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In den beiden bevölkerungsreichsten Städten der Schweiz und Deutschlands wurde am vergangenen Sonntag gewählt: In Zürich wurden Kantonsrat und -parlament neu gewählt, in Berlin fand die Wiederholungswahl des Abgeordnetenhauses und der Bezirksvertretungen statt. Da bietet es sich an, den Blick auf das politische System unserer Nachbarn zu richten und die Frage zu stellen, was wir von der Schweiz womöglich noch lernen könnten.  

Die deutsche Parlamentskultur ist davon bestimmt, dass Koalitionsregierungen von Parteien gebildet wird. Das führt tendenziell zur Bildung von konfrontativen Lagern zwischen Regierung und Opposition, und damit zu parteipolitischen Gerangeln. 

Diese machtpolitischen Manöver beschneiden jedoch das Gewicht der Parlamentarier: Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass die Abgeordneten in ihren Entscheidungen oftmals gar nicht so frei sind von dem Einfluss der Regierung. Der De-facto-Fraktionszwang und eine geringe Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen führen dazu, dass die Koalitionsparteien ihre Abgeordneten im Griff haben. Für die Exekutive ist das bequem, denn sie muss nicht mit Widerstand aus den eigenen Reihen rechnen, wenn es darum geht, Mehrheiten zu organisieren.  

Im politischen Wettbewerb führt dies dazu, dass die Exekutive der Legislative mehr oder weniger direkt vorgeben, was zu tun ist, damit das eigene Team gewinnt. Die Relevanz dieser Strategie wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass der Bundeskanzler oftmals auch das Amt des Parteivorsitzenden innehat. In der Bundesrepublik hat das Tradition: Adenauer, Kiesinger, Brandt und Kohl waren ihre gesamte Kanzlerschaft über auch Parteivorsitzende, Schröder die ersten sechs und Merkel die ersten 13 Jahre. Und viele Parteivorsitzende bewarben sich um die Kanzlerschaft. 

Dadurch wird die Arbeit der Exekutive unvermeidlich politisiert. Bei einigen Abstimmungen wissen die Abgeordneten sehr genau, dass es weniger um das Thema als vielmehr um das Fortbestehen der Regierung geht. 

So kam es zum Beispiel bei der Abstimmung über das dritte Hilfspaket für Griechenland während der Eurokrise 2011, welche etliche Abgeordnete der schwarz-gelben Koalition nicht mittragen wollten, zum Eklat: Abweichlern wurde damals angedroht, dass sie nicht im Haushalts- oder Europaausschuss bleiben könnten. Sie wurden öffentlich von Fraktionsvorsitzenden desavouiert und moralisch ins Zwielicht gerückt. 

Ähnlich verhielt es sich 2001 in der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder bei der Abstimmung über die umstrittene Bundeswehrbeteiligung am Antiterror-Kampf in Afghanistan. Schröder wurde seitens der Opposition damals ein „Koalitionsmachtspiel“ und „Nötigung des Parlaments“ vorgeworfen.   

Dieses parteipolitischen Taktieren beschädigt jedoch die Kontroll-Funktion des Parlaments. Wenn das Regierungslager den zugehörigen Abgeordneten vorgibt, wie sie abzustimmen haben, damit eine Koalition nicht scheitert, wird die Legislative Opfer der Machtspielchen der Exekutive. Abweichende Meinungen haben es schwer. Für potenzielle Abweichler bedeutet Widerstand dann oftmals Druck und Ausgrenzung aus den eigenen Reihen.   

Das Parlament büßt damit an politischem Gewicht ein, da es de facto zum Fraktionszwang für die Abgeordneten kommt.  

Eigentlich garantiert das Grundgesetz den Bundestagsabgeordneten ausdrücklich ein „freies Mandat“ (Artikel 38). Die Abgeordneten sind damit nur ihrem Gewissen verpflichtet und nicht an Weisungen gebunden, weder von außerhalb noch von innerhalb des Parlaments. Das scheint man in der politischen Arena gerne zu vergessen. Lediglich heikle ethische Fragen werden zur Gewissensfrage erklärt: der Fraktionszwang ist dann aufgehoben und die Abstimmung dazu freigegeben. Das spiegelt wider, dass fraktionskonformes Abstimmen zum politischen Alltag in Berlin gehört – und impliziert, dass die anderen Abstimmungen dann zumindest weniger frei sind. Das führt den Parlamentarismus ad absurdum. Die parlamentarische Demokratie ist das politische System der Freiheit. Wenn die Mandatsträger der Kontrolle der Regierung nicht effektiv nachkommen können, drängt sich noch mehr die Frage auf, wozu wir überhaupt eines der größten Parlamente der Welt unterhalten. Würden es da nicht eine Handvoll Vertreter pro Fraktion tun? 

