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Photo: Andy Spearing from Flickr (CC BY 2.0)

Von Dr. Titus Gebel, Unternehmer, Mitgründer der Deutschen Rohstoff AG

„Die Freiheit, etwas abzulehnen, ist die einzige wirkliche Freiheit.“

Salman Rushdie

Seit Jahrhunderten wird gelehrt: Zwischen Bürger und Staat gibt es einen Gesellschaftsvertrag. Oder wenigstens haben die Bürger untereinander einen solchen abgeschlossen, in dem sie einen Teil ihrer Souveränität an den Staat abtreten. Sollte es diese Übereinkunft tatsächlich geben, so wäre dies freilich ein ziemlich eigentümlicher Vertrag, da er von der einen Seite jederzeit beliebig gestaltet und geändert werden kann, während die andere Seite stets parieren muss. Nach dem Zivilrecht der meisten Staaten wäre höchst fraglich, ob ein solches Konstrukt – nennen wir es einen Unterwerfungsvertrag – mangels Bestimmtheit seiner Leistungen und Gegenleistungen überhaupt als Vertrag angesehen werden kann. Überdies gilt nach bürgerlichem Recht eine Vereinbarung, bei der nicht Einigkeit über alle wichtigen Punkte besteht – wichtig nach Ansicht auch nur einer Partei – im Zweifel wegen Einigungsmangel als nicht geschlossen.

Machen wir in diesem Zusammenhang ein Gedankenexperiment: Nehmen wir an, die erstaunliche Welt des Marktes, der uns Nahrung, Kleidung, Behausung, Transport und Unterhaltung im Überfluss bereitstellt, würde auch im Hinblick auf unser gesellschaftliches Zusammenleben gelten. Nehmen wir weiter an, es gäbe eine Vielzahl unterschiedlicher Staatsmodelle und wir wären ein Marktteilnehmer, der sich überlegt, in welche Art Staat er sich gerne einkaufen würde. Ich für meinen Teil würde nachfragen:

I. Leistungen des Staates

1. Sicherheit
Das wichtigste wäre, dass ich und meine Familie uns zu jeder Tages- und Nachtzeit überall im Staatsgebiet sicher bewegen können, ohne Angst vor Überfällen oder sonstigen Bedrohungen haben zu müssen. Dies ist ein elementares Bedürfnis und eine Grundbedingung: Wenn ein Staatsanbieter das nicht wenigstens annähernd gewährleisten kann, sind seine sonstigen Leistungen für mich ohne Relevanz.

2. Handlungsfreiheit
Ich möchte das Recht haben, zu tun und zu lassen, was ich will, solange ich anderen dadurch nicht schade. Dies entspricht der seit Jahrtausenden bekannten Goldenen Regel, etwa in der Form des Sprichworts: Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu. Die so verstandene allgemeine Handlungsfreiheit schließt diverse sogenannte Grund- oder Menschenrechte ein, etwa Vertrags-, Versammlungs-, Koalitions- oder Meinungsfreiheit, nicht aber sogenannte Teilhaberechte (dazu unten mehr).

3. Eigentum
Ich möchte das Recht haben, volles, unbelastetes, mit keinerlei staatlichen Vorrechten oder Vorbehalten versehenes Eigentum zu erwerben, zu behalten und nach Belieben zu veräußern, zu verschenken oder zu vererben. Dieses Recht ist elementar. Ohne Eigentumsrecht gibt es keine Freiheit, keine Privatheit und auch keine Hoffnung, sein Los oder das Los seiner Kinder zu verbessern, sondern nur noch Ausgeliefertsein gegenüber dem Kollektiv, wie auch immer es organisiert sein mag.

4. Rechtssicherheit und Streitbeilegung
Ich benötige lediglich eine einfache Rechtsordnung, die den Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum regelt, für alle gleichermaßen gilt und die nicht einfach vom Staatsanbieter oder einer Mehrheit einseitig abgeändert oder erweitert werden kann. Ich möchte weiter, dass der Staatsanbieter eine neutrale Justiz zur Verfügung stellt, vor der Streitfälle verhandelt werden können und die mir hilft, die Durchsetzung der von mir geschlossenen Verträge zu gewährleisten oder unberechtigte Ansprüche abzuwehren. Im Verhältnis zum Staatsanbieter möchte ich bei Rechtsstreiten mit diesem unabhängige, nicht vom Staat installierte oder bezahlte Gerichte anrufen können, vergleichbar den Schiedsgerichten, die im internationalen Handelsrecht vereinbart werden.

