Photo: Changsu Im from Unsplash (CC 0)

Die Pandemie und die Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft werden auch in diesem Jahr eine prägende und dominierende Rolle spielen. Es wird hoffentlich nicht von Dauer sein, dass Staat und  Regierung meinen, alles finanzieren und regeln zu können. Die Grenzen der Wirksamkeit staatlichen Handelns sind deutlich sichtbar. Bald ein Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie in Deutschland haben sich staatliche Behörden nur unzureichend auf neue Herausforderungen eingestellt. Wie viel schneller waren da im letzten Frühjahr und Sommer die Supermärkte und Cafés! Infektionszahlen werden von den Gesundheitsämtern teilweise noch per Fax gemeldet, Impfstoffe zu spät bestellt, die Verteilung schlecht organisiert und Mutationen erst Wochen nach dem Auftauchen auf ihre Verbreitung untersucht. Von den Katastrophen im Bildungsbereich ganz zu schweigen. Man muss nicht die große Keule des DDR-Sozialismus herausholen, um festzustellen, dass staatliche Planung und Planerfüllung eklatant auseinanderfallen.

Es ist zu befürchten, dass dieses schlechte Management die ökonomische Situation und die vielen Begleiterscheinungen der Krise bis weit in den Herbst hinein und darüber hinaus verschlechtert. Dabei kann eine Krise eigentlich auch eine große Chance sein, bisheriges Handeln zu hinterfragen und sich wieder stärker an Grundsätzen zu orientieren.

Hier gibt es eine große Tradition, auf die es sich aufbauen ließe. Walter Eucken, der am 17. Januar 130 Jahre alt geworden wäre, hat in seinen „Grundsätzen der Wirtschaftspolitik“ Prinzipien formuliert, die eine gute Wirtschaftspolitik ausmachen. Wie schaut es heute mit der Einhaltung dieser Prinzipien aus? Ist dieses Land auf Kurs oder spielen diese ordoliberalen Grundsätze keine Rolle mehr?

Als konstitutiv sah Eucken ein funktionierendes Preissystem ohne Eingriff des Staates durch Mindest- oder Höchstpreise an. Mietendeckel, Mindestlohn und weite Teile der Energiepolitik widersprechen diesem Prinzip eklatant. Eucken wollte eine unabhängige Notenbank, die der Geldwertstabilität verpflichtet ist.  Die Deutsche Bundesbank kam diesem Idealbild Euckens sehr nahe. Die Entwicklung der Deutschen Mark und ihre Stärke war dafür ein Beleg.  Heute verzerrt das billige Geld der EZB das Preissystem, erzeugt Blasen an den Immobilien- und Aktienmärkten, und die Präsidentin der EZB sitzt wie eine aktive Politikerin mit am Tisch, wenn sich die Staats- und Regierungschefs in Europa auf neue Schulden verständigen. Geprägt von den bedrückenden Erfahrungen der Kartelle und Monopole in der Weimarer Republik war Eucken für eine strenge Monopol- und Kartellkontrolle. Heute interveniert der Staat in die Wirtschaft, um unliebsame Investoren aus dem Ausland zu verhindern.  Eucken war ein Freund offene Märkte. Heute ist der Freihandel auf dem Rückzug. Innerhalb der EU wird mit der Entsenderichtlinie die Dienstleistungsfreiheit immer weiter eingeschränkt und gegenüber Importeuren in die EU werden tarifäre und nicht-tarifäre Handelsbarrieren hochgezogen. Das Privateigentum und die Vertragsfreiheit werden durch die zunehmende „Demokratisierung“ der Wirtschaft, sei es durch Frauenquoten in Vorständen, durch Corporate Governance-Vorgaben oder die Verpflichtung zur nachhaltigen Anlage in der Vermögensbildung immer weiter ausgehöhlt. Von der Durchsetzung des Haftungsprinzips ganz zu schweigen.

Euckens Credo: „Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen“ hat schon in der Finanzkrise 2008/2009 und auch in der Eurokrise ab 2010 keine Rolle gespielt. Es ist zu befürchten, dass auch nach der Pandemie dieser Grundsatz weiter verletzt wird. Eine Marktwirtschaft ohne Haftung ist keine Marktwirtschaft. Und auch die Konstanz der Wirtschaftspolitik ist gerade in Pandemiezeiten essentiell. Weite Teile der Wirtschaft, des Gewerbes und des Handels können heute nicht mehr ausreichend planen, weil die Regierung durch wöchentlich geänderte Pandemiebestimmungen Planungen unmöglich machen. Dies hat verheerende Folgen für weite Teile der Wirtschaft. Nur wenn Unternehmen Investitionen verlässlich planen können, investieren sie in ihre Zukunft. Nur wenn Bürgerinnen und Bürger einen mittelfristigen Horizont überblicken können, investieren sie in eine neue Immobilie.

Es steht also schlecht um die tragenden Grundsätze einer Marktwirtschaft. Deutschland entfernt sich immer mehr von diesen Idealen. Dies liegt auch daran, dass die Orientierung an ökonomischen Prinzipien aktuell zu wenig Freunde und Unterstützer hat. Das muss sich ändern, wenn sich in diesem Land etwas ändern soll.