Der Blick zu unseren Schweizer Nachbarn lohnt sich: auf deren Exekutive und Legislative, Bundesrat und Bundesversammlung. 

Die Bundesversammlung ist das Parlament der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Es besteht aus zwei Kammern: dem Nationalrat und dem Ständerat. Beide Kammern haben die gleichen Befugnisse, sie haben aber unterschiedliche Zusammensetzungen und Verfahren. Der Nationalrat wird direkt vom Volk gewählt und hat 200 Mitglieder, während der Ständerat aus 46 Mitgliedern besteht, die von den Kantonen gewählt werden. Die Aufgaben der Bundesversammlung sind die Vertretung des Volkes, die Gesetzgebung, die Genehmigung des Bundeshaushalts sowie die Kontrolle und Wahl des Bundesrates.  

Der Bundesrat bildet die Exekutive und setzt sich zusammen aus den im Parlament vertretenen großen Parteien. Er besteht aus sieben Mitgliedern, führt die Geschäfte der Regierung und setzt die vom Parlament beschlossenen Gesetze um. Die großen Parteien haben nach Proporz einen oder zwei Sitze für den Bundesrat zu vergeben. Somit bleibt gewährleistet, dass alle (größeren) Parteien in der Regierung partizipieren.  

Jedes Mitglied des Bundesrates ist zudem für ein bestimmtes Regierungsressort verantwortlich, und die Regierungsgeschäfte werden kollektiv geführt. Die Bundesräte können deswegen nicht nur gegeneinander arbeiten, sondern müssen sich stets um einen Konsens bemühen, der wiederum eine mehrheitsfähige Entscheidung im Parlament ermöglicht. Das erleichtert eine überparteiliche, konstruktivere Zusammenarbeit innerhalb der Regierung. Vor allem aber ist die Regierung in der Bringschuld gegenüber dem Parlament, denn sie muss aktiv mit ihren Vorschlägen auf das Parlament zugehen und die Parlamentarier von der jeweiligen Maßnahme überzeugen.  

Die Parlamentarier bringen selbstverständlich gewisse ideologische Voreinstellungen mit, die sich beispielsweise aus ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit ergeben. Trotzdem können sie viele andere Interessen vertreten, die eben nicht davon abhängig sind, was ihnen ihr Partei- und Regierungschef vorgibt. Die Abgeordneten können ihr persönliches Gewicht in die politische Waagschale werfen und so effektiv regionale und ideologische Belange vertreten. Das kann dann dazu führen, dass sich unterschiedliche Meinungen innerhalb einer Partei wiederfinden – und im Parlament auch zum Ausdruck kommen können. Genau diese politische Kultur sichert dem Parlament seine eigentliche Kontrolle.  

In Deutschland verkommt das Parlament mit der bestehenden Kultur wahlweise zu einer Zustimmungs- oder Schimpfvereinigung. Eigentlich sollte die Regierung mit Inhalten, Vorschlägen und Kompromissen an das Parlament herantreten, um Mehrheiten zu gewinnen. Wenn die Exekutive allerdings bereits im Vorfeld mit einer mehrheitlichen Zustimmung der Abgeordneten rechnen kann, verkümmert die politische Debatte: Gesetze können im Hauruck-Verfahren durchgezogen werden. Dabei bleibt kein Raum für konstruktive Zusammenarbeit und Beratungen wichtiger Fragen zwischen Legislative und Exekutive, also die parlamentarische Kontrolle. Damit bleibt den Parlamentariern der Regierungsfraktionen nur, immer brav die Hand zu heben, während die Opposition pauschal alles von der Regierung vorgeschlagene ablehnen wird. 

