Photo: Chemie-Verbände Baden-Württemberg from Flickr (CC BY 2.0)

Dieser Artikel erschien erstmals am 23. November 2020 in der Welt und bildet den Auftakt zu unserem inhaltlichen Schwerpunkt zu Schulautonomie.

Das jüngste Bildungsbarometer des ifo Instituts hat es einmal wieder deutlich gezeigt: Die Mehrheit der Deutschen wünscht sich mehr Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit in der Bildung. Die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz im Oktober folgen gehorsam diesem Trend – selbst die üblichen Rebellen aus den Freistaaten und Bildungs-Champions Sachsen, Bayern und Thüringen scheren nicht mehr aus. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe jubelt, dass die Zeit der „pädagogischen Freihändigkeit“ vorüber sei. Es müssten also goldene Zeiten bevorstehen für die Bildungsrepublik Deutschland. Zumindest solange nicht die Grabenkämpfe ausbrechen, wenn den Schulen dann bundesweit vorgegeben wird, welchem politischen Trend sie jetzt zu folgen haben …

Bildung ist einer der am stärksten politisierten Bereiche in unserem Land, auch weil hier mitunter die letzten Bastionen liegen, die von den Ländern noch bestückt werden können. Besonders aber, weil man hier langfristig Einfluss ausüben kann: Wie viel Widerstand gegen Kernenergie kam durch die Schullektüre von Gudrun Pausewangs „Die Wolke“ zustande? Wie viel der Regierungskontinuität in Bayern lässt sich darauf zurückführen, dass die bayerischen Gymnasien über Jahrzehnte hinweg erfolgreich vorgebildete Redeakteurinnen, Ministerialbeamte und Kommunalpolitiker produzierten?

Die ideologischen Grabenkämpfe werden erbittert geführt: von G8 oder G9 über Digitalisierung, Inklusion und Schulformen bis hin zu Sexualaufklärung und Kopftüchern. Zugleich wird Bildung von verschiedensten politischen und medialen Akteuren als Allzweckwaffe angepriesen: sie soll unsere Zukunftsprobleme lösen; sie soll uns zu besseren Bürgern und gesünderen Menschen machen; sie soll Ungleichheit beseitigen und Integration ermöglichen. Aus der Sicht der politischen Akteure ist das ein dankbares Spielfeld: Je mehr externe Ziele mit dem Bildungssystem in Verbindung gebracht werden, desto mehr Anlässe hat man, es zu kontrollieren; oder wenn man in der Opposition sitzt: desto leichter fällt es, drohendes Unheil an die Wand zu malen.

In einem sind sie sich aber alle dann doch einig: Man muss das regeln! Bildung, heißt es dann im gravitätischen Duktus verfassungstheoretischer Diskurse, sei ja schließlich eine Kernaufgabe des Staates. Wer dieses Paradigma hinterfragt, erntet mitunter Reaktionen, als ob er sich als Reichsbürger oder Salafist geoutet hätte.

Doch was würde denn eine Entstaatlichung der Bildung bedeuten? Zuvorderst würde es eine Verschiebung von Verantwortung implizieren: Weg aus den Ministeriumsbüros und den Schulamtsstuben – hin zu denen, die dafür ausgebildet wurden, und zu denen, die davon betroffen sind. Heute entscheiden einige wenige Ministerialräte und Regierungsdirektoren über Schulen in Steglitz, Neukölln, Reinickendorf und Marzahn; in Bad Honnef, Duisburg, Stemwede und Bochum. Wie soll das sinnvoll möglich sein? – Ganz abgesehen davon, dass diese Diskurse natürlich in den meisten Fällen vor dem Erfahrungshorizont von Menschen stattfinden, die, aus einem Akademikerhaushalt stammend, nach dem Abitur in die Universität und von dort stramm weiter in Politik, Bürokratie oder Medien durchmarschiert sind.