Photo: Chemie-Verbände Baden-Württemberg from Flickr (CC BY 2.0)

Dieser Artikel erschien erstmals am 23. November 2020 in der Welt und bildet den Auftakt zu unserem inhaltlichen Schwerpunkt zu Schulautonomie.

Das jüngste Bildungsbarometer des ifo Instituts hat es einmal wieder deutlich gezeigt: Die Mehrheit der Deutschen wünscht sich mehr Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit in der Bildung. Die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz im Oktober folgen gehorsam diesem Trend – selbst die üblichen Rebellen aus den Freistaaten und Bildungs-Champions Sachsen, Bayern und Thüringen scheren nicht mehr aus. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe jubelt, dass die Zeit der „pädagogischen Freihändigkeit“ vorüber sei. Es müssten also goldene Zeiten bevorstehen für die Bildungsrepublik Deutschland. Zumindest solange nicht die Grabenkämpfe ausbrechen, wenn den Schulen dann bundesweit vorgegeben wird, welchem politischen Trend sie jetzt zu folgen haben …

Bildung ist einer der am stärksten politisierten Bereiche in unserem Land, auch weil hier mitunter die letzten Bastionen liegen, die von den Ländern noch bestückt werden können. Besonders aber, weil man hier langfristig Einfluss ausüben kann: Wie viel Widerstand gegen Kernenergie kam durch die Schullektüre von Gudrun Pausewangs „Die Wolke“ zustande? Wie viel der Regierungskontinuität in Bayern lässt sich darauf zurückführen, dass die bayerischen Gymnasien über Jahrzehnte hinweg erfolgreich vorgebildete Redeakteurinnen, Ministerialbeamte und Kommunalpolitiker produzierten?

Die ideologischen Grabenkämpfe werden erbittert geführt: von G8 oder G9 über Digitalisierung, Inklusion und Schulformen bis hin zu Sexualaufklärung und Kopftüchern. Zugleich wird Bildung von verschiedensten politischen und medialen Akteuren als Allzweckwaffe angepriesen: sie soll unsere Zukunftsprobleme lösen; sie soll uns zu besseren Bürgern und gesünderen Menschen machen; sie soll Ungleichheit beseitigen und Integration ermöglichen. Aus der Sicht der politischen Akteure ist das ein dankbares Spielfeld: Je mehr externe Ziele mit dem Bildungssystem in Verbindung gebracht werden, desto mehr Anlässe hat man, es zu kontrollieren; oder wenn man in der Opposition sitzt: desto leichter fällt es, drohendes Unheil an die Wand zu malen.

In einem sind sie sich aber alle dann doch einig: Man muss das regeln! Bildung, heißt es dann im gravitätischen Duktus verfassungstheoretischer Diskurse, sei ja schließlich eine Kernaufgabe des Staates. Wer dieses Paradigma hinterfragt, erntet mitunter Reaktionen, als ob er sich als Reichsbürger oder Salafist geoutet hätte.

Doch was würde denn eine Entstaatlichung der Bildung bedeuten? Zuvorderst würde es eine Verschiebung von Verantwortung implizieren: Weg aus den Ministeriumsbüros und den Schulamtsstuben – hin zu denen, die dafür ausgebildet wurden, und zu denen, die davon betroffen sind. Heute entscheiden einige wenige Ministerialräte und Regierungsdirektoren über Schulen in Steglitz, Neukölln, Reinickendorf und Marzahn; in Bad Honnef, Duisburg, Stemwede und Bochum. Wie soll das sinnvoll möglich sein? – Ganz abgesehen davon, dass diese Diskurse natürlich in den meisten Fällen vor dem Erfahrungshorizont von Menschen stattfinden, die, aus einem Akademikerhaushalt stammend, nach dem Abitur in die Universität und von dort stramm weiter in Politik, Bürokratie oder Medien durchmarschiert sind.

Statt des Bildungszentralismus, der im Augenblick in Mode ist, sollte man geradewegs in die andere Richtung denken und dann auch laufen: Hin zu viel mehr Verantwortung für die Schulen, für Direktorinnen, Lehrer, Eltern und Schülerinnen. Oder wie man in der Kultusministerkonferenz gerne süffisant spöttelt: mehr „pädagogische Freihändigkeit“. Um wirklich die Potentiale aller am Bildungsprozess Beteiligten am besten zu entfalten, brauchen wir so viel Schulautonomie wie möglich!

Dieses Konzept fußt auf drei Prinzipien: den Menschen vor Ort vertrauen; auf das Individuum eingehen; und Vielfalt als Chance begreifen.

Wir bilden Lehrkräfte und Pädagogen in langjährigen Verfahren aus – in Theorie und Praxis. Über Jahrzehnte hinweg sammeln sie sich, auch im Austausch untereinander, einen umfangreichen Erfahrungsschatz an. Sie können wie Seismographen Entwicklungen wahrnehmen, lange bevor irgendwelche selbsternannten Experten die nächste Generation X, Y oder Z kreieren. Sie kennen die Lage vor Ort, wissen mit welchen Familien sie es zu tun haben und mit welchen Voraussetzungen die jungen Menschen bei ihnen ankommen werden. Und ja, die meisten von ihnen sind auch mit Freude, oft mit Leidenschaft für ihren Beruf erfüllt.

