Gedankenwelt errichtet. Sie haben bereits bestehende Bilder, Erzählungen und Theorien neu kombiniert, weiterentwickelt und ins Gespräch mit den sie umgebenden Kulturen gebracht. Eine Schlüsselrolle nehmen dabei die Propheten des sogenannten Alten Testaments ein, ganz besonders das Buch Jesaja. Die Bilder, die dessen Autoren gefunden haben und die dankbar von jüdischen und christlichen Autoren aufgegriffen wurden, haben unsere Welt geprägt wie nur wenige andere, gerade auch im Bereich politischer Theoriebildung und Hermeneutik.

Fortschritt und Machtkritik, Universalismus und Zivilisation

Da findet man das Motiv des Aufbruchs, eine Art Neuauflage des Exodus, der Israel aus der Sklaverei in Ägypten in die Freiheit geführt hatte. Damit verbunden ist die Absage an die Vorstellung des „früher war alles besser“. Es ist ein großer Hoffnungsschrei auf das Morgen hin und prägt die Aufbruchsfreude und den Fortschrittsglauben des Westens nachhaltig. Ein weiteres Motiv ist das des Messias; sehr deutlich zu unterscheiden von der Fixierung auf den einen Führer, der endlich jedes Problem lösen wird. Der Messias ist vielmehr der überirdische Maßstab für alle Herrscher dieser Welt, die Schablone, die deren Völkern gegeben ist, um ihre eigenen Herren zur Rechenschaft zu ziehen.

Ein auch ständig wiederkehrendes Motiv ist die revolutionäre Perspektive, die der Prophet in die Glaubenswelt Israels einführt, indem er Jahwe nicht mehr nur als ihren Stammesgott darstellt, sondern als den Gott der ganzen Schöpfung. Damit ist der Gott, der das kleine Israel erwählt hatte, nicht mehr nur Gegenstand ihrer Sehnsucht, sondern aller Völker auf Erden. Das Heil wird als Perspektive globalisiert, der Blick in einem Akt gewaltiger, weltumstürzender Unwucht vom Stamm auf den Kosmos geweitet. Der Universalismus hat hier seinen Ursprung. Und dieses „Heil für alle“ hat seinen Bezugspunkt nicht mehr im ländlichen Eden mit seiner Kleingartenbeschaulichkeit, sondern in der trubelnden Stadt. Jerusalem ist der Ort, an dem das Heil seine Vollendung finden wird, wo alle Völker in all ihrer Vielfalt zusammenkommen. Hier liegt eine der Wurzeln der Vorstellung von Zivilisation als der dem Menschen am ehesten gemäßen Existenzform. Der Gegenentwurf zur “Hure Babylon” ist nicht die Flucht in die Natur, sondern die Stadt auf dem Zion, wo Friede und Gerechtigkeit herrschen. Denn als Abbild Gottes ist der Mensch dazu fähig, wenn auch nicht immer bereit.

Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen

Für das vielleicht eindrücklichste Bild stehen die zum Sprichwort gewordenen Schwerter, die zu Pflugscharen werden. Sie stehen im krassesten Widerspruch zu der täglich erfahrenen Realität jener Zeit – und leider auch wieder unserer Zeit. In diesem Bild verdichtet sich die Botschaft des Propheten von einer besseren Welt. Der Friede, das „Shalom“, der hier verheißen wird, ist etwas komplett anderes als die Abwesenheit von Krieg. Es ist vielmehr die vollständige Umkehrung der bestehenden Logiken. Es ist die Basis, auf der Menschen das Althergebrachte hinterfragen und Neues erträumen, konzipieren und errichte können. Das visionäre Shalom in der Zukunft legitimiert den Aufbau einer besseren Welt in der Gegenwart, ja fordert das Arbeiten daran geradezu ein.

