Photo: John Paul Navarro from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Von Piotr Oliński, Junior Legal Analyst bei FOR Foundation (Civic Development Forum) und Student der Rechtswissenschaften in Warschau und Bonn.

Polen hat niemals eine starke ordoliberale Tradition entwickelt. Jedoch bildet die soziale Marktwirtschaft laut Artikel 20 der polnischen Verfassung „die Grundlage der wirtschaftlichen Ordnung der Republik Polen”. Wie kam es dazu, dass die intellektuelle Tradition der Freiburger Schule in Polen Verfassungsrang gewann?

Die polnische Wirtschaftswende zum Beginn der neunziger Jahre war alles andere als eine rein theoretische Auseinandersetzung. Im Land tobte eine Hyperinflation, die Wirtschaft war veraltet und insuffizient und der Staat verschuldet. Das Ziel der ersten demokratischen Regierung unter Tadeusz Mazowiecki war aber klar: die Abschaffung der Planwirtschaft und die Rückkehr zur Marktwirtschaft nach dem Vorbild der westlichen Länder. Die Inspiration durch den deutschen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg war sichtbar – Mazowiecki soll, als er den Wirtschaftswissenschaftler Leszek Balcerowicz zu seinem Stellvertreter und Finanzminister ernannte, gesagt haben, er suche „seinen Ludwig Erhard”.

Balcerowicz hat es als stellvertretender Premierminister und Finanzminister in den Jahren 1989 bis 1991 geschafft, die Inflation zu mildern, marktwirtschaftliche Mechanismen einzuführen, eine Vielzahl von Staatsunternehmen zu privatisieren und die Grundlagen für die Trennung von Notenbank und Regierungspolitik einzuführen. In zügigem Tempo wechselte Polen von kommunistischer Planwirtschaft zu einer lebendigen Marktwirtschaft. Die rechtliche Fassung dieser Wende sollte aber später kommen.

Die junge Dritte Polnische Republik hatte einige Zeit gebraucht, um ihre Verfassung zu verabschieden. Ende Dezember 1989, drei Monate nach der Bildung der Regierung Mazowiecki hat der Sejm die sogenannte „Dezember-Novelle” zur Verfassung der polnischen Volksrepublik verabschiedet. Damit kam es zu einem grundsätzlichen Systemwechsel – der „sozialistische Staat”, in denen der Souverän das „arbeitende Volk der Städte und Dörfer” sei, wurde umgewandelt in einen demokratischen Rechtsstaat mit Privateigentum und Gewerbefreiheit. Der Weg zu einer neuen Verfassung war aber noch lang. Im Oktober 1992 wurden die gegenseitigen Verhältnisse zwischen den höchsten Staatsorganen durch die sogenannte „kleine Verfassung” geregelt, die auch den Verfassungsausschuss der Nationalversammlung mit der Erstellung einer neuen Verfassung beauftragte.

Die Grundlagen der neuen wirtschaftlichen Ordnung wurden im Laufe der Arbeit des Ausschusses relativ spät diskutiert – erst 1995 tauchten die ersten Ideen auf zur Fassung der verfassungsrechtlichen Rahmen der Wirtschaftsordnung. Der Ausschuss konnte aber lange nicht zu einer Fassung kommen, die alle politischen Wünsche befriedigen würde. Abgelehnt wurden sowohl die Vorschläge, die Grundlagen der neuen Ordnung auf einer Verbindung von Privateigentum und Gewerbefreiheit zu stützen, als auch der Vorschlag, auf Arbeit als den Grundbegriff zu setzen. Innerhalb der nächsten Sitzungen wurde langsam klar, welche Werte die Verfassung im Bereich des Wirtschaftlichen garantieren soll: Gewerbefreiheit, Privateigentum, Solidarität, sowie Tarifpartnerschaft. Aber auf einen alles verbindenden Schlüsselbegriff musste die Öffentlichkeit bis zum Jahr 1997 warten.