Warum gibt es durch das sich verengende Korsett aus Lehrplänen, vorgegebenen Unterrichtsmethoden, Stundenzahlen und nun zunehmend zentralisierten Standards ein so massiv institutionalisiertes Misstrauen diesen Menschen gegenüber? Warum trauen wir Eltern nicht mehr zu, für ihre eigenen Kinder verantwortliche Entscheidungen zu treffen, sobald es um die Schulwahl geht? Warum wittern wir allenthalben versagende Schulen und überforderte Eltern? Das Ergebnis ist nicht selten noch mehr staatliche Kontrolle – oder mit anderen Worten: argwöhnische Aufseher und mutlose Beaufsichtigte. Könnte es nicht sein, dass sich ein mutiger Vertrauensvorschuss gegenüber allen am Bildungsprozess Beteiligten am Ende mehr auszahlt als das derzeitige System des Argwohns? Wieviel Kreativität, Dynamik und Selbstwertgefühl freigesetzt werden können, wenn man Vertrauen schenkt, lässt sich gerade bei Heranwachsenden doch so gut beobachten! Überall reden wir von flexiblen Arbeitswelten, von flachen und schlanken Hierarchien – und ausgerechnet in der Bildung soll es mehr Gängelung geben?

Schüler sind Individuen und nicht wie Elektronikgeräte bei der Stiftung Warentest miteinander vergleichbar. In den bildungspolitischen Debatten wird aber oft genau dieser Chimäre nachgejagt. Doch die Idee, dass Vergleichbarkeit hergestellt werden kann, wird schon bei zwei Schülern ad absurdum geführt, weil Hannah mit dem Mathematikunterricht von Herrn Dorsch einfach so viel besser zurechtkommt als Ben. Wer sich auch nur ein wenig in die Vielgestaltigkeit menschlicher Existenz hineindenkt, wird schwerlich noch behaupten können, dass Prüfungen tatsächlich mehr über Fleiß und Begabung, Wollen und Können aussagen als über Zufälligkeiten.

Doch laufen viele Versuche, Vergleichbarkeit herzustellen, nicht nur ins Leere – sie richten auch zum Teil erheblichen Schaden an. Denn Standards müssen notwendigerweise vereinfachen und abstrahieren. Sie zwingen Pädagogen dazu, auf ein bestimmtes Ziel hin zu trimmen, anstatt die individuellen Voraussetzungen zu berücksichtigen – und das meist zulasten der Schwachen. Wenn man dem Einzelnen wirklich gerecht werden möchte, dann sollte im Zentrum der Bemühungen stehen, dass dessen Potential so gut wie möglich gefördert wird. Gerade da sind Einfühlungsvermögen, Erfahrung und Flexibilität erforderlich – etwas, das kein Lehrplan bieten kann, sondern nur Lehrer vor Ort. Wir brauchen ein System, das vom Individuum her aufgebaut ist, Begabungen fördert, Schwächen ausgleicht, begeistert und motiviert. So wird man Menschen am besten gerecht.

Was wollen wir eigentlich erreichen mit unseren Schulen? Diese Frage steht kaum mehr zur Debatte. Sie wird erstickt durch Plattitüden. Sie wird übertönt von den Rufen nach mehr Abiturienten, von Linksintellektuellen wie von Wirtschaftskapitänen. Sie geht unter im Tumult der Identitäts- und Symbolpolitik. Sie spielt keine Rolle in einem System der Bildungsplanwirtschaft. Der junge Wilhelm von Humboldt wusste es: Bildung ist dafür da, die Vielfalt des menschlichen Miteinanders zum Klingen zu bringen. Nicht das passgenaue Standardwesen in der „brave new world“ sollte das Ideal sein, nach dem man strebt, sondern der aufgeweckte und motivierte junge Mensch, der seine eigenen Fähigkeiten und Träume in das kreative Chaos der offenen Gesellschaft mit einbringt.

Die Einwände gegen mehr Autonomie für Schulen sind bekannt – und zeugen von der typischen Mutlosigkeit und Innovationsaversion der politischen Debatten hierzulande. Die Spirale aus Eingriffen, Großprojekten und Machbarkeitsfantasien in diesem Bereich haben bisher kaum Probleme lösen können und werden es auch in Zukunft nicht tun. Gewiss, man wird den schweren Tanker Schulpolitik nicht sofort auf einen anderen Kurs setzen können. Aber vielleicht stemmen sich doch einmal Politiker gegen den Trend und trauen sich, den Menschen vor Ort zu vertrauen, und graduell die Freiheitsräume von Schulen zu erweitern.

