Photo: Tony Bowden from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Norbert F. Tofall, Senior Research Analyst des Flossbach von Storch Research Institute.

Angesichts hoher Inflationsraten sind die hohen Gehaltsforderungen der Gewerkschaften verständlich. Der von den Zentralbanken in den letzten Jahren erzeugte Geldüberhang hat sich infolge der Corona-Krise und durch die weltweiten Folgen des Ukraine-Krieges bis zu den Konsumenten durchgefressen. Erzeugte bis zur Corona-Krise die Null- und Niedrigzinspolitik der Zentralbanken und ihre Anleihekaufprogramme Vermögenspreisinflation und damit Scheinwohlstand, trifft nun der dadurch erzeugte Geldüberhang den Verbraucher in Form von Konsumgüterpreisinflation, zumal die Zentralbanken ein rechtzeitiges Gegensteuern versäumt haben. Ob und wann die Zentralbanken durch Zinserhöhungen und eine Beendigung der Anleihekaufprogramme die Inflation in den Griff bekommen werden, ist offen.

Im Euro-Raum kommt erschwerend hinzu, dass die Schuldentragfähigkeit einiger Euro-Mitglieder und insbesondere die von Italien durch die Zinserhöhungen erheblich belastet werden und dadurch der Zusammenhalt der Eurozone erneut unter Druck gerät. Die Europäische Zentralbank hat für diesen Fall zwar ein neues Anleihekaufprogramm namens Transmission Protection Instrument (TPI) zu ihren geldpolitischen Instrumenten hinzugefügt, um im Bedarfsfall italienische und andere Staatsanleihen ankaufen zu können; eine Nutzung des TPI würde jedoch die Inflationsbekämpfung konterkarieren oder zumindest verlangsamen.

Angesichts dieser makroökonomischen Lage und der Ungewissheit, wann der Kampf gegen die Inflation gewonnen wird, dürften Lohnzurückhaltungsappelle an die Gewerkschaften ungehört verklingen. Eine verstärkte Lohn-Preis-Spirale droht. Die eigentlichen Verursacher der Lohn-Preis-Spirale sind jedoch nicht die Gewerkschaften, sondern die Zentralbanken und die schuldenintensive Fiskalpolitiken der Regierungen.

Nun wird man in Deutschland kaum Gewerkschaften finden, die sich gegen die Geldüberhang erzeugende Politik der Zentralbanken und die Schuldenorgien der Regierungen wenden, geschweige denn zu Streiks gegen diese kaufkraftmindernden Politiken aufrufen. Zum einen verorten sich die meisten deutschen Gewerkschaften selbst allein schon aus Gründen der hiesigen politischen Kultur nicht auf der Seite von Austerität und Geldwertstabilität. Zum anderen sind in der Bundesrepublik Deutschland Streiks, die der Durchsetzung politischer Ziele dienen, verboten.

Ein Streik ist die Niederlegung der Arbeit durch eine Gruppe von Arbeitnehmern, um ein gemeinsames Ziel im Rahmen des Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisses zu erreichen. Diese kollektive Niederlegung der Arbeit verletzt in Deutschland dann nicht die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitspflicht, wenn sie im gesetzlichen Rahmen des kollektiven Arbeitsrechts erfolgt. Die im Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland garantierte Koalitionsfreiheit und die in diesem Zusammenhang genannten Arbeitskämpfe bedeuten zudem nicht, dass für jeden beliebigen Zweck gestreikt werden kann, sondern versteht sich immer in Bezug auf die gesetzlich geregelte Tarifautonomie und damit auf das Arbeitsverhältnis. Eine Niederlegung der Arbeit, um beispielsweise allgemeine Forderungen zum Klimaschutz zu erheben, ist rechtswidrig.

Allgemein stellt sich die Frage, wie weit das Handeln von kollektiven Akteuren wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gehen darf. Denn durch einen Streik wird oftmals nicht nur der Arbeitgeber geschädigt, sondern auch Dritte, die mit den Tarifauseinandersetzungen nichts zu tun haben. Bei Pilotenstreiks oder Lokführerstreiks ist diese Wirkung auf Dritte der eigentliche Machthebel im Arbeitskampf: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will …“ Aber ist das auch legitim? Oder genauer gefragt: Welches Handeln im Rahmen von kollektiven Arbeitskämpfen ist mit dem Schutz der individuellen Freiheit aller Bürger vereinbar und welches nicht? Wer darf wen zu was zwingen? Und welche Schädigungen Dritter sind zumutbar und verhältnismäßig?

Diese Fragen sind alles andere als eindeutig beantwortbar. Würden beispielsweise Streiks generell verboten, dann könnte das die Arbeitnehmer in eine Situation führen, in welcher sie bei Tarifverhandlungen nur mit Kündigung und Abwanderung auf einen anderen Arbeitsplatz drohen können. Und genau diese Marktlösung sollte durch den von den Arbeitgebern im Kaiserreich erfundenen Flächentarif verhindert werden, als sich Arbeiter erdreisteten, bei einem Arbeitsplatzwechsel vom neuen Arbeitgeber mehr Lohn zu fordern. Heute sind bei anderen Marktbedingungen die Gewerkschaften die Verteidiger von Flächentarifverträgen. Zudem grenzen in den letzten Jahren die Streiks von Spartengewerkschaften wie den Piloten und den Lokführern an Nötigung, bei der die ganze Gesellschaft in Geiselhaft genommen wird. Als ordnungspolitisches Entscheidungskriterium könnte die Machtfrage herangezogen werden: Welche Arbeitnehmer- und welche Arbeitgeber-Kartelle verhindern bei welchem Regelsetting wohlfahrtssteigende Marktlösungen? Wer missbraucht seine Macht? Und wie müssen die Regeln gesetzt werden, so dass Machtmissbrauch verhindert wird?