Für den politischen Betrieb und auch für das Vertrauen der Bürger in die Politik ist das langfristig beschädigend. Das Schweizer Modell ist freilich nicht eins zu eins auf Deutschland übertragbar. Trotzdem bleibt die Frage, was getan werden kann, um die politische Kultur wieder in Richtung eines ausgeglicheneren Machtverhältnisses zwischen Exekutive und Legislative zu bewegen. Unserer Exekutive würde weniger Selbstherrlichkeit gut anstehen. Anstatt Mehrheiten über den Fraktionszwang zu erzwingen, sollten eine konstruktive Zusammenarbeit und Kompromissbereitschaft im Fokus stehen, um mit Inhalten Mehrheiten im Parlament zu überzeugen. Gleichzeitig gehen immer wieder einzelne Abgeordnete mit gutem Beispiel voran und leben vor, wie man sich den Koalitionsmachtspielen widersetzen kann. Einzig die Abgeordneten haben die Macht, die Regierung zu kontrollieren und in die Schranken zu weisen – dazu darf das Parlament ruhig mit mehr Selbstbewusstsein stehen. 

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Häufig sind scheinbare Zwänge nur die Folge individueller Prioritätensetzung. Das zeigen die Debatten über „bezahlbare“ Wohnungen und stagnierende Löhne – und die Geschichte des Bostoner Barbiers Leo, der seinen amerikanischen Traum lebt.

Leo, der Bostoner Barbier

Seit Kurzem wohne ich in Boston. Wie in jeder neuen Stadt, in die ich ziehe, ging ich direkt und voller Hoffnung auf ein langfristiges Vertrauensverhältnis auf die Suche nach einem neuen Barbier. Schließlich haben Barbiere für mich einen ähnlichen Stellenwert wie für manch andere der seit der Kindheit bekannte Zahnarzt. Dabei lernte ich Leo kennen. Leo ist nicht nur ein ganz wunderbarer Barbier, er erzählte mir auch eine erstaunliche Lebensgeschichte. Im Herbst 2019 kam er aus Brasilien in die USA. Ohne ein Wort Englisch zu sprechen und mit seinen zwei Kindern und seiner Frau im Schlepptau. Leo erwischte einen grauenhaften Start im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, denn kurz nach seiner Ankunft begann die Covid-Pandemie. Nichts mit Barbier. Er verdingte sich als Landschaftsgärtner und Bauarbeiter, lernte abends in Online-Kursen Englisch. Schließlich fand er einen Job als Barbier bei mir um die Ecke. Geschlagene zwei Auto-Stunden von seinem Wohnort entfernt und mit 12-Stunden-Schichten. Doch während des Erzählens grinste Leo wie ein Honigkuchenpferd. Er ist glücklich, dass er jeden Tag seiner Leidenschaft nachgehen kann, im Grünen wohnt, und seinen Kindern auch noch eine Zukunft in den USA ermöglicht. Eine Lehrstunde in Sachen Prioritätensetzung.

Prioritätensetzung – Eine vergessene Kunst des Menschen

Güter sind begrenzt, Bedürfnisse sind unendlich. Das ist vielleicht der grundlegendste Satz der Ökonomik. Und er gilt unabhängig vom Vermögen. Zwar erweitern sich die ökonomischen Möglichkeiten mit steigendem Einkommen sukzessive. Aber selbst ein Elon Musk kann nicht alles haben. Mit wachsender Güterausstattung verschieben sich nur die Ziele und Möglichkeiten. Während Otto Normalbürger vielleicht von einer Wohnung auf Mallorca träumt, träumt Musk von einer Kolonie auf dem Mars.

Dass Güter im Gegensatz zu Bedürfnissen begrenzt sind, ist der Ursprung allen ökonomischen Handelns. Es ist der Grund, warum Adam Smith der menschlichen Natur „the propensity to truck, barter, and exchange“ (die Neigung zum Handeln, Verhandeln und Tauschen) zuschreibt. Denn wir versuchen stets, unsere ökonomische Ausgangsposition zu verbessern. Und am besten geht das nun mal in Kooperation mit anderen. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass jeder Mensch auf der Welt das Leben von Elon Musk führen möchte. Denn während Güterknappheit universell ist, sind Präferenzen individuell. Es gibt keine zwei Menschen auf der Welt mit den exakt gleichen Präferenzen.

Die Quintessenz ist, dass Menschen, ob sie es wollen oder nicht, permanent ökonomisch handeln. Auf Grundlage der uns zur Verfügung stehenden Güter und unserer Präferenzen treffen wir eine Myriade von Entscheidungen. Dabei setzen wir Prioritäten. Die wohl bekannteste Form der Prioritätensetzung ist das Sparen. Wir verzichten auf gegenwärtigen Konsum von Gut X, um uns in der Zukunft Gut Y leisten zu können. So profan das klingt, es ist eine faszinierende menschliche Eigenschaft. Versuchen Sie diesen Gratifikationsverzug mal ihrem Hund oder ihrem zweijährigen Kind beizubringen. Ebenso viel Verständnis für das Thema Prioritätensetzung wie bei diesen Lebewesen findet sich leider derzeit in den deutschen Debatten um Mietpreise oder Reallohnstagnation.