Ein System der Schulautonomie ist möglich. Es ist ein System, das auf Vertrauen und Mut aufgebaut ist. Ein System, das Experiment und Innovation nicht nur zulässt, sondern ausdrücklich begrüßt. Ein System, das darauf basiert, dass man Direktoren, Lehrerinnen, Eltern und Schülern zutraut, die eigene Situation, Bedürfnisse und Möglichkeiten am besten einschätzen zu können. Ein System, das dazu dient, dass junge Menschen sich entfalten und das Beste aus sich herausholen können. Ein System, das es ihnen besser ermöglicht, zu verantwortlichen und selbstbewussten Bürgern heranzuwachsen – und vor allem zu selbständigen und glücklichen Menschen.

Photo: Mike Finn from Flickr (CC BY 2.0)

Im Schatten der Präsidentschaftswahl haben sich die Amerikaner ein weiteres Mal deutlich gegen die Drogenprohibition gewandt. Das könnte das amerikanische Gefängnissystem vor dem endgültigen Kollaps bewahren und vielleicht sogar ein Vorbild für Deutschland sein.

Der größte Wahlverlierer ist nicht Trump

Es ist schon ein skurriles Bild: Man stelle sich nur vor, wie im nächsten September Millionen US-Amerikaner gebannt an den Lippen von Jörg Schönenborn hängen, der gerade über die Bedeutung der Erststimmen im Hochsauerlandkreis für die Berechnung von Überhang- und Ausgleichsmandaten philosophiert. Nun, da sich der Gefechtsnebel dieser epischen Wahlschlacht langsam legt, können wir wohl peinlich berührt zugeben, ein wenig zu hysterisch den allerneuesten „Key Race Allert“ aus Fulton County, GA erwartet zu haben. Sie haben keine Ahnung, wovon ich rede? Dann haben Sie Ihre Zeit vermutlich besser genutzt, wissen trotzdem, dass Joe Biden der nächste US-Präsident wird, und haben ansonsten nichts verpasst. Wobei, etwas gab es doch zu verpassen. Denn der deutlichste Verlierer dieser Wahl stand überhaupt gar nicht auf den Wahlzetteln: die Drogenprohibition.

High Time im Land, das den Drogen den Krieg erklärte

Am Wahltag stimmten eine ganze Reihe von US-Bundesstaaten über unterschiedliche Formen der Drogenlegalisierung ab: In Montana, New Jersey und Arizona (das noch 2016 mit nein stimmte) wurden nach der medizinischen nun auch die private Nutzung von Marihuana legalisiert. Das tief konservative South Dakota erledigte gleich beide Legalisierungsformen in einem Abwasch. Ein Novum, da sich alle anderen Staaten bisher über die medizinische Legalisierung an eine vollkommene Legalisierung „herantasteten“. Wie das konservative Kernland Mississippi, das jetzt für die medizinische Nutzung von Marihuana stimmte.

Doch es bliebt nicht bei Marihuana. Die Legalisierungswelle schwappt nicht nur über Staatsgrenzen, sondern auch über Substanzen hinweg. In Washington, D.C. stimmte die Bevölkerung für eine de facto Dekriminalisierung von entheogenen Pflanzen und Pilzen. Und Oregon, wo Marihuana bereits seit 2015 vollumfänglich legalisiert ist, ist der erste Bundesstaat, der den Besitz jeglicher (!) Droge dekriminalisiert. Konkret ist der Besitz verbotener Substanzen jetzt eine Ordnungswidrigkeit, die mit 100 US-Dollar geahndet wird. Die Zahlung kann umgangen werden durch eine freiwillige „Gesundheitsprüfung“ mit einer anschließenden Beratung.

Das Land, das einst den Drogen den Krieg erklärte, und damit ganz Mittelamerika in eine nie enden wollende Spirale von Tod und Gewalt stürzte, hat eindeutig den Anfang vom Ende der Drogenprohibition eingeläutet. Und das durch einen polyzentrischen Regulierungswettbewerb, der jedem Liberalen das Herz aufgehen lassen muss. Das war auch dringend nötig. Denn die Bestrafung dieses Verbrechens, das keine Opfer kennt, ist nicht nur moralisch und ökonomisch kaum zu rechtfertigen. Sie hat das amerikanische Strafrechtssystem auch bis zum Kollaps überlastet.

„Drogenkriminelle“ verstopfen die amerikanischen Gefängnisse

Nicht nur pro Kopf, sondern sogar absolut haben die USA noch immer die mit Abstand größte Gefängnispopulation der Welt. 2,3 Millionen Amerikaner befinden sich aktuell hinter Gittern und gut jeder Fünfte davon sitzt aufgrund eine Drogendelikts. Amerikanische Polizisten nehmen jedes Jahr über 1 Million Menschen aufgrund von Drogendelikten fest. In der Folge werden nicht selten gefährliche Gewalttäter vorzeitig aus den überfüllten Gefängnissen entlassen, um Platz zu schaffen. Ein Ende der Drogenprohibition würde das amerikanische Gefängnisproblem natürlich nicht auf einen Schlag lösen, aber es wäre ein wichtiger Schritt. Denn übervolle Gefängnisse sind Gift für ein effizientes und vor allem effektives Strafrechtssystem.