5. Subjektive Lebensqualität
Ich möchte eine Infrastruktur, die es mir leicht macht, mit dem Rest der Welt in Kontakt zu treten und Dienstleistungen abzurufen. Ich bevorzuge ein gemäßigtes Klima und die Anwesenheit anderer, geselliger Menschen im Staatsgebiet. Religion sollte im öffentlichen Leben keine Rolle spielen, sondern reine Privatangelegenheit sein.

Das war’s schon. Um alles andere kümmere ich mich selbst. In einer solchen Ordnung könnte ich mich bestmöglich entfalten und nach meiner Façon selig werden. Dies schließt Hilfeleistung für andere ein, aber nicht auf der Basis von Zwang.

Sie werden vielleicht bemerkt haben, dass in dem von mir gewünschten System die Worte Politik, Demokratie und Steuern kein einziges Mal vorgekommen sind. Der Grund ist, dass dafür keine Nachfrage besteht:

Politik ist letztlich das Bestreben, alle anderen nach den Vorstellungen leben zu lassen, die man selbst für richtig hält. Aber die Menschen sind verschieden. In dem von mir geschilderten System besteht für „politische Mitbestimmung“ kein Bedarf, weil die Regierung nur eine Verwaltung ist und jeder maximale Handlungsfreiheit genießt.
Demokratie bedeutet, dass eine Mehrheit mir vorschreiben kann, was ich zu tun oder zu lassen habe. Ich möchte aber meine Angelegenheiten nach eigenem Gutdünken erledigen, ohne dass mir die anderen hineinreden.
Steuern sind vom Staat einseitig festgesetzte Zwangsabgaben, denen keine Gegenleistung gegenübersteht. Warum sollte ich mich darauf einlassen? Man mache mir ein klar beziffertes Angebot, und ich entscheide dann, ob ich es annehme.

II. Meine Gegenleistung

Während die Einräumung von Handlungsfreiheit und Eigentum dem Staatsanbieter praktisch keine Kosten verursacht, sieht es bei der Gewährung von innerer und äusserer Sicherheit, Justiz und Infrastruktur natürlich anders aus. Zudem möchte der Staatsanbieter auch Geld verdienen, sonst wäre er nicht auf dem Markt. Entsprechende Angebote wären reichlich vorhanden, aus denen ich ablesen könnte, was mich das im Jahr kostet und welche Leistungen zu erwarten sind. Einige Staatsanbieter böten womöglich ein Modulsystem an, so dass ich bei Bedarf noch diverse Versicherungen gegen Alter, Krankheit und Armut hinzuwählen oder die Benutzung von Ausbildungs- und Betreuungseinrichtungen durch meine Kinder mit einer Pauschale abgelten kann. Durch den unter Staatsanbietern herrschenden Wettbewerb wären alle diese Leistungen in verschiedensten Ausprägungen und Preisklassen vorhanden, für jeden etwas dabei, sozialistische Kommunen eingeschlossen. Ich wüsste sicher, was mich erwartet und welchen Preis ich für die Leistungen jetzt und in Zukunft zu entrichten habe.

III. Die rechtliche Grundlage

Wie wäre mein rechtlicher Status gegenüber dem Staatsanbieter? Nicht anders als gegenüber anderen Vertragsparteien auch: es gäbe einen schriftlichen Vertrag, der die jeweiligen Rechte und Pflichten genau festhielte. Ich wäre gleichberechtigter Vertragspartner eines Dauerschuldverhältnisses, der die Erfüllung seiner Leistungen einklagen und bei Schlechtleistung Kompensation (Minderung, Schadensersatz) verlangen könnte. Ähnlich wie bei Versicherungsverträgen könnte mir der Staatsanbieter nicht jederzeit einfach kündigen, sondern nur bei schwerwiegenden Vertragsbrüchen meinerseits, was ich wiederum von Gerichten überprüfen lassen könnte, die nicht zum Staat gehören. Umgekehrt wäre ich berechtigt, den Vertrag jederzeit fristgemäß zu kündigen, ohne dass mir dadurch besondere Nachteile entstünden. All das sind bekannte Mechanismen, die in anderen Lebensbereichen mehr oder weniger reibungslos funktionieren.