„Bezahlbare“ Wohnungen: Lage kostet!

„Suche: 3 Zimmer Altbauwohnung, top saniert, im Zentrum von Berlin, ruhig, in der Nähe guter Schulen und mit guten Einkaufsmöglichkeiten, nicht mehr als 1.000 Euro warm“. Selbst Nicht-Berliner werden wissen, wie utopisch dieses Wohnungsgesuch ist. Denn die Nachfrage nach Wohnungen dieser Art (sollte es sie überhaupt geben) ist derart groß, dass die Gütermenge, die die wohnungssuchende Person bereit ist, dafür einzutauschen (1.000 Euro pro Monat), viel zu gering ist. Sicher, viele Berliner Familien, die verzweifelt nach Wohnungen suchen, haben weitaus weniger weltfremde Vorstellungen.

Was allerdings oft bei der gesamten Diskussion um „bezahlbare“ Wohnungen in Vergessenheit gerät: Standort ist einer der zentralen Faktoren für die Bestimmung der Miete. Schließlich wäre im Zentrum von Frankfurt (Oder) eine solche Wohnung zu einem solchen Preis vermutlich zu bekommen. Wer in Friedrichshain, Mitte oder Schöneberg leben will, der setzt eine (große) Priorität auf den Standort seiner Wohnung und muss dafür vielleicht auf andere Dinge verzichten. Dass viele andere Menschen das derzeit auch machen und es deshalb immer teurer wird, ist für den Einzelnen bitter. Gerade, wenn er sich aufgrund der hohen Nachfrage das zentrale Wohnen überhaupt nicht mehr leisten kann. Deshalb aber zu fordern, dass durch politische Eingriffe die Preise für Wohnungen in exklusiven Lagen gesenkt werden, wäre genauso wie zu fordern, Jugendstilvillen in Berliner Vororten „bezahlbar“ zu machen.

Wohnen ist wie jede andere ökonomische Entscheidung eine Frage der individuellen Möglichkeiten und der Prioritätensetzung. Und Lage kostet nun mal. Ebenso wie Größe, Balkone oder ebenerdige Duschen. Andersherum gilt: Der Prenzlauer Berg in Berlin oder Eppendorf in Hamburg hätten niemals eine so beispiellose Aufwertung erfahren, hätte Prioritätensetzung (günstige, gut gelegene, aber dafür heruntergekommene Wohnungen) nicht irgendwann viele neue Bewohner in die Quartiere gespült. Tatsächlich egalisiert der Wohnungsmarkt mit seinem Priorisierungsdruck und wertet immer wieder neue Viertel auf, anstatt bestehende Unterschiede zu manifestieren.

Reallohnstagnation: Deutschland ist das Land des Freizeitreichtums

Zweites Beispiel: Reallohnstagnation. 1994 war das reale Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland in etwa so hoch wie in den USA. Seitdem ist es in Deutschland kaum gewachsen, in den USA hingegen gewaltig. Mittlerweile liegt das kaufkraftbereinigte Einkommen des durchschnittlichen US-Amerikaners rund 20 Prozent über dem eines Deutschen. Das nominale (also nicht bereinigte) Einkommen ist sogar ganze 20.000 US-Dollar pro Jahr höher. Wie ungerecht! Das riecht nach Ausbeutung.

Gleichzeitig werden in kaum einem anderen Land so wenige Stunden pro Jahr gearbeitet, wie in Deutschland. 35-Stunden-Woche und durchschnittlich 32 Urlaubstage im Jahr lassen grüßen. Zum Vergleich: Der durchschnittliche US-Amerikaner nimmt pro Jahr 10 Tage bezahlten Urlaub und arbeitet aufs Jahr gerechnet ganze 400 Stunden (1765 vs. 1354) mehr! Seit 1994 arbeiten Amerikaner im Schnitt 50 Stunden pro Jahr weniger, Deutsche dafür fast 200.