In überfüllten Gefängnissen haben Gefängnisgangs leichtes Spiel. Das macht den eigentlich zur Abschreckung gedachten Aufenthalt hinter Gittern zum netten Ausflug mit alten Bekannten und Vollpension. Und anstelle von Rehabilitation kommen Kleinkriminelle und Drogentäter in Kontakt mit den Experten des Fachs und durchlaufen buchstäblich die „Academy of Crime“ auf dem Weg zum Superkriminellen. Das ist tatsächlich die einzige Option, denn einmal aus dem Gefängnis raus ist die Reintegration für Straftäter in den USA fast unmöglich. Zu groß ist das Stigma, zu schlecht die Resozialisierungsangebote. Und wer denkt, Drogenabhängige würden hinter Gittern wenigstens einen „ordentlichen Entzug“ durchlaufen, der unterschätzt die Selbstorganisations- und Schmuggelfähigkeiten amerikanischer Gefängnisgangs.

Die Inhaftierung von „Drogenkriminellen“ ist nicht nur moralisch verwerflich, sie ist auch noch unerträglich dumm. Sie macht aus vielen harmlosen Konsumenten gut ausgebildete Kriminelle, denen sprichwörtlich nichts anderes übrigbleibt als wirklich kriminell zu werden.

Deutschland hinkt (noch) hinterher

Während sich die USA also auf den Weg dazu machen, einen der größte Politikirrtürmer der letzten 50 Jahre zu korrigieren, ist Deutschland noch weit davon entfernt. So stieg die Zahl der erfassten Rauschgiftdelikte von 231.000 im Jahr 2010 auf knapp 360.000 im Jahr 2019. Und auch der Rückhalt in der Bevölkerung für eine Legalisierung zumindest von Marihuana ist noch lange nicht auf amerikanischem Niveau. Noch immer knapp über die Hälfte der Deutschen steht frei verkäuflichem Cannabis ablehnend gegenüber. Aber vielleicht nimmt sich die deutsche Öffentlichkeit ja schon bald ein Vorbild an ihrem kleinen-großen amerikanischen Bruder. Bei Demokratie und McDonald’s hat es ja auch schon geklappt.

Weiterführende Links und Empfehlungen:

… über die konkreten Legalisierungsentscheidungen am Wahltag: https://reason.com/2020/11/04/yesterdays-clean-sweep-for-drug-policy-reform-suggests-that-prohibition-may-collapse-sooner-than-expected/

TED-Talk von Professor David Skarbek (Brown University) über die Herrschaft von Gangs in den überfüllten amerikanischen Gefängnissen

… über die finanziellen Auswirkungen einer Drogenlegalisierung: https://www.cato.org/publications/tax-budget-bulletin/budgetary-effects-ending-drug-prohibition

 

Photo: Wolfgang Sauber from Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Die freie, offene und friedliche Welt, die uns so lieb ist, ist keine Selbstverständlichkeit. Von außen wie von innen wird sie immer wieder bedroht. Deshalb ist es unerlässlich, dass wir bei allen inhaltlichen Differenzen auch immer wieder das Gemeinsame in den Blick nehmen, das uns diese Welt beschert hat.

Im Schlingerkurs voran

Der türkische Präsident teilt in altbekannter Sandkastenmanier gegen seinen französischen Amtskollegen – und NATO-Partner – aus, dessen Land zum Opfer massiver islamistischer Attacken wurde. Viele Europäer reiben sich die Augen angesichts der Ergebnisse der Präsidentenwahl in den USA, wo der Amtsinhaber im Vergleich zur letzten Wahl fast 7 Millionen Stimmen hinzugewinnen konnte, obwohl er regelmäßige grundlegendste Anstandsregeln missachtet. Doch es gibt auch ermutigende Signale: Führende Autokraten wie Xi und Putin verlieren in den meisten westlichen Ländern zunehmend an Vertrauen, obwohl nicht wenige politisch Verantwortliche und Wirtschaftskapitäne immer noch samtpfotig um die autokratischen Regime herumstreichen. Und trotz allem Gerangel und Getöse ist beiden Seiten bei den Brexit-Verhandlungen klar, dass man immer noch zusammengehört.

Es ist eines der Weltwunder der Moderne, dass sich die Völker Europas einschließlich ihrer jüngeren transatlantischen Geschwister nach zig Jahrhunderten der Auseinandersetzungen und Kriege zu einem friedlichen Miteinander zusammengefunden haben. Institutionen wie die NATO, die Europäische Gemeinschaft bzw. Union, die OECD oder G7 sind nicht etwa die Ursache, sondern das Ergebnis eines echten Wandels im Miteinander. Die Hoffnung, mit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch in Staaten wie Russland oder China den Siegeszug von Marktwirtschaft, Rechtsstaat und Demokratie fortzusetzen, erfüllte sich ebenso wenig wie drei Jahrzehnte später die ähnliche Erwartungen beim Arabischen Frühling. Aber von Belarus über Hongkong bis Venezuela zeigt sich, dass die Sehnsucht danach noch sehr lebendig ist.