Vermutlich muss in die Details des kollektiven Arbeitsrechts eingestiegen und kritisch geprüft werden, wer warum welche Verhandlungsmacht hat und ob diese in einer hochkomplexen, mobilen und arbeitsteiligen Gesellschaft noch zu rechtfertigen sind. Auch müsste das Verhältnis von kollektivem und individuellem Arbeitsrecht betrachtet werden. Mögliche Einschränkungen des Streikrechts – zum Beispiel für spezifische Berufs- und Spartengewerkschaften – könnten durch eine Verbesserung der rechtlichen Stellung des Arbeitsnehmers im individuellen Arbeitsrecht kompensiert werden.

Aber wie auch immer diese Fragen zukünftig beantwortet werden sollten, die Hauptursache für die heutigen Streiks und die drohende Lohn-Preis-Spirale wird durch Änderungen des Streikrechts nicht berührt: Inflation, die durch die Geldpolitik der Zentralbanken und die ausufernden Staatsschulden erzeugt und dann nicht rechtzeitig bekämpft wurde. Durch eine sich verstetigende Inflation wird die Streikneigung und Streikhäufigkeit weiter zunehmen. Dass das zu englischen Verhältnissen wie in den 1970er Jahren in Großbritannien führen kann, liegt auf der Hand. Angesichts des Ukraine-Kriegs, angesichts der sich zuspitzenden Systemrivalität mit China und angesichts des Strukturwandels der Globalisierung kann sich Europa eine englische Krankheit wie die der 1970er Jahre nicht leisten. Der Schlüssel für die Verhinderung einer neuen englischen Krankheit liegt jedoch nicht im Streikrecht, das durchaus reformiert gehört, sondern in der konsequenten Inflationsbekämpfung.

Erstmals erschienen bei Austrian Institute.

Photo: Wikimedia Commons (CC 0)

Von Nikolai Ott, Co-Founder keepitliberal.de und Student der Internationalen Beziehungen in Dresden.

Friedrichstraße hier, Friedrichstraße dort – man kann den Abschluss des Berliner Wahlkampfes allein schon deswegen begrüßen, weil man in deutschen Medien nicht mehr von dieser sonst ziemlich unbekannten Lokalstraße belästigt wird. Vier Wochen hatten Berliner Politiker und Politikerinnen scheinbar nichts Besseres zu tun, als ihren Wahlkampf auf die Zukunft einer Straße zu fokussieren. Zwischen der symbolischen Umfunktionierung in eine dysfunktionale Flaniermeile und der demonstrativen Verteidigung des Automobils wurde in dieser Peinlichkeit von Wahlkampf eines deutlich:

Wir haben ein Stadtproblem. Deutschland hat ein parteiübergreifendes Großstadtproblem, weil jede Partei auf die Frage “wie wollen wir leben?” nur die Antwort “Kleinstadt” zu kennen scheint. Geht es nach deutschen Parteien, hat niemand das Konzept Großstadt nur im Ansatz verstanden. Mit Auto-Provinzialismus auf der einen und dem vor die Haustür verlagerten Schweden-Urlaub auf der anderen Seite, manifestiert sich im deutschen Stadt-Verständnis eine in die Größe projizierte Kleinstadt ohne Ambitionen.

“Die große Stadt hat nicht Zeit zum Denken, und was noch schlimmer ist, sie hat auch nicht Zeit zum Glück.” Nicht erst seit Theodor Fontane ist das deutsche Stadtproblem strukturell. In der deutsch-romantischen Verehrung des Natürlichen findet die Großstadt als Verkörperung der Moderne schon seit Jahrhunderten nur einen Platz als Drohkulisse. So kontrastiert Goethe in seinem Die Leiden des jungen Werthers die “unaussprechliche Schönheit der Natur” mit der “unangenehmen Stadt”. Und während Fontane seine Effi Briest in der hinterpommerschen Kleinstadt verdorren lässt, darf im französischsprachigen Pendant Gustave Flauberts Emma von dem Ausblick auf die Großstadt träumen.

“Sie wollte sterben, aber sie wollte auch in Paris leben”, heißt es in Madame Bovary. Und nicht nur bei Flaubert; im französischen Realismus strebt alles vom Kleinen ins Große, aus dem begrenzten Dorfleben in das wilde Durcheinander der Metropole. Kaum eine Liebesaffäre endet nicht in Paris. Während in Deutschland die Natur besungen wird, spielt das französische Leben des 19. Jahrhunderts im verworrenen Alltag der Pariser Großstadt. Es ist die Stunde der Expansion. Die Stunde der auf der Suche nach Liebe, Arbeit und Vergnügen in die Städte strömenden Massen der Industrialisierung. Viele deutsche Intellektuellen folgten dem Ruf der französischen Weltmetropole, um den Alltag der deutschen Kleinstadt-Tristesse zu entfliehen.