Natürlich sind die Gründe für die Reallohnstagnation nicht eindimensional. Explodierende Lohnnebenkosten und Überregulierung des Arbeitsmarktes spielen mit Sicherheit auch eine Rolle. Dennoch schafft es kaum ein anderes Land, das nicht über extensive Rohstoffvorkommen verfügt, mit so wenig Arbeitszeit so viel Einkommen zu erwirtschaften. Der Reallohn mag seit geraumer Zeit stagnieren, aber auch das ist eine Frage der Prioritätensetzung. Der durchschnittliche Deutsche priorisiert mehr Freizeit über mehr Geld.

Von Leo lernen heißt glücklich sein

Ja, man kann nicht alles haben. Und das ist manchmal frustrierend. Aber häufig sind es keine bösen Mächte oder perversen Märkte, die einen in einen bestimmten Zustand zwingen. Man ist es selbst. Leo der Barbier fährt jeden Tag 4 Stunden Auto, weil die Mieten in Boston im Vergleich astronomisch sind und er gerne im Grünen wohnt. Dann arbeitet er 12 Stunden, um seinen Kindern eine Zukunft zu ermöglichen und weil er seinen Job liebt. Er weiß, warum er das macht, und ist damit glücklich. Er hätte auch in Brasilien bleiben können und müsste sich dann wenigstens nicht mit dem eiskalten Bostoner Winter herumschlagen. Er hat eine Entscheidung getroffen und übernimmt Verantwortung dafür. Wer angesichts ökonomischer Zwänge immer gleich nach Vater Staat ruft, gibt die Verantwortung für die eigenen Entscheidungen und die daraus entstehenden Konsequenzen Schritt für Schritt ab. Das macht nicht nur ohnmächtig, es macht auch unheimlich traurig.

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Was als Titel eines Artikels dramatisch klingen mag, ist in der Realität eine ernstzunehmende Gefahr für den politischen Liberalismus.

Beim Blick auf die mediale Darstellung von Kapitalisten und Sozialisten, sticht ein recht eindeutiges Sympathiegefälle ins Auge: Die Figur des Kapitalisten wird häufig als egoistischer Geizhals porträtiert, der naturgemäß die Rolle des Bösewichts einnimmt. Die Figur des Sozialisten hingegen hat reine Intentionen, kämpft selbstlos für das Wohl Anderer und will natürlich auch nach dem Happy End keinen Cent als Gegenleistung für seine Taten sehen. Solche Stereotype lassen sich leicht vermitteln und wunderbar für Geschichten jeder Art verwenden, vom Märchen bis zum Disney-Film. Dabei kann nur ein verhaltener Vorwurf gegenüber den Schriftstellern, Drehbuchautoren und Regisseuren gemacht werden. Manche von ihnen mögen nur ihre Chance auf ein erfolgreiches Werk erkennen, weil auch sie verstehen, dass ein Großteil der Bevölkerung auf solch klare Zuschreibung von Eigenschaften anspringt. Andere wiederum stehen wirklich hinter dem Sozialismus. Unabhängig von ihren Beweggründen sind wir es, die sich die Aufgabe zu Eigen machen müssen, ein besseres und überzeugenderes Narrativ zu etablieren.

Zudem sind die Vorstellungen, dass Besitz die Folge moralischer Verkommenheit sei, bereits Jahrtausende alt. Jedes Kind kennt den feuerspeienden Drachen, der seine Massen von Gold bewacht. Wohl jedes zweite Kind kennt die Geschichten von Dagobert Duck, einem Enterich aus den Mickey Maus Comic-Büchern, der einen großen Raum voll Geld besitzt und gern mal in seinen Taler-Bergen badet. Und auch die Zahnfee ist laut dem Forbes Magazin eine der reichsten fiktiven Personen – mit einem Vermögen von geschätzten 3,9 Milliarden US Dollar. Natürlich tritt nicht jeder, der einmal Mickey Maus gelesen hat, der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands bei. Es wäre jedoch ein Fehler zu unterschätzen, wie stark diese Narrative Einfluss auf die Meinungsbildung von Menschen nehmen können.