Ein Haus mit vielen Wohnungen

Populismus, religiöser Extremismus, Autoritarismus, Identitätspolitik – die Liste der Bedrohungen dessen, was man etwas verkürzt als „westliches Modell“ bezeichnen könnte, verlängert sich derzeit Jahr für Jahr. Und diese Bedrohungen sickern ein in Gesellschaften, die zuvor als verhältnismäßig stabil gelten konnten: Das lässt sich an der jüngsten Untersuchung zu Antisemitismus in der Labour Party ablesen; an der Tendenz von Mitte-Rechts-Parteien, etwa in Italien oder Frankreich, die Grenzen zu radikaleren Parteien zu verwischen; und natürlich an den zunehmenden Gewalteskalationen in den Vereinigten Staaten, von allen möglichen Seiten. Wie gut hält noch der „antitotalitäre Konsens“, der sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts in rasender Schnelle in vielen Gesellschaften verbreitet hatte und für die allermeisten Menschen selbstverständlich war und ist – von Itzehoe bis Izmir, von Osaka bis Omaha, von Christchurch bis Nazareth?

Die Geschichte hat gezeigt, dass es enorm viele politische und weltanschauliche Differenzen gibt, die einer Wertegemeinschaft nicht im Weg stehen müssen. Das kann schnell aus dem Blick geraten, wenn man sich in ein bestimmtes politisches Projekt besonders hineinsteigert, insbesondere bei identitätspolitischen Fragen: Ob es um die Verschärfung des Abtreibungsrechtes in Polen geht oder um den Kohleausstieg. Man kann schwerwiegende sachliche und moralische Argumente gegen diese Vorhaben haben und dennoch der anderen Seite zugestehen, sich auf demselben Boden zu bewegen. Leider sieht es momentan nicht danach aus. Um bei den beiden Beispielen zu bleiben: Die Protestierenden in Polen rechtfertigen ihre zunehmende Gewaltbereitschaft damit, dass der anderen Seite pauschal Faschismus unterstellt wird. Und wer hierzulande nicht überzeugt ist von den Träumen der woken Neohippie-Jugend, zeichnet eine drohende Öko-Diktatur an die Wand. So treibt man nicht nur gesellschaftliche Gruppen auseinander, sondern man trägt zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung bei, indem man diese Menschen den Radikalen und Extremisten in die Arme treibt.

Fundamentalistische Politik

Wie definiert sich diese (westliche) Wertegemeinschaft, die die Grundlage unserer Freiheit und unseres Wohlstands bildet? Historiker wie Heinrich August Winkler haben dieser Frage im Grunde genommen ihr ganzes Leben gewidmet … Ein paar Punkte wird man aber dennoch ohne zu viel Widerspruch festhalten können: Diese Wertegemeinschaft umfasst die Marktwirtschaft als Instrument der Selbstbestimmung, die Demokratie als Form der Konfliktlösung, den Rechtsstaat als Garant für Verlässlichkeit und Toleranz als Kultur der Klugheit wie der Großzügigkeit. Und diese Wertegemeinschaft hat auch viel zu tun mit der Antwort, die Karl Popper auf die Frage „Was glaubt der Westen?“ gab: „Es ist der Glaube an den Nebenmenschen und der Respekt vor dem Nebenmenschen, der unsere Zeit zur besten aller Zeiten macht“. Genau diese Haltung aber geht uns verloren in Debatten, in denen auch in den politischen Bereich der Fundamentalismus eindringt. Rechte Bürgermilizen und sich als Antifaschisten bezeichnende linke Randalierer folgen derselben Logik wie Islamisten: Sie verachten die pluralistische Zivilisation mit ihren langsamen Mühlen und Uneindeutigkeiten.

Die Wertegemeinschaft muss sich dagegen wehren. Je mehr ihre Gegner aufrüsten, umso fester muss sie auch zusammenstehen. Das bedeutet keinesfalls, den politischen Streit zu begraben. Nein, gerade wegen der fundamentalen Bedeutung von Pluralismus für diese Zivilisation muss der politische Wettstreit kontrovers und leidenschaftlich weitergehen: Ob es um Corona-Maßnahmen geht oder CO2-Reduktion, Lieferkettengesetze oder Steuerreformen, Straßenumbenennungen oder allgemeine Dienstpflicht. Und auch auf internationaler Ebene: in der NATO, in der EU, bei Klimaabkommen und bei der WHO. Aber es gilt, in der Wertegemeinschaft zusammenzustehen – von Australien bis Irland, von Israel bis Südkorea, von Chile bis zur Ukraine –, wenn Feinde dieser Werte auf den Plan treten. Vom Despoten aus Ankara über die Giftmischer der russischen Regierung bis zu den Mördern von Dresden, Nizza und Wien – ihnen allen muss klar sein, dass wir für unsere Werte einstehen und zusammenstehen. Und nicht nur ihnen, sondern besonders auch der jungen Frau aus Adana, dem Ladenbesitzer aus Nischni-Nowgorod und der Mutter in Duisburg-Marxloh.