Und so sollte es nicht überraschen, dass Walter Benjamins Passagen-Werk in Paris entstand. Deutschland hätte eine solche magische Stadt mit ihren Warenhäusern, Passagen und Panoramen im Keim erstickt. In der Gegenwart der Städte, so Benjamin, reflektiert sich immer auch die Zukunft eines Landes. Nicht ohne Grund schreibt er, in Anlehnung an den französischen Historiker Jules Michelet, dass jede Epoche die nächste erträume. In den Straßen, Fassaden und Gassen einer Stadt kommt es zur seltenen Vereinigung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Was also sagt es über Deutschland aus, wenn unsere Parteien ausnahmslos ein kleingeistig-provinzielles Stadtbild vertreten? Dabei enttäuschen insbesondere genau die Parteien, die sich eigentlich dem Fortschritt verschrieben haben.

Nehmen wir die Liberalen, die schon wöchentlich durch zweieinhalb halb-lustige Tweets über Berlin ihre Provinzialität zur Schau stellen. Liberale, die Verkehrsrevisionen aus der tiefsten schwäbischen Provinz vertreten, und damit nicht einmal die zugewanderten Schwaben überzeugen. Es ist die urbane Widersprüchlichkeit der Liberalen, bei Wohnungsbaupolitik genau die richtigen marktbasierten Ansätze zu vertreten, um gleichzeitig einen befremdlichen Parkplatz-Sozialismus zu verteidigen. Im Fuhrpark-Mindset wird günstiges Parken zum Menschenrecht und jeder Wunsch nach weniger innerstädtischen Verkehr zum Angriff auf den “einfachen” Menschen.

Während Liberale und Konservative von ihren Provinz-Sesseln aus über die Hauptstadt spotten, träumt man in grünen Großstadt-Blasen davon, die Heimatmetropole zur Kleinstadt umzubauen; zur Provinzschönheit, um den Schweden-Urlaub gleich vor die Haustür zu verlagern. Bullerbü im Prenzl’berg. In der Stadt der akuten Wohnungsnot, erlaubt sich eine privilegierte Mittelschicht, den Bau neuer Wohnungen konsequent zu blockieren. Es sind die gleichen Grünen, die zwar fleißig jede Enteignungsinitiative unterschreiben, aber beim Ausblick auf mehr, höhere und bessere Wohnungen plötzlich den Status Quo zelebrieren. Da wird laut *Gentrifizierung* geschrien, weil die überwiegend zugewanderten Berliner keine Lust auf weitere Zuwanderung haben.

In der grünen Verkehrspolitik wird die liberal-konservative Hubraum-Provinzialität richtigerweise angeprangert, nur um darauf mit kleinstädtischer Entschleunigung zu antworten. Weniger Parkplätze und ein paar weniger Straßen klingt gut, aber was kommt dann? Meist nichts Besseres. Lieber baut man die Friedrichstraße in eine Flaniermeile um, auf der freilich niemand freiwillig flanieren möchte, als die freigewordenen Flächen für Wohnungen, Geschäfte und Cafés zu öffnen. Man schafft handtuchgroße Grünflächen, die mit der knappen Fläche noch schlechter umgehen als die Parkplätze; und Straßenbemalungen, die an das Chaos nach Kindergeburtstagen erinnern; und Öko-Klos, die nach einer Woche nicht mehr funktionieren, dafür aber mehr als 50.000 Euro gekostet haben. Einer Großstadt ist das alles nicht würdig.

Und hier sind wir wieder am Ausgangspunkt: Keine Partei hat die Großstadt verstanden. Die deutsche Provinz-Verehrung zieht sich von der Romantik in die Gegenwart. Dass sich die angesagteste deutsche Indie-Band dieser Tage “Provinz” nennt und in ihrem bekanntesten Song verkündet “Ich will nicht in die Großstadt (…) ich habe Angst mich zu verlieren” ist symptomatisch für den neoromantischen Ruf des Provinziellen. Und selbst der Rap, dessen Ursprünge in den urbanen Zentren Amerikas liegen, knüpft in Deutschland nahtlos bei Goethe oder Fontane an, wenn er den Rentneralltag im schwäbischen Bietigheim-Bissingen bejubelt – der Heimat des Rappers Rin, wo wohl Songzeilen wie “Komm und treff mich in der Kleinstadt” entstanden sind. Während Rin sein neuestes Album “Kleinstadt” nennt, darin aber durchaus unprovinzielle Songs veröffentlicht, reden deutsche Politiker pathetisch über Großstädte, zielen aber eigentlich auf deren Provinzialisierung ab.

Zurück zu Walter Benjamin: In der Architektur einer Stadt spiegeln sich auch immer die Träume und Hoffnungen einer Gesellschaft. Wo in anderen Teilen der Welt die Moderne als Chance begriffen wird und die Stadt zum Ausdruck der Zukunft wird, überwiegt in Deutschland der Abwehrreflex gegen die ausufernde Moderne. Wo hierzulande Entschleunigung im Sinne Goethes grassiert, ist in Städten wie Tokio oder Seoul Expansion der schwungvolle Takt der modernen Stadt. Hochhäuser, ambitionierte Architektur und ein stets pünktlicher ÖPNV – in Deutschland gilt es mehr als ein Jahrzehnt aufzuholen.

Photo: Stefan Müller from Flickr (CC BY 2.0)

Von Tristan Brömsen, Research Fellow bei Prometheus Dezember 2022 bis Januar 2023. Tristan führt im Rahmen seiner Masterarbeit an der Sciences Po in Paris eine Big-Data-Diskursanalyse der deutschen Energiepolitik von 2019 bis 2022 durch.