Wirklich deutlich wird das, wenn man mit den meisten Menschen über die Besteuerung von Superreichen wie zum Beispiel Elon Musk diskutiert. Nicht selten kommt in solchen Gesprächen die Frage auf, wieso man Musks Geld nicht einfach wegnehmen könne, um es umzuverteilen. Lassen wir die Missachtung von Eigentumsrechten einmal außen vor, verblüfft an dieser Stelle auch immer wieder die schiere Unwissenheit darüber, dass Elon Musk nicht sein gesamtes Vermögen als Scheine in einem Tresor stapelt. Der größte Teil davon existiert als Unternehmensanteil und kann nicht mal eben liquidiert werden. Wenn nun aber einmal eine negative Darstellung vieler Kapitalisten in Literatur und Film existiert und wir nicht das Risiko eingehen wollen, aus Versehen Motive wie Geiz und Gier anzupreisen, müssen wir uns möglicherweise eingestehen, dass wir schlichtweg keine wahrhaft liberalen Helden haben… oder?

Eine bekannte Geschichte, die mich als Kind besonders begeisterte, ist die von Robin Hood. Ich sah ihn als Helfer in Not, als wahren Idealisten, als mutigen Kämpfer für die Gerechtigkeit. Und später als offensichtlichen Sozialisten, der umverteilte, was es umzuverteilen galt. Erst vor kurzem entdeckte ich die Geschichte für mich neu und verstand, dass Robin Hood lediglich die viel zu hohen Steuergelder aus den Schatztruhen und Geldspeichern des englischen Königs zurückeroberte, die dieser zuvor gewaltsam von den ohnehin schon schuftenden einfachen Leuten eingetrieben hatte. Er gab den Menschen das hart erarbeitete Geld zurück, das ihnen rechtmäßig zustand. Nix mit Umverteilung! Robin Hood sollte als ein Pionier im Kampf für Eigentumsrechte, Freiheit und schließlich auch Marktwirtschaft gefeiert werden. Ein Liberaler wie er im Buche steht. Doch kaum jemand sieht so eine berühmte Figur als Liberalen – bei diesem konkreten Beispiel haben die Sozialisten die Geschichte für sich beansprucht. Wie könnte auch ein gutherziger Liberaler, mehr noch, ein gutherziger „Kapitalist“ ein Held des Volkes sein?  Man müsste seine Vorurteile gegenüber Liberalen ablegen und einsehen, dass Wohlstand für alle kein egoistischer Akt ist, um Robin Hood als liberalen Freiheitskämpfer anpreisen zu können.

Sind nun alle sozialistischen Helden nur verkannte Liberale? Es würde uns auf jeden Fall guttun, einige altbekannten Interpretationen von Helden – und Bösewichten – zu hinterfragen. Und noch was: Wir sollten den Mut haben, neue Helden zu kreieren. Denn am Ende denkt der Mensch in Geschichten. Sie sind die Brille, durch die wir täglich die Welt wahrnehmen und einordnen, sie beeinflussen, wen wir lieben, und können sogar über Krieg und Frieden entscheiden. Machen wir also den Mund auf und nehmen wir den Stift in die Hand, wann immer wir können! Bei unserem Kampf für eine offenere, freiheitlichere Gesellschaft brauchen wir nicht nur liberale Denker, sondern vor allem liberale Erzähler. Und bringen Sie ihren Kindern bei, die Zahnfee sei eine von uns.

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Politische Maßnahmen folgen häufig einer Wunschvorstellung. Sei es bei der Familienpolitik, der Drogenpolitik oder auch der Wirtschaftspolitik. Politiker und Politikerinnen haben eine fast schon bildliche Vorstellung davon, wie beispielsweise ein Idealtyp einer Familie oder eines Unternehmers aussehen muss. Nicht zuletzt zeigt sich diese Visualisierung der politischen Ideale alle paar Jahre, wenn Wahlen anstehen und die Straßen von Wahlplakaten gesäumt sind, auf denen die verheißene Idealwelt abgebildet wird. Von wohl kaum einem anderen Bereich besteht eine so ausgeprägte visuelle Vorstellung wie von der Landwirtschaft. Grasende Kühe, freilaufende Schweine, dort der Bauer, da die Bäuerin und am besten noch ein paar Hühner. Dass die Realität diesem kleinbäuerlichen Bullerbü nicht entspricht, muss nicht erwähnt werden. Politische Maßnahmen zielen jedoch auf dieses vermeintliche Idealbild ab. Die Subventionierung landwirtschaftlicher Betriebe hat in der Europäischen Union und insbesondere auch in Deutschland eine lange Tradition. Während es bei Einführung der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) darum ging, ausreichend günstige Lebensmittel zu produzieren und Landwirten ein gesichertes Einkommen zu garantieren, werden inzwischen die Subventionen immer mehr an Bedingungen geknüpft: Um Landwirte nach bestimmten Bewirtschaftungsformen arbeiten zu lassen oder auch, um bestimmte Strukturen aufrecht zu erhalten. Immerhin machen die Subventionen der GAP je nach Bundesland bis zur Hälfte des Einkommens aus.[1] Doch ist es richtig, einer ganzen Branche mehr oder weniger vorzugeben, wie sie zu wirtschaften hat? Ist es richtig, womöglich künstlich Geschäftsmodelle am Leben zu halten?