Statt des Bildungszentralismus, der im Augenblick in Mode ist, sollte man geradewegs in die andere Richtung denken und dann auch laufen: Hin zu viel mehr Verantwortung für die Schulen, für Direktorinnen, Lehrer, Eltern und Schülerinnen. Oder wie man in der Kultusministerkonferenz gerne süffisant spöttelt: mehr „pädagogische Freihändigkeit“. Um wirklich die Potentiale aller am Bildungsprozess Beteiligten am besten zu entfalten, brauchen wir so viel Schulautonomie wie möglich!

Dieses Konzept fußt auf drei Prinzipien: den Menschen vor Ort vertrauen; auf das Individuum eingehen; und Vielfalt als Chance begreifen.

Wir bilden Lehrkräfte und Pädagogen in langjährigen Verfahren aus – in Theorie und Praxis. Über Jahrzehnte hinweg sammeln sie sich, auch im Austausch untereinander, einen umfangreichen Erfahrungsschatz an. Sie können wie Seismographen Entwicklungen wahrnehmen, lange bevor irgendwelche selbsternannten Experten die nächste Generation X, Y oder Z kreieren. Sie kennen die Lage vor Ort, wissen mit welchen Familien sie es zu tun haben und mit welchen Voraussetzungen die jungen Menschen bei ihnen ankommen werden. Und ja, die meisten von ihnen sind auch mit Freude, oft mit Leidenschaft für ihren Beruf erfüllt.

Warum gibt es durch das sich verengende Korsett aus Lehrplänen, vorgegebenen Unterrichtsmethoden, Stundenzahlen und nun zunehmend zentralisierten Standards ein so massiv institutionalisiertes Misstrauen diesen Menschen gegenüber? Warum trauen wir Eltern nicht mehr zu, für ihre eigenen Kinder verantwortliche Entscheidungen zu treffen, sobald es um die Schulwahl geht? Warum wittern wir allenthalben versagende Schulen und überforderte Eltern? Das Ergebnis ist nicht selten noch mehr staatliche Kontrolle – oder mit anderen Worten: argwöhnische Aufseher und mutlose Beaufsichtigte. Könnte es nicht sein, dass sich ein mutiger Vertrauensvorschuss gegenüber allen am Bildungsprozess Beteiligten am Ende mehr auszahlt als das derzeitige System des Argwohns? Wieviel Kreativität, Dynamik und Selbstwertgefühl freigesetzt werden können, wenn man Vertrauen schenkt, lässt sich gerade bei Heranwachsenden doch so gut beobachten! Überall reden wir von flexiblen Arbeitswelten, von flachen und schlanken Hierarchien – und ausgerechnet in der Bildung soll es mehr Gängelung geben?

Schüler sind Individuen und nicht wie Elektronikgeräte bei der Stiftung Warentest miteinander vergleichbar. In den bildungspolitischen Debatten wird aber oft genau dieser Chimäre nachgejagt. Doch die Idee, dass Vergleichbarkeit hergestellt werden kann, wird schon bei zwei Schülern ad absurdum geführt, weil Hannah mit dem Mathematikunterricht von Herrn Dorsch einfach so viel besser zurechtkommt als Ben. Wer sich auch nur ein wenig in die Vielgestaltigkeit menschlicher Existenz hineindenkt, wird schwerlich noch behaupten können, dass Prüfungen tatsächlich mehr über Fleiß und Begabung, Wollen und Können aussagen als über Zufälligkeiten.

Doch laufen viele Versuche, Vergleichbarkeit herzustellen, nicht nur ins Leere – sie richten auch zum Teil erheblichen Schaden an. Denn Standards müssen notwendigerweise vereinfachen und abstrahieren. Sie zwingen Pädagogen dazu, auf ein bestimmtes Ziel hin zu trimmen, anstatt die individuellen Voraussetzungen zu berücksichtigen – und das meist zulasten der Schwachen. Wenn man dem Einzelnen wirklich gerecht werden möchte, dann sollte im Zentrum der Bemühungen stehen, dass dessen Potential so gut wie möglich gefördert wird. Gerade da sind Einfühlungsvermögen, Erfahrung und Flexibilität erforderlich – etwas, das kein Lehrplan bieten kann, sondern nur Lehrer vor Ort. Wir brauchen ein System, das vom Individuum her aufgebaut ist, Begabungen fördert, Schwächen ausgleicht, begeistert und motiviert. So wird man Menschen am besten gerecht.