Nur Elektronen und Moleküle? Wer glaubt, dass Energiepolitik nur durch technische Grenzen definiert ist, irrt. Stattdessen wird die Energiepolitik maßgeblich durch Narrative im gesellschaftlichen Diskurs bestimmt. Das zeigen ganz besonders die Diskurse der vergangenen Jahre in der Energiepolitik: eine Energiekrise in Folge eines Angriffskriegs; eine Weltmeisterschaft in einer der größten Exportnationen von Erdgas; die Fridays-for-Future-Demonstrationen, gefolgt vom Bundes-Klimaschutzgesetz; und eine neue Bundesregierung mit ehrgeizigen Ausbauzielen für erneuerbare Energien. All diese Faktoren beeinflussen, wie wir über Energie sprechen. Dass ein Windrad Strom erzeugt, hängt vom Wetter ab. Der Bau hängt aber eben auch an der Akzeptanz im politischen Diskurs. Auch wenn Expertinnen und Politiker ihre Positionen gerne als faktenbasiert präsentieren: unser Energiesystem ist mindestens genauso von Ideen und Diskussionen gelenkt wie von physikalischen Gesetzen.

Die sogenannte Diskurstheorie analysiert, wie sich Konzepte im politischen Diskurs verhalten. Ein Beispiel ist das Konzept „Energiewende“, das die Umstellung von einer fossilen zu einer klimaneutralen Energieversorgung erfasst, aber von Grünen bis FDP völlig unterschiedlich ausgelegt wird. Ein anderes Beispiel ist die Deutung der Atomkraft. Fragen rund um Terrorgefahr und nuklearen Abfall stellen sich für Deutschland genauso wie für Frankreich. Doch Kernkraft wird hier als gefährlich und umweltschädlich dargestellt, während unsere Nachbarn es als Beitrag zur Energiesicherheit und zum Klimaschutz wahrnehmen.

Konkret lassen sich Diskurse in der Energiepolitik meist in einem Trilemma aus Sicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit verorten. Energie muss also zuverlässig erzeugt und geliefert werden, bezahlbar sein und den ortsansässigen Rotmilan nicht belasten. Innerhalb dieser Grenzen zirkulieren Narrative, Positionen und Argumente im Diskurs. Narrative, die sich im gesellschaftlichen Diskurs durchsetzen, bestimmen, wie über energiepolitische Themen mehrheitlich gesprochen und gedacht wird. Diese Prioritäten können sich im politischen Alltag den Umständen entsprechend verschieben.

Mit Hilfe statistischer Software zur Textauswertung kann man eine solche Verschiebung innerhalb des Energie-Trilemmas in der deutschen Energiepolitik der letzten Jahre aufdecken: Mit einem Datensatz aus 18.000 Nachrichtenartikeln deutscher Leitmedien im Zeitraum von September 2018 bis September 2022, gefiltert nach bestimmten energiepolitischen Begriffen, können die diskursiven Elemente identifiziert werden, die Berichterstattung prägen. So zeigt sich ein wandelndes Diskursbild in der deutschen Energiepolitik, indem drei inhaltliche Blöcke in den letzten fünf Jahren entscheidend waren: erneuerbare Energien und die Energiewende, die Energiekrise infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine und der Ausstieg aus Kern- und Kohlekraft. Dabei änderte sich nicht nur worüber gesprochen wird, sondern auch, wie diese Themen behandelt werden.

So standen erneuerbare Energien hauptsächlich unter zwei Gesichtspunkten in der Diskussion: Sie wurden von den Leitmedien stark mit der Energiewende und den gestiegenen Ambitionen im Klima- und Umweltschutz assoziiert. Doch nach Ausbruch des russischen Kriegs in der Ukraine nahm der Anteil der Erneuerbaren im Diskurs deutlich ab. Stattdessen wurde die Energiewende diskursiv neu ausgelegt: Statt auf die umweltpolitischen Vorteile der Erneuerbaren zu fokussieren, fokussierte sich die Debatte auf eine Energieversorgung ohne fossile Energieträger aus autoritären Staaten.  Statt mit Umweltpolitik wurden sie mit Verteidigungspolitik assoziiert: Erneuerbare reduzieren Deutschlands Importabhängigkeit.

Der Krieg in der Ukraine war ein diskursiver Wendepunkt in der deutschen Energiepolitik. Bisher wurde Russland als Deutschlands größte Bezugsquelle von Erdgas unkritisch gesehen, da der Brennstoff für Strom und Wärme und als Rohstoff für die Industrie wesentlich war. Mit dem Kriegsausbruch verschob sich der energiepolitische Diskurs jedoch: Russland wird im Diskurs nicht länger als zuverlässiger Handelspartner wahrgenommen, worauf die Bundesregierung reagierte und sich nun darauf konzentriert, neue Importquellen zu sichern. Außerdem wuchs in der Bevölkerung die Angst vor unbezahlbaren Energiepreisen. Innerhalb des Trilemmas verschob sich der energiepolitische Diskurs weg vom Umweltschutz hin zur Bezahlbarkeit von Energie für Verbraucher und zur Abfederung sozialer Härten.