Unsere moderne Welt und ganz besonders der Liberalismus können eine gehörige Portion Prophetentum gebrauchen: Unbeirrbar einem klaren Kompass folgen. Die eigenen Überzeugungen und Werte mit Selbstbewusstsein vertreten. Mächtige und Bestehendes nicht schonen. Und vor allem auch einen Blick nach vorne bieten. Die Vision einer Welt bieten, die Menschen ersehnen können und für die sie sich leidenschaftlich einsetzen wollen. Unsere Welt hat wenig gemeinsam mit der spießigen Weihnachtsidylle auf verzierten Printenschachteln; dafür umso mehr mit dem von Krieg, Hunger, Not und Tod geprägten Israel des Propheten Jesaja oder auch des Jesus von Nazareth. Ob wir an den religiösen Charakter ihrer Botschaften glauben oder nicht: Ihre großen Erzählungen haben unsere freiheitliche Gesellschaft nachhaltig geprägt. Sie am Leben zu erhalten, wird uns sehr viel Rückendeckung und Kraft geben in den Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte von China bis Klima.

Photo: Felipe Giacometti from Unsplash (CC 0)

Von Christian Schmidt, Research Fellow bei Prometheus Juni – Juli 2022. Christian untersucht im Rahmen seines Promotionsstudiums an der Justus-Liebig-Universität Gießen, wie das Thema Venture Capital in der Forschung behandelt wird. Zuvor hat er in Paderborn, Hanoi und Shanghai International Business Studies studiert.

Start-Ups sind die Motoren der volkswirtschaftlichen Entwicklung. Die Zukunftsfähigkeit Deutschlands hängt davon ab, ob und wie neue Unternehmen kreative Lösungen für Probleme der Zukunft finden. Umso besorgniserregender ist deshalb der Trend, dass es immer weniger gewerblicher Existenzgründungen gibt. Ein Grund dafür ist der mangelhafte Zugang junger deutscher Unternehmen zu Kapital.

Die Beschaffung von Kapital stellt besonders in der Frühphase von Unternehmungen ein Hindernis dar. Denn das Risiko des Scheiterns ist hoch. Um frühe Finanzierungsengpässe zu vermeiden, streben Gründer eine externe Finanzierung an, vorzugweise über das „Einsammeln“ von Risikokapital (oder auch: Venture Capital bzw. Wagniskapital). Wagniskapitalgesellschaften auf der anderen Seite – als eine Ausprägung von privatem Beteiligungskapital – bevorzugen in ihrer Förderentscheidung Startups mit großem Wachstumspotenzial. Diesen kaufen sie Eigentumsanteile ab und stellen im Gegenzug Finanzmittel und einen Mentor an die Seite, der mit seiner Branchenerfahrung, (Führungs-)Expertise sowie seinem Netzwerk der jungen Unternehmung helfen soll. Wagniskapital wirkt: Studien zeigen regelmäßig, dass Wagniskapital-finanzierte Start-Ups auch bei Finanzierungsrunden in der Zukunft deutlich erfolgreicher sind.

In den letzten Jahren kletterte die Summe der Wagniskapitalinvestitionen scheinbar unaufhaltbar nach oben. So verfünffachte sich die weltweite jährliche Summe an Investitionen von 66 Milliarden Dollar im Jahr 2010 bis auf 320 Milliarden Dollar im Jahr 2020. Eine Analyse des Startup-Umfeldes in Deutschland zeigt eindeutig den großen Umbruch, der sich in dieser Wachstumsphase auch bei Gründungsfinanzierungen hier zu Lande vollzog: Altbewährte Player wie Business Angels oder unabhängige Venture Capital Gesellschaften wurden durch neue Formen der Start-Up Unterstützung ergänzt: Crowdfunding-Plattformen, Corporate Venture Capital, Governmental Venture Capital sowie Inkubatoren und Accelerators erweitern die traditionelle Kapitalgeberwelt zusammen mit Exit-Optionen wie IPOs (Initial Public Offerings) oder Strategien (z.B. der Syndikatsbildung) von Wagniskapitalgebern.