Mit dem Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine im Februar dieses Jahrs hat sich für den landwirtschaftlichen Sektor vieles verändert. Die Ukraine als eine der größten Exporteure für landwirtschaftliche Erzeugnisse leidet stark unter den Angriffen und viele Teile der landwirtschaftlichen Infrastruktur sind zerstört worden. Die Blockade der Seewege durch das russische Militär erschwert und verunmöglicht den Export. Infolgedessen sind die Weltmarktpreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse stark angestiegen. Aber nicht nur auf den Agrarmärkten gab es Veränderungen, die Auswirkungen auf den Landwirtschaftssektor haben, sondern insbesondere auch auf den Energiemärkten. Denn neben der Produktion von Lebensmitteln zählt auch die Produktion von Energie zu einem Standbein der Landwirtschaft, welches das Potenzial hat, wesentlich zur Energieversorgung beizutragen. Ein konkretes Beispiel ist Dänemark. 30% des Methangases in Dänemark wird aus Biogas gewonnen. In Deutschland werden durch diese Form der Biogasnutzung nur etwa 1% des Methangases bereitgestellt. Wie kommt es zu dieser großen Differenz? Im Gegensatz zu Deutschland hat Dänemark auf Großanlagen gesetzt, während man in Deutschland auf Kleinanlagen und komplizierte Förderungen durch das EEG gesetzt hat. Nun zeigt sich, dass die Unternehmen in Dänemark, welche die Anlagen betreiben, über die Jahre deutlich größere Kapazitäten haben aufbauen können. In Deutschland hingegen flammt die Tank-statt-Teller-Diskussion einmal mehr auf und Vorbehalte gegen Biogasanlagen werden geschürt, indem ein undifferenzierter Vergleich von Brotgetreide und Energiepflanzen vorgenommen wird.

Nicht dass skandinavische Staaten dafür bekannt sind, Unternehmen möglichst frei von Staatseingriffen zu halten.[2] Aber in Bezug auf das typische Idealbild der Landwirtschaft und den Innovationsgrad der dort angesiedelten landwirtschaftlichen Unternehmen besteht ein deutlicher Unterschied zwischen Deutschland und Dänemark, welcher nun zeigt, dass kleinbäuerliche Strukturen nur mit höherem Aufwand in der Lage sind, gebündelt zu agieren, um eine ähnliche Rolle in der Energieversorgung zu spielen. Insbesondere dann, wenn aufgrund politischer Ideale Innovationen und Expansion nicht gewollt ist, weg vom russischen bzw. fossilen Erdgas zu kommen, indem mehr Biogas in das Netz eingespeist wird.

Was hätte also besser gemacht werden können? Unternehmen sollten nicht danach gefördert werden, ob sie einem politischen Idealbild entsprechen. Im Gegenteil: Unternehmerische Vielfalt, auch in der Landwirtschaft, fördert den Wettbewerb. Dabei ist es zweitrangig, wie groß das Unternehmen, wie alt dieses ist oder ob es die bestehenden Strukturen aufbricht und Neues wagt. Vielmehr sollte ein ebenbürtiges Spielfeld geschaffen werden, auf dem sich sowohl neue und bestehende Akteure begegnen können, sodass der/die Bessere gewinnen möge. Dazu gehört auch, dass es Verlierer geben muss, die eine Niederlage akzeptieren und ihr Feld räumen, anstatt dass politische Ideale künstlich am Leben gehalten werden.


[1] https://www.agrarheute.com/management/finanzen/direktzahlungen-subventionen-bekommen-bauern-meisten-581147#:~:text=Nach%20den%20Daten%20des%20BMEL,des%20b%C3%A4uerlichen%20Einkommens%20aus%20Subventionen.

[2] Sanandaji, Nima, Scandinavian Unexceptionalism: Culture, Markets and the Failure of Third-Way Socialism (June 23, 2015). Institute of Economic Affairs, Monographs, Available at: http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3895124.