Der diskursive Wandel hin zu Sicherheits- und Wohlstandsaspekten beeinflusste sogar die politische Haltung zu Kern- und Kohlekraft. Vor dem Ukrainekrieg, so lässt sich in der Diskursanalyse zeigen, lag der Fokus auf Umweltaspekten. Kohlekraft galt als besonders klimaschädlich und die Beseitigung des radioaktiven Abfalls aus den Kernkraftanlagen als umweltschädlich. Außerdem wurde Kernkraft als gefährlich wahrgenommen, wegen des Risikos einer Kernschmelze. Diese Darstellungen änderten sich im Zuge des Diskurses rund um den Ukrainekrieg. Kohle- und Kernkraftwerke wurden als verlässliche Stromquellen identifiziert und lieferten so die diskursive Begründung für einen Politikwechsel, der die Laufzeitverlängerung der Atom- und Kohlekraftwerke als Beitrag zur Versorgungssicherheit einschloss.

Ein Wandel im energiepolitischen Diskurs hat stattgefunden: Weg von klimapolitischen Zielen hin zu Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit. Dabei blieben die technischen Begebenheiten die gleichen. Stattdessen änderte sich der Diskurs und trieb die Politik vor sich her. Ein diskursiver Wandel, der mitverantwortlich dafür ist, dass sich ein grüner Wirtschaftsminister nun gezwungen sieht, Kohle- und Atomkraftwerke hochfahren zu lassen. Die Macht des gesellschaftlichen Diskurses auf die Politik der Gegenwart ist nicht zu unterschätzen.

Photo: John Paul Navarro from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Von Piotr Oliński, Junior Legal Analyst bei FOR Foundation (Civic Development Forum) und Student der Rechtswissenschaften in Warschau und Bonn.

Polen hat niemals eine starke ordoliberale Tradition entwickelt. Jedoch bildet die soziale Marktwirtschaft laut Artikel 20 der polnischen Verfassung „die Grundlage der wirtschaftlichen Ordnung der Republik Polen”. Wie kam es dazu, dass die intellektuelle Tradition der Freiburger Schule in Polen Verfassungsrang gewann?

Die polnische Wirtschaftswende zum Beginn der neunziger Jahre war alles andere als eine rein theoretische Auseinandersetzung. Im Land tobte eine Hyperinflation, die Wirtschaft war veraltet und insuffizient und der Staat verschuldet. Das Ziel der ersten demokratischen Regierung unter Tadeusz Mazowiecki war aber klar: die Abschaffung der Planwirtschaft und die Rückkehr zur Marktwirtschaft nach dem Vorbild der westlichen Länder. Die Inspiration durch den deutschen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg war sichtbar – Mazowiecki soll, als er den Wirtschaftswissenschaftler Leszek Balcerowicz zu seinem Stellvertreter und Finanzminister ernannte, gesagt haben, er suche „seinen Ludwig Erhard”.

Balcerowicz hat es als stellvertretender Premierminister und Finanzminister in den Jahren 1989 bis 1991 geschafft, die Inflation zu mildern, marktwirtschaftliche Mechanismen einzuführen, eine Vielzahl von Staatsunternehmen zu privatisieren und die Grundlagen für die Trennung von Notenbank und Regierungspolitik einzuführen. In zügigem Tempo wechselte Polen von kommunistischer Planwirtschaft zu einer lebendigen Marktwirtschaft. Die rechtliche Fassung dieser Wende sollte aber später kommen.

Die junge Dritte Polnische Republik hatte einige Zeit gebraucht, um ihre Verfassung zu verabschieden. Ende Dezember 1989, drei Monate nach der Bildung der Regierung Mazowiecki hat der Sejm die sogenannte „Dezember-Novelle” zur Verfassung der polnischen Volksrepublik verabschiedet. Damit kam es zu einem grundsätzlichen Systemwechsel – der „sozialistische Staat”, in denen der Souverän das „arbeitende Volk der Städte und Dörfer” sei, wurde umgewandelt in einen demokratischen Rechtsstaat mit Privateigentum und Gewerbefreiheit. Der Weg zu einer neuen Verfassung war aber noch lang. Im Oktober 1992 wurden die gegenseitigen Verhältnisse zwischen den höchsten Staatsorganen durch die sogenannte „kleine Verfassung” geregelt, die auch den Verfassungsausschuss der Nationalversammlung mit der Erstellung einer neuen Verfassung beauftragte.

Die Grundlagen der neuen wirtschaftlichen Ordnung wurden im Laufe der Arbeit des Ausschusses relativ spät diskutiert – erst 1995 tauchten die ersten Ideen auf zur Fassung der verfassungsrechtlichen Rahmen der Wirtschaftsordnung. Der Ausschuss konnte aber lange nicht zu einer Fassung kommen, die alle politischen Wünsche befriedigen würde. Abgelehnt wurden sowohl die Vorschläge, die Grundlagen der neuen Ordnung auf einer Verbindung von Privateigentum und Gewerbefreiheit zu stützen, als auch der Vorschlag, auf Arbeit als den Grundbegriff zu setzen. Innerhalb der nächsten Sitzungen wurde langsam klar, welche Werte die Verfassung im Bereich des Wirtschaftlichen garantieren soll: Gewerbefreiheit, Privateigentum, Solidarität, sowie Tarifpartnerschaft. Aber auf einen alles verbindenden Schlüsselbegriff musste die Öffentlichkeit bis zum Jahr 1997 warten.