Trotz dieser Veränderungen und des zunehmenden Wachstums, unterscheidet sich die deutsche Wagniskapitalszene dennoch gravierend von ihren internationalen Pendants: Während in Skandinavien, in den USA oder Großbritannien bereits seit Jahren Gelder aus den Rentenkassen in Venture Capital Töpfe fließen, ist dies in heimischen Gefilden aufgrund regulatorischer Vorgaben nicht möglich. Ebenso besorgniserregend ist die durchschnittliche Investitionshöhe deutscher Wagniskapitalgeber: Bezogen auf das durchschnittliche Handelsvolumen liegt Deutschland im EU-Vergleich nur im unteren Mittelfeld. Damit man sich mit dem europäischen Vorreiter in Sachen Wagniskapital, Großbritannien, messen kann, müssten hiesige Jungunternehmen etwa doppelt so viel Geld von Venture Capital-Investoren erhalten. Schon um das Level unseres Nachbarlandes Frankreich zu erreichen, bräuchte es ein Drittel mehr an Wagniskapital. Der heimische Investitionsmangel führt zwangsläufig dazu, dass sich vielversprechende Start-Ups an internationale Investoren wenden – und dort auch oft fündig werden. Das Ergebnis ist, dass viele innovative und erfolgsversprechende Jungunternehmen gänzlich ins Ausland abwandern. Die deutsche Wagniskapitallandschaft muss daher den nächsten Entwicklungsschritt gehen, indem sie die Rahmenbedingungen für finanzstarke Wagniskapitalgeber verbessert, um so einen attraktiveren Wachstumskontext für Start-Ups zu schaffen.

Das Problem hat die politischen Akteure erreicht: Die neue Start-Up-Strategie des Bundeswirtschaftsministeriums sieht vor, dass Jungunternehmer schneller und leichter an große Investitionen deutscher Wagniskapitalgeber kommen sollen. Weitere zentrale Eckpunkte des Programms sind Erleichterungen für die Gewinnung neuer Mitarbeiter & Fachkräfte (aus dem Ausland) und die Vereinfachung und Digitalisierung von Gründungsmöglichkeiten. So sollen zum Beispiel Gründungen künftig innerhalb von 24 Stunden möglich sein. Ebenso sollen Wagniskapitalfonds in Zukunft stärker gefördert werden, indem sie von der Umsatzsteuer befreit werden. Ein wichtiger Faktor für den Erfolg der Strategie wird eine engere Zusammenarbeit von privaten und öffentlichen Investoren sein – der High-Tech-Gründerfonds ist hier ein Vorbild. Zudem ist es unabdingbar, dass Start-Ups in allen Wachstumsphasen Finanzierungsmöglichkeiten finden: Es ist ein großes Problem, dass nach der ersten erfolgreichen Investitionsrunde von Wagniskapital der Zugang zu Finanzmitteln in den Folgerunden häufig verwehrt bleibt. Vor diesem Hintergrund ist die Idee des Wirtschaftsministeriums sinnvoll, dass in Zukunft auch Versicherungen und Pensionskassen als Wagniskapitalgeber auftreten sollen. Doch bereits jetzt stößt dieser Vorschlag auf Widerstand in der Politik.

Die bisherigen Schwachstellen der Gründerfinanzierung in Deutschland wurden richtig erkannt: das Gros der Jungunternehmer-Szene begrüßt die formulierte Strategie. Allerdings betonen sie auch, dass sich das Programm nicht (wieder) im Dickicht der Bürokratie verlieren dürfe. Einige Aspekte wie die Besteuerung von Mitarbeiterbeteiligungsprogrammen müssen daher dringend reformiert werden. Auch wenn man vorsichtig optimistisch sein darf, so bleibt noch viel zu tun, um die deutsche Wagniskapitalszene wettbewerbsfähig zu machen.