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Die Preise für Lebensmittel sind im vergangenen Monat um 11,1 Prozent gestiegen. Wir spüren das beim Kauf von Butter, Milch und anderen Grundnahrungsmitteln. Natürlich ist die Grundlage für diese Inflation bei der Geldpolitik zu suchen. Ansonsten würden ja bei gleicher wirtschaftlicher Lage die Preise an anderer Stelle sinken. Doch das tun sie nicht. Die Preise steigen insgesamt an. Der breite Warenkorb des Statistischen Bundesamtes hat im vergangenen Monat einen Anstieg von 7,9 Prozent errechnet. Daher ist klar, dass die Pandemie und der Ukraine-Krieg zwar die Lieferketten unterbrochen haben, aber dies nicht die Ursachen der Inflation sind. Die Ursache liegt im aufgestauten Geldüberhang der EZB, der jetzt auf eine Angebotsverknappung trifft. So kommt der Geldüberhang bei den Konsumgüterpreisen an und trifft die breite Masse der Bevölkerung.

Doch was kann in einer solchen Situation getan werden? Natürlich muss die EZB, so bitter diese Entwicklung für die am Tropf der billigen Zinsen hängenden Banken, Industrie und Häuslebauer ist, die Zinswende einleiten. Sie hätte es längst tun müssen. Aber auch andere können etwas tun. Die EU-Kommission könnte einseitig die Zölle auf Milcherzeugnisse, Fleisch, Getreide und Zucker abschaffen oder zumindest aussetzen. Trotz drohender Versorgungsprobleme durch den Ukraine-Krieg erhebt die EU Zölle von über 50 Prozent auf diese wichtigen Lebensmittel und verteuert damit zusätzlich die Preise. Gleichzeitig sorgt die EU mit ihrem Flächenstilllegungsprogramm in der Landwirtschaft dafür, dass auf 3 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen nicht mehr angebaut werden kann. Deutschland hat dies sogar auf 4 Prozent ausgeweitet. Der Abbau von 4 Prozent landwirtschaftlicher Fläche beträgt umgerechnet rund 4 Millionen Hektar Produktionsfläche. Dies entspricht dem Importbedarf an Weizen von Ägypten, Äthiopien, Marokko, Südafrika und Tunesien, der in der Vergangenheit im Wesentlichen aus Russland und der Ukraine bedient wurde. Jetzt droht in Afrika eine Hungerkatastrophe.

Eine Antwort auf diese Entwicklung ist also der Abbau von Handelsbeschränkungen. Dies muss ohne Tabus und Partikularinteressen erfolgen. Wir brauchen mehr Freihandel und mehr Globalisierung. Deutschland könnte damit anfangen und endlich das bilaterale Handelsabkommen mit Kanada (CETA) ratifizieren und gleichzeitig der Welthandelsorganisation WTO neues Leben einhauchen. Der Westen muss mit mehr Kooperation untereinander auf die Zeitenwende durch den Angriffskrieg Putins auf die Ukraine reagieren. Ansonsten sind die ökonomischen und humanitären Folgen verheerend.

Vielleicht sollte sich der Westen am ersten Freihandelsabkommen der Neuzeit ein Beispiel nehmen. 1860 haben Frankreich und England das erste Freihandelsabkommen geschlossen, bei dem England einseitig auf alle Zölle und Handelsbeschränkungen verzichtet hat. Der Initiator dieser Freihandelsbewegung, der Liberale Richard Cobden, schaffte es, diese Freiheitsidee nicht nur in England zu verbreiten, sondern in der ganzen Welt. Ohne ihn hätte es die Globalisierung, die internationale Arbeitsteilung und den wachsenden Wohlstand des späten 19. Jahrhunderts in dem Ausmaß nicht gegeben. Bei allen Rückschlägen, die wir aktuell durch den Angriffskrieg auf die Ukraine erfahren, ist die Idee des Freihandels aktueller denn je. Die Abschottung und die Rückabwicklung führen nicht zu einer friedlicheren Welt, ganz im Gegenteil. Und deshalb ist das, was Richard Cobden bereits im April 1842 schrieb, immer noch richtig. „Der Freihandel wird unweigerlich, indem er die wechselseitige Abhängigkeit der Länder untereinander sichert, den Regierungen die Macht entreißen, ihre Völker in den Krieg zu stürzen.“