Nach einer Konsultation mit der im Verfassungsausschuss vertretenden Fraktionen brachte schließlich der sozialdemokratische Abgeordnete Marek Borowski den Vorschlag ein, auf eine Kompromissformel zu setzen. Die Wirtschaftsordnung sollte definiert werden als eine „Soziale Marktwirtschaft, gestützt auf die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit, Privateigentum und Solidarität, Dialog und Zusammenarbeit der sozialen Partner”. Zwar bemerkten die anderen Abgeordneten und Experten, dass die Benutzung des Begriffs „Soziale Marktwirtschaft” eine ganz wesentliche Änderung der Wirtschaftsordnung als Folge haben kann. Borowski erwiderte, dass der Begriff zwar seine Wurzeln im deutschen Liberalismus habe, aber auch anders interpretiert werden und zu einem „Motto” werden könne, das sowohl durch Arbeitgeber als auch durch Arbeitnehmer akzeptiert werden kann. Am Ende der Sitzung wurde diese Fassung in den Entwurf der neuen Verfassung aufgenommen, am 2. April 1997 durch die Nationalversammlung verabschiedet und zwei Monate später im Verfassungsreferendum durch die Bürger als geltendes Recht bestätigt.

Das Problem war nur, dass die Tradition der Freiburger Schule zu der Zeit in Polen nicht weit verbreitet war (was schon die Diskussion im Verfassungsausschuss zeigte). Schon 1995 bemerkte Leszek Balcerowicz, dass der Begriff stark an Popularität gewonnen habe, aber nicht in dem Verständnis, das ursprünglich durch Erhard, Müller-Armack und Eucken beabsichtigt war. Bis heute bleibt der Ordoliberalismus Gegenstand des Interesses von wenigen Forschern, und die Bücher von Walter Eucken und Ludwig Erhard sind nur in einer kleinen Auflage in manchen Bibliotheken und Antiquitätengeschäften verfügbar. Und so wurde zwar die Soziale Marktwirtschaft zum verfassungsrechtlichen Muster für die wirtschaftliche Gesetzgebung und das Verwaltungshandeln, aber bleibt nur für wenige Experten zugänglich.

Das kann man klar sowohl in der Rechtsprechung wie auch in der Rechtslehre sehen. Der polnische Verfassungsgerichtshof musste sich aufgrund seiner zentralen Bedeutung im Wirtschaftsverfassungsrecht mehrmals mit der Auslegung des Begriffs der Sozialen Marktwirtschaft beschäftigen. Diese Auslegungen sind nicht identisch. Manchmal hat sich der Verfassungsgerichtshof eng an das ordoliberalen Gedankengut angelehnt: das Wesentliche der Sozialen Marktwirtschaft interpretierte er als die marktwirtschaftlichen Mechanismen, die durch den Staat modifiziert, aber nicht ersetzt werden können. In anderen Urteilen aber legte das Verfassungsgericht Polens die Idee der Sozialen Marktwirtschaft aus als eine Verbindung von Marktwirtschaft und Sozialstaat, die „auf dem Boden der sozialdemokratischen und christlich-demokratischen Lehre” entstanden sei, was ganz weit von dem Grundgedanken der Freiburger Schule entfernt ist. Auch in juristischen Lehrbüchern liest man im Bezug zu Artikel 20 der Verfassung eher über eine Kombination aus Marktwirtschaft und Sozialstaat oder als einen Mittelweg zwischen Laissez-faire Kapitalismus und Zwangswirtschaft.

Die Frage der theoretischen Grundlagen der polnischen Wirtschaftsverfassung könnte abstrakt erscheinen. Sie hat aber ganz im Gegenteil eine sehr praktische Bedeutung. Artikel 20 (Soziale Marktwirtschaft) und 22 (Gewerbefreiheit) bilden zusammen ein subjektives öffentliches Recht, das die Grundlage für tausende Verfahren vor den Verwaltungsgerichten darstellte. Würde das Bewusstsein über die Regeln und Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft steigen, würde das auch die Politik beeinflussen – zum Beispiel, wenn es um die Rolle der staatlichen Unternehmen in der Wirtschaft geht, die in den letzten sieben Jahren deutlich an Macht gewannen.

Ist die Soziale Marktwirtschaft in Polen ein Produkt des Zufalls? Dass sie die Grundlage der polnischen Wirtschaftsverfassung bildet, ist sowohl das Ergebnis von bewusster Inspiration durch das deutsche Wirtschaftswunder, als auch ein Zufallsergebnis der parlamentarischen Diskussionen. Klar ist, dass dadurch die ordoliberale Tradition in Polen bedeutend bleibt. Ihre Entdeckung durch die breite Öffentlichkeit könnte zugunsten der individuellen Freiheit viel, sowohl in der Rechtspraxis, als auch in der Politik, ändern.

Photo: pingnews.com from Flickr (CC 0)

Von Dr. Benedikt Koehler, Historiker in London.

Eine von Ökonomen des zwanzigsten Jahrhunderts häufig vermittelte Lektion war, dass staatliche Eingriffe in die Märkte kontraproduktiv sein können. Diese Intuition wurde jedoch schon lange vorher zum Ausdruck gebracht, nämlich 1857, während einer Finanzkrise, die die Regierungen in den USA und in Europa dazu veranlasste, die Rettung von Banken in Erwägung zu ziehen. Zwei Zeitgenossen waren dagegen, weil sie überzeugt waren, dass Bankenrettungen mehr schaden als nutzen würden: US-Präsident James Buchanan und Karl Marx.