Nur eine wehrhafte Wertegemeinschaft ist attraktiv

Die westliche Wertegemeinschaft hat eine beispiellose Attraktivität entwickelt. Es ist an uns, diese Attraktivität am Leben zu erhalten, indem wir uns zu ihren Werten aktiv bekennen. Wenn wir hingegen unsere internen Auseinandersetzungen so führen, dass einem schließlich ein Putin oder ein Maduro näher scheint als die Kontrahenten im Land, dann zerstören wir die Zivilisation von innen. Dann siegt die politische Agenda über prinzipielle Werte. Wenige Politiker haben diesen Punkt in den vergangenen Jahrzehnten so klar und überzeugend dargestellt wie der amerikanische Senator und Präsidentschaftskandidat John McCain in seiner letzten Rede im Senat ein Jahr vor seinem Tod. Diesem eindrucksvollen Menschen, der schon 2007 forderte, dass die Demokratien in der Welt enger zusammenrücken sollten, und der in seiner Rede zur Wahlniederlage ein leuchtendes Beispiel republikanischer Gesinnung offenbarte, sollen die letzten Worte gehören. So verabschiedete er sich aus seinem Dienst im Senat:

„Inkrementeller Fortschritt; Kompromisse, die jede Seite kritisiert, aber auch akzeptiert; sich einfach durchwursteln, um Probleme in den Griff zu bekommen und unsere Feinde davon abzuhalten, schlimmen Schaden anzurichten – all das ist weder glamourös noch aufregend. Es fühlt sich nicht an wie ein politischer Triumph. Aber in der Regel ist das alles, was wir von unserer Staatsform erwarten können, in einem so diversen, streitlustigen und freien Land wie dem unseren. […]

Ich hoffe, dass wir uns wieder auf Demut verlassen können; auf die Notwendigkeit, miteinander zu kooperieren; auf die Einsicht, dass wir aufeinander angewiesen sind, um wieder zu lernen, wie wir einander vertrauen können – um so den Menschen, die uns gewählt haben, wieder besser zu dienen. Hört nicht auf die aufgeblasenen Krakeeler im Radio, Fernsehen und Internet. Zur Hölle mit ihnen. Sie wollen nicht, dass etwas getan wird, um allen zu dienen. Unsere Unfähigkeit ist ihre Lebensgrundlage. […]

Könnten wir einem bedeutsameren Ziel dienen als dem, sicherzustellen, dass Amerika auch weiterhin das starke, dynamische und inspirierende Leuchtfeuer der Freiheit bleibt, Verteidigerin der Würde aller Menschen und von deren Recht auf Freiheit und Gerechtigkeit? Das ist das Ziel, das uns verbindet, und das so viel mächtiger und würdiger ist als die kleinen Unterschiede, die uns trennen.“

Photo: Bryce Edwards from Flickr (CC BY 2.0)

Von Frederik C. Roeder, Gesundheitsökonom und Geschäftsführer des Consumer Choice Centers.

Im Jahr 2070 wird die Welt von etwa 10,5 Milliarden Menschen bevölkert sein. Das bedeutet, dass wir in der Lage sein müssen, zusätzliche 3 Milliarden Menschen zu ernähren. Glücklicherweise hat uns der technische Fortschritt in der Landwirtschaft bereits dabei geholfen, in den letzten hundert Jahren 5,5 Milliarden zusätzliche Menschen zu ernähren, ausgehend von 2 Milliarden Menschen, die 1920 die Erde bevölkerten. Nach Angaben des Welternährungsgipfels ist die Zahl der Hungernden in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen seit 1992 um über 200 Millionen von 991 Millionen auf 790,7 Millionen zurückgegangen. Forscher der Stanford University haben berechten: Wenn wir weiterhin die landwirtschaftliche Technik aus dem Jahr 1960 einsetzen würden, benötigten wir landwirtschaftliche Flächen von der Größe Russlands, des größten Landes der Welt, um die gleichen Erträge zu erzielen, die wir heute dank des Einsatzes moderner Technik brauchen. Dies ist ein großer Erfolg, stellt uns aber auch die Aufgabe, die Situation der verbliebenen Kinder und Erwachsenen zu verbessern, die immer noch täglich mit Hunger konfrontiert sind.

Leider scheint die aktuelle politische Debatte in einer der reichsten Regionen der Welt die vor uns liegenden Herausforderungen zu ignorieren. Sie zielt darauf ab, dass wir uns einer weniger effizienten Landwirtschaft zuwenden. Die Strategie Farm to Fork (F2F) der Europäischen Union will bis zum Ende dieses Jahrzehnts ein ‘nachhaltigeres’ Ernährungssystem zu schaffen. Die Ideen, die derzeit kursieren, deuten jedoch eher auf ein anderes Ergebnis hin: Nicht nur ist unklar, ob die neue Strategie nicht im Ergebnis dem Ziel der Nachhaltigkeit eher entgegenlaufen wird. Es steht auch dahin, ob damit womöglich nicht nur Europa, sondern die ganze Welt in eine Nahrungsmittelkrise mit massiven geopolitischen Auswirkungen gestürzt werden könnte.