Was wollen wir eigentlich erreichen mit unseren Schulen? Diese Frage steht kaum mehr zur Debatte. Sie wird erstickt durch Plattitüden. Sie wird übertönt von den Rufen nach mehr Abiturienten, von Linksintellektuellen wie von Wirtschaftskapitänen. Sie geht unter im Tumult der Identitäts- und Symbolpolitik. Sie spielt keine Rolle in einem System der Bildungsplanwirtschaft. Der junge Wilhelm von Humboldt wusste es: Bildung ist dafür da, die Vielfalt des menschlichen Miteinanders zum Klingen zu bringen. Nicht das passgenaue Standardwesen in der „brave new world“ sollte das Ideal sein, nach dem man strebt, sondern der aufgeweckte und motivierte junge Mensch, der seine eigenen Fähigkeiten und Träume in das kreative Chaos der offenen Gesellschaft mit einbringt.

Die Einwände gegen mehr Autonomie für Schulen sind bekannt – und zeugen von der typischen Mutlosigkeit und Innovationsaversion der politischen Debatten hierzulande. Die Spirale aus Eingriffen, Großprojekten und Machbarkeitsfantasien in diesem Bereich haben bisher kaum Probleme lösen können und werden es auch in Zukunft nicht tun. Gewiss, man wird den schweren Tanker Schulpolitik nicht sofort auf einen anderen Kurs setzen können. Aber vielleicht stemmen sich doch einmal Politiker gegen den Trend und trauen sich, den Menschen vor Ort zu vertrauen, und graduell die Freiheitsräume von Schulen zu erweitern.

Ein System der Schulautonomie ist möglich. Es ist ein System, das auf Vertrauen und Mut aufgebaut ist. Ein System, das Experiment und Innovation nicht nur zulässt, sondern ausdrücklich begrüßt. Ein System, das darauf basiert, dass man Direktoren, Lehrerinnen, Eltern und Schülern zutraut, die eigene Situation, Bedürfnisse und Möglichkeiten am besten einschätzen zu können. Ein System, das dazu dient, dass junge Menschen sich entfalten und das Beste aus sich herausholen können. Ein System, das es ihnen besser ermöglicht, zu verantwortlichen und selbstbewussten Bürgern heranzuwachsen – und vor allem zu selbständigen und glücklichen Menschen.

1 Antwort
  1. Dirk W. Kühne, Schulleiter
    Dirk W. Kühne, Schulleiter sagte:

    Sicher der beste Artikel, den ich seit langem zu dem Thema gelesen habe. Der Wahn der Vergleichbarkeit degradiert die Schulen zu Aufzuchtanstalten für den Fachkräftemarkt. Im zweihundertjährigen Streit, ob Bildung einem bestimmten (beruflichen) Ziel dienen soll oder ein Wert an sich ist, hat die erste Ansicht die Oberhand bekommen. Dennoch: Die Forderung nach mehr Autonomie für die Schulen greift zu kurz, denn zum einen sind Schulleitungen und Lehrkräfte auf diese Autonomie nicht vorbereitet geschweige denn dafür ausgebildet, zum anderen müsste sie zumindest von einer finanzielle Autonomie begleitet werden. Das niederländische System scheint mir hier richtungsweisend: Jede Schule, unabhängig vom Schulträger, erhält pro Schüler denselben Betrag aus Steuermitteln. So entsteht Wettbewerb unter den Schulen um die besten Konzepte und die beste pädagogische Umsetzung. Bildungspolitische Ideologien werden dabei kaum Chancen haben.

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