Nach einer Konsultation mit der im Verfassungsausschuss vertretenden Fraktionen brachte schließlich der sozialdemokratische Abgeordnete Marek Borowski den Vorschlag ein, auf eine Kompromissformel zu setzen. Die Wirtschaftsordnung sollte definiert werden als eine „Soziale Marktwirtschaft, gestützt auf die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit, Privateigentum und Solidarität, Dialog und Zusammenarbeit der sozialen Partner”. Zwar bemerkten die anderen Abgeordneten und Experten, dass die Benutzung des Begriffs „Soziale Marktwirtschaft” eine ganz wesentliche Änderung der Wirtschaftsordnung als Folge haben kann. Borowski erwiderte, dass der Begriff zwar seine Wurzeln im deutschen Liberalismus habe, aber auch anders interpretiert werden und zu einem „Motto” werden könne, das sowohl durch Arbeitgeber als auch durch Arbeitnehmer akzeptiert werden kann. Am Ende der Sitzung wurde diese Fassung in den Entwurf der neuen Verfassung aufgenommen, am 2. April 1997 durch die Nationalversammlung verabschiedet und zwei Monate später im Verfassungsreferendum durch die Bürger als geltendes Recht bestätigt.

Das Problem war nur, dass die Tradition der Freiburger Schule zu der Zeit in Polen nicht weit verbreitet war (was schon die Diskussion im Verfassungsausschuss zeigte). Schon 1995 bemerkte Leszek Balcerowicz, dass der Begriff stark an Popularität gewonnen habe, aber nicht in dem Verständnis, das ursprünglich durch Erhard, Müller-Armack und Eucken beabsichtigt war. Bis heute bleibt der Ordoliberalismus Gegenstand des Interesses von wenigen Forschern, und die Bücher von Walter Eucken und Ludwig Erhard sind nur in einer kleinen Auflage in manchen Bibliotheken und Antiquitätengeschäften verfügbar. Und so wurde zwar die Soziale Marktwirtschaft zum verfassungsrechtlichen Muster für die wirtschaftliche Gesetzgebung und das Verwaltungshandeln, aber bleibt nur für wenige Experten zugänglich.

Das kann man klar sowohl in der Rechtsprechung wie auch in der Rechtslehre sehen. Der polnische Verfassungsgerichtshof musste sich aufgrund seiner zentralen Bedeutung im Wirtschaftsverfassungsrecht mehrmals mit der Auslegung des Begriffs der Sozialen Marktwirtschaft beschäftigen. Diese Auslegungen sind nicht identisch. Manchmal hat sich der Verfassungsgerichtshof eng an das ordoliberalen Gedankengut angelehnt: das Wesentliche der Sozialen Marktwirtschaft interpretierte er als die marktwirtschaftlichen Mechanismen, die durch den Staat modifiziert, aber nicht ersetzt werden können. In anderen Urteilen aber legte das Verfassungsgericht Polens die Idee der Sozialen Marktwirtschaft aus als eine Verbindung von Marktwirtschaft und Sozialstaat, die „auf dem Boden der sozialdemokratischen und christlich-demokratischen Lehre” entstanden sei, was ganz weit von dem Grundgedanken der Freiburger Schule entfernt ist. Auch in juristischen Lehrbüchern liest man im Bezug zu Artikel 20 der Verfassung eher über eine Kombination aus Marktwirtschaft und Sozialstaat oder als einen Mittelweg zwischen Laissez-faire Kapitalismus und Zwangswirtschaft.

Die Frage der theoretischen Grundlagen der polnischen Wirtschaftsverfassung könnte abstrakt erscheinen. Sie hat aber ganz im Gegenteil eine sehr praktische Bedeutung. Artikel 20 (Soziale Marktwirtschaft) und 22 (Gewerbefreiheit) bilden zusammen ein subjektives öffentliches Recht, das die Grundlage für tausende Verfahren vor den Verwaltungsgerichten darstellte. Würde das Bewusstsein über die Regeln und Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft steigen, würde das auch die Politik beeinflussen – zum Beispiel, wenn es um die Rolle der staatlichen Unternehmen in der Wirtschaft geht, die in den letzten sieben Jahren deutlich an Macht gewannen.

Ist die Soziale Marktwirtschaft in Polen ein Produkt des Zufalls? Dass sie die Grundlage der polnischen Wirtschaftsverfassung bildet, ist sowohl das Ergebnis von bewusster Inspiration durch das deutsche Wirtschaftswunder, als auch ein Zufallsergebnis der parlamentarischen Diskussionen. Klar ist, dass dadurch die ordoliberale Tradition in Polen bedeutend bleibt. Ihre Entdeckung durch die breite Öffentlichkeit könnte zugunsten der individuellen Freiheit viel, sowohl in der Rechtspraxis, als auch in der Politik, ändern.