Die EU plant, den Anteil der ökologischen Landwirtschaft an der gesamten landwirtschaftlichen Produktion von derzeit 7,5% auf 25% zu erhöhen. Zusätzlich plant sie eine Reduzierung der Pestizide um 50%. Dabei umfasst die F2F-Strategie keine neuen Technologien, die es den Landwirten ermöglichen würden, die gleichen Erträge zu erzielen, die sie mit dem derzeitigen Pestizideinsatz erzielen. Unter anderem wegen der geringeren Erträge und der daraus resultierenden Notwendigkeit, mehr Land für die landwirtschaftliche Produktion bereitzustellen, ist die biologische Landwirtschaft in der Regel ungeeignet für die Deckung des weltweiten Nahrungsmittelbedarfs.

Was bedeutet dies für die Ernährung von 10,5 Milliarden Menschen im Jahr 2070?

Mehr ökologischer Landbau in Europa bedeutet geringere Erträge und höhere Preise für Verbraucher. Die Knappheit in Europa wird wahrscheinlich durch zusätzliche Lebensmittelimporte aus anderen Teilen der Welt ausgeglichen werden. Dies wird zu einem weltweiten Anstieg der Lebensmittelpreise führen. Für wohlhabende Regionen der Welt, wie Europa, wird dies für die Verbraucher eine ärgerliche Einschränkung sein. Für Menschen, die bereits am Rande der Existenz leben und Hunger leiden, sind die Folgen katastrophal.

Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt, dass Landwirte weltweit 30 bis 40 Prozent ihrer Ernten aufgrund von Schädlingen und Krankheiten verlieren werden, wenn sie keine Pflanzenschutzmittel wie Insektizide oder Herbizide zur Hand haben. Bis zu 28 Prozent aller Leberkrebs-Erkrankungen weltweit können auf Aflatoxine, eine Mykotoxinart, zurückgeführt werden. Wenn wir den Landwirten nicht erlauben, Fungizide einzusetzen, die die Exposition des Menschen gegenüber diesen Toxinen verringern, riskieren wir weiterhin Millionen von Menschenleben.

In den letzten 100 Jahren hat sich gezeigt, dass Pestizide ein notwendiges Übel sind, um höhere und besser vorhersehbare Ernteerträge zu erzielen. In den vergangenen 60 Jahren haben wir einen Rückgang des Pestizideinsatzes pro Hektar um 40 Prozent erlebt, und viele (weniger sichere) Substanzen wurden schrittweise aus dem Verkehr gezogen. Das Aufkommen gentechnisch veränderter Nutzpflanzen und die jüngsten Durchbrüche bei der Genbearbeitung (Genschere) ermöglichen, dass wir noch weniger Chemikalien auf unseren Feldern versprühen müssen.

Etwa 20 Prozent der Weltbevölkerung lebt in Südasien. Aufgrund des indischen Kastensystems leben und bewirtschaften die Bauern der untersten Kasten Land, das mit größerer Wahrscheinlichkeit regelmäßig überschwemmt wird, was sich nachteilig auf ihre Reisernte auswirkt. Dank gentechnisch veränderter Kulturen kann der Reis bis zu zwei Wochen unter Wasser sein und dennoch hohe Erträge bieten. Solche Technologien bedeuten für die Armen und Hungrigen ein Wendepunkt. Es gibt kein humanitäres Argument gegen Gentechnik, aber ein starkes für sie.

Leider wenden sich viele Kritiker von Pestiziden auch gegen den Einsatz von Gen-Editing. Dies führt zu einem Dilemma, das letztlich zu einer verminderten Lebensmittelproduktion führt, während die weltweite Nachfrage nach Lebensmitteln weiter steigen wird. Man muss kein Wirtschaftswissenschaftler sein, um zu verstehen, dass dies zu höheren Lebensmittelpreisen führen wird.

Wir alle haben die dramatische Flüchtlingskrise im Jahr 2015 gesehen: das schreckliche Leid; ertrinkende Kinder und Frauen im Mittelmeerraum. Auch wenn die Politik der EU diese Krise nicht ausgelöst hat, könnte unsere künftige Agrarpolitik in Teilen Afrikas und Asiens weit verbreitete Hungersnöte verursachen. Sie könnten eine Migrationswelle auslösen, wie wir sie seit der Völkerwanderung im 5. und 6. Jahrhundert nicht mehr erlebt haben. Geschichte zeigt leider, dass solche massiven unkontrollierten Migrationsströme in der Regel auch mit Krieg und Unruhen einhergehen.

Die „westliche“ Idee, Landwirtschaft ökologischer zu gestalten, wird zu einer weltweiten Inflation der Lebensmittelpreise führen und denen schaden, die bereits jetzt leiden. Wir teilen in der Tat alle einen Planeten und brauchen daher eine vernünftige Lebensmittelpolitik, die anerkennt, dass Hunger immer noch ein Problem ist, mit dem 10 Prozent der Weltbevölkerung täglich konfrontiert sind. Eine substantielle Anpassung der künftigen Agrarpolitik der EU ist nötig, um Armut und Hunger zu mildern. Die „Farm to Fork“-Strategie der EU muss dem Rechnung tragen und darf unsere Fähigkeit, eine ständig wachsende Bevölkerung zu ernähren, nicht gefährden.