Im Jahr 1857 war eine Finanzkrise kein unbekanntes Phänomen. Große Volkswirtschaften hatten bereits mehrere Episoden von sogenannten „Umwälzungen“ durchlebt. Im Jahr 1857 hatten mehrere Jahre regen Handels Investoren und Kreditgeber dazu verleitet, ihre Verpflichtungen zu überziehen. Zu Beginn des Jahres hatte eine unerwartete Unterbrechung der Zahlungen einiger New Yorker Händler die Banken veranlasst, ihre Kreditzusagen einzuschränken, und die Kreditnehmer hielten ihre Investitionen zurück. Diese Verzögerung wäre vielleicht nur vorübergehend gewesen, wenn nicht im August die Nachricht die Runde gemacht hätte, dass ein großer institutioneller Kreditgeber, die Ohio Life Insurance and Trust Company, ausgefallen war. Von New York aus breitete sich eine Kettenreaktion über das ganze Land aus. Banken schlossen, Fabriken wurden dichtgemacht, und die Arbeiter wurden nach Hause geschickt. Ohio, das Epizentrum des Ausbruchs der Krise, war ein Lichtblick in diesem düsteren Bild. Die Banken in Ohio gründeten im Eiltempo und unter Verzicht auf staatliche Eingriffe einen Verein für gegenseitige Garantien, und Ohio war einer der ersten Staaten, in denen die Märkte wieder in Ordnung gebracht wurden.

Präsident James Buchanan machte die Finanzkrise zum ersten Tagesordnungspunkt seiner Rede zur Lage der Nation am 8. Dezember 1857. Er sprach drei wichtige Punkte an.

Zunächst drückte er sein Mitgefühl angesichts der Entbehrungen aus, die dem Land auferlegt wurden: „Inmitten eines unübertroffenen Überflusses an allen landwirtschaftlichen Erzeugnissen und allen Elementen des nationalen Reichtums finden wir unsere Manufakturen eingestellt, unsere öffentlichen Arbeiten verzögert, unsere privaten Unternehmungen verschiedener Art aufgegeben und Tausende von Arbeitskräften aus der Beschäftigung geworfen und in Not gebracht.“ Zweitens betonte er jedoch, dass das Land nicht von der Regierung erwarten könne, dass sie „das Leid und die Not des Volkes lindert. Die Regierung kann nicht umhin, dafür tiefes Mitgefühl zu empfinden, auch wenn sie nicht die Macht hat, Hilfe zu leisten“. Drittens deckte James Buchanan die eigentliche Ursache der Finanzkrise auf, nämlich „unverantwortliche Bankinstitute, die von ihrem Wesen her eher die Interessen ihrer Aktionäre als das öffentliche Wohl im Auge haben.“

James Buchanan muss von dem finanziellen Rettungsboot gewusst haben, mit dem Ohio aus der Krise segelte. Es wäre nur zu plausibel gewesen, diesem Beispiel auf Bundesebene zu folgen und einen staatlichen Garanten zur Unterstützung wankender Banken zu schaffen. Diesen Vorschlag lehnte Buchanan jedoch ab – ein staatliches Eingreifen in die Finanzmärkte würde zu falschen Anreizen führen, argumentierte er. Zu glauben, die Vereinigten Staaten könnten eine zentrale Finanzinstitution einrichten, um eine Finanzkrise zu entschärfen, sei illusorisch: Diese Institution sei dazu geneigt, ihre Interessen mit denen der Finanzinstitutionen abzustimmen, die sie beaufsichtigen solle.

„Aber eine Bank der Vereinigten Staaten würde, selbst wenn sie dazu in der Lage wäre, die Emissionen und Kredite der staatlichen Banken nicht einschränken, weil ihre Aufgabe als Währungsregulierer oft in direktem Konflikt mit den unmittelbaren Interessen ihrer Aktionäre stehen muss. Wenn wir von einem Akteur erwarten, dass er einen anderen einschränkt oder kontrolliert, müssen ihre Interessen zumindest in gewissem Maße gegensätzlich sein. Aber die Direktoren einer Bank der Vereinigten Staaten würden dasselbe Interesse und dieselbe Neigung wie die Direktoren der Staatsbanken verspüren, die Währung auszuweiten, ihren Günstlingen und Freunden mit Krediten entgegenzukommen und hohe Dividenden auszuschütten. Diese Erfahrung haben wir mit der letzten Bank gemacht.“

Die Krise von 1857 war eine Zäsur.

Frühere Finanzkrisen hatten sich auf das Inland beschränkt, aber in der Zwischenzeit hatten die Fortschritte in der Schifffahrt und der Telegrafie die Märkte über den Atlantik hinweg miteinander verbunden. Die Leser der New York Daily Tribune konnten am 30. November 1857 Berichte des Londoner Korrespondenten der Zeitung, Karl Marx, über die Entwicklung der Finanzkrise in Europa lesen: „Die wirtschaftliche Krise Großbritanniens scheint in ihrer ungeheuren Entwicklung drei verschiedene Formen angenommen zu haben: einen Druck auf die Geld- und Warenmärkte von London und Liverpool, eine Bankenpanik in Schottland und einen Zusammenbruch der Industrie in den Manufakturen.“ Die Auswirkungen der Krise konnten in Großbritannien nicht eingedämmt werden und machten sich bald auch in Kontinentaleuropa bemerkbar. In Hamburg, einem autonomen Stadtstaat, beschloss die Regierung zu intervenieren und startete eine steuerfinanzierte Rettungsaktion. In seinem Bericht über die Entwicklung der Lage gab Karl Marx diese Einschätzung ab:

„Der Senat schlug vor und erhielt von den freien Bürgern der Stadt die Erlaubnis, verzinsliche Wertpapiere auszugeben … Um die Preise aufrechtzuerhalten und so die aktive Ursache der Notlage abzuwehren, muss der Staat die Preise zahlen, die vor dem Ausbruch der Handelspanik galten, und den Wert von Wechseln realisieren, die nichts anderes mehr darstellten als ausländische Ausfälle. Mit anderen Worten: Das Vermögen der gesamten Gemeinschaft, das die Regierung vertritt, soll die Verluste der Privatkapitalisten ausgleichen. Diese Art von Kommunismus, bei dem die Gegenseitigkeit auf einer Seite liegt, scheint für die europäischen Kapitalisten recht attraktiv zu sein.“

James Buchanan hätte es anders formuliert, aber im Kern hätte er Karl Marx zustimmen müssen: Die Rettung notleidender Banken stellt eine „Art Kommunismus“ dar.

Ist es überhaupt von Bedeutung, was James Buchanan und Karl Marx im Jahr 1857 über eine Finanzkrise zu sagen hatten? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir untersuchen, wie sich die Einstellungen geändert haben.

Die Bankenrettungen von 2008 veranlassten Bernie Sanders, ein Schlagwort zu recyceln: Rettungsaktionen seien Sozialismus für die Reichen. Mit diesem Begriff – Sozialismus für die Reichen – wurde ein Vorwurf wiederbelebt, der vor mehreren Jahrzehnten in der amerikanischen Politik die Runde machte, als er von Martin Luther King und Robert Kennedy geäußert wurde. Damals wurde er jedoch in anderen Zusammenhängen verwendet. Das neue Element des Satzes von Sanders war, dass er sich auf die Rettung von Banken bezog. Wenn heute eine Regierung einer Finanzkrise ihren Lauf lassen würde, würde die Öffentlichkeit die Schuld an den Folgen eher der Regierung als den Banken geben. Im Jahr 1857 war man noch gegenteiliger Meinung. An den entgegengesetzten Enden des politischen Spektrums, vom Oval Office bis zur Mansarde in Soho, herrschte die Meinung vor, dass Bankenrettungen eine falsche Verwendung öffentlicher Gelder seien. Im Jahr 2008 war dieser Konsens zum Gräuel geworden.

Der Wendepunkt in der Einstellung zur staatlichen Unterstützung der Finanzmarktstabilität kam nach der Finanzkrise von 1907 und mit der Schaffung der Federal Reserve Bank. Damals ging man davon aus, dass eine zentrale Behörde, die die Finanzmärkte beaufsichtigt, Finanzkrisen ein Ende setzen oder zumindest ihre Auswirkungen mildern würde. Doch seither sind die Krisen nicht kleiner, sondern größer geworden. Und nach jeder Krise haben die Regierungen ihre Befugnisse zum Eingreifen in die Finanzmärkte erweitert.

Mit der Krise von 2008 betraten die Zentralbanken Neuland und wurden nicht nur mit der Rettung von Banken, sondern auch mit dem Kauf von Anleihen, Aktien und der Finanzierung von Staatsdefiziten betraut. Wenn die Krise von 1907 die Zentralbanken zu Kreditgebern der letzten Instanz machte, so hat die Krise von 2008 sie zu Investoren der letzten Instanz gemacht.

James Buchanan und Karl Marx verfügten nicht über ein analytisches Instrumentarium zum Thema Staatsversagen, aber sie hatten die richtigen Intuitionen. Die Analyse musste auf George Stigler warten, der die Ökonomie der „regulatory capture“ (der Vereinnahmung von regulatorischen Akteuren durch Interessengruppen) entwickelte und aufzeigte, dass staatliches Eingreifen kein Allheilmittel ist, um Marktstörungen zu beheben, und dass etablierte Unternehmen die Regierung unterwandern können, um ihre eigenen Ziele zu erreichen.

Das Konzept der „regulatory capture“ wurde zunächst auf die Analyse monopolistischer Märkte, wie etwa Versorgungsunternehmen, angewandt. Später gerieten die Finanzmärkte für Privatkunden in den Fokus. Auf den Finanzmärkten für Privatkunden ziehen die etablierten Unternehmen immer Vorteile daraus, wenn die Regulierungsbehörden ihnen neue Vorschriften auferlegen, denn je höher die Fixkosten in ihrem Sektor sind, desto höher sind die Hindernisse, die neue Wettbewerber fernhalten. Man darf vermuten, dass die Regulierungsbehörden nicht nur im Privatkundengeschäft Einfluss auf die Finanzmärkte nehmen. Die quantitative Lockerung nach 2008 wurde als Notmaßnahme angepriesen, aber diese Notmaßnahme ist heute noch in Kraft. Das Konzept der „regulatory capture“ würde zumindest erklären, warum diese Entwicklung der Notenbankpolitik weder für James Buchanan noch für Karl Marx oder George Stigler unerwartet käme …

Erstmals erschienen bei Promarket.