IV. Die Wirklichkeit

Leider ist der Markt noch nicht ganz so weit entwickelt. Das Standardmodell in praktisch allen Ländern sieht derzeit so aus:

Es gibt eine allmächtige staatliche Ordnung, in der Leistung und Gegenleistung diffus sind. Die erwachsenen Staatsbürger wählen alle paar Jahre eine Vertretung, die bei entsprechender Mehrheit nach Belieben Gesetze für alle Lebensbereiche verabschieden oder ändern kann und sowohl den Umfang staatlicher Leistungen wie die Höhe der Gegenleistung dafür jederzeit nach eigenem Gusto festsetzt und ändert. Wer die einseitig festgesetzte Gegenleistung nicht erbringen will, wird, sofern er nicht die Flucht ergreift, enteignet und eingesperrt. Die im Gegenzug gewährten Leistungen sind in der Regel weder einklagbar noch darf der einzelne Bürger über die Mittelverwendung mitbestimmen, auch wenn er viele Steuern zahlt. Die Staatsbürger verfügen zwar meist über sogenannte Grundrechte, über deren Auslegung allerdings im Zweifel ein vom Staat eingesetztes und bezahltes Gericht entscheidet. Zudem können Inhalt und Umfang dieser Rechte auch zulasten der Staatsbürger geändert werden, wenn die entsprechenden Mehrheiten vorhanden sind.

Die von mir persönlich wahrgenommene Staatspraxis ist folgende: Reglementierung des gesamten Lebens aus Gründen der Sicherheit und Gleichheit bzw. zur Umsetzung der jeweiligen Zeitgeistmode; genaue Festlegung, wie das Eigentum genutzt werden darf, mit wem Verträge einzugehen sind und welchen Inhalt diese haben; Verbot, bestimmte Leuchtmittel, Treibstoffe oder Genussmittel zu benutzen; gesetzliche Privilegierung von Gruppeninteressen, z.B. Kirchen, Verbänden, Gewerkschaften oder Frauen; Anklage wegen Volksverhetzung bei Äußerung bestimmter abweichender Ansichten; weitgehende Planwirtschaft im Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem, zunehmend auch im Bereich der Energieversorgung; Erziehung der schulpflichtigen Kinder zu staatsgläubigen, marktfeindlichen und geschlechtsneutralen Genderwesen; Alimentierung nichtarbeitender Einwohner ohne jegliche Gegenleistung; Förderung der Masseneinwanderung und -vermehrung von integrationsunwilligen Menschen; Pflicht zur Zahlung einer Zwangsgebühr für zahllose öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehsender, unabhängig vom Nutzungswillen; Subventionierung sämtlicher Interessengruppen, die Einfluss haben oder laut genug schreien; Ausgabe von Milliardensummen in aller Welt für zweifelhafte Hilfsprojekte und militärische Auslandseinsätze.

Ich habe keiner einzigen der vorstehend genannten Maßnahmen zugestimmt. Das spielt allerdings keine Rolle. Aber wehe, wenn ich nicht dafür bezahle.

Um die mehrheitliche Akzeptanz dieses fragwürdigen Systems aufrecht zu erhalten, werden freilich auch Recht und Ordnung, beschränktes Eigentum sowie ein gewisses Maß an Handlungsfreiheit gewährleistet, wenngleich mit abnehmender Tendenz. Die Trumpfkarte aber ist: jeder Bürger hat das Recht, auf Kosten der anderen zu leben. Man nennt dies Teilhaberechte oder Sozialstaat. Weil jeder gern etwas bekommt, für das er keine Gegenleistung erbringen muss, sind Teilhaberechte natürlich sehr beliebt. Daher steigt die Zahl der staatlichen Leistungen seit Jahrzehnten, und dafür braucht der Staat natürlich immer mehr Geld. Finanziert wird das Ganze dadurch, dass diejenigen, die mehr verdienen, auch mehr bezahlen müssen und zwar nicht nur absolut, sondern progressiv ansteigend. Weil das immer noch nicht reicht, sollen demnächst weitere Enteignungen erfolgen etwa über neue Steuern, die nur jene treffen, die etwas haben. Außerdem werden vom Staat hohe Schulden gemacht, deren Rückzahlung ungeklärt ist. Daher wird durch diverse Eingriffe in den Finanzmarkt faktisch Geld gedruckt und die damit einhergehende Inflation trifft jene am härtesten, die keine größeren Sachwerte haben und auf laufende Bezüge angewiesen sind, für die sie immer weniger bekommen.

Hand aufs Herz: Würden Sie als Privatperson Mitglied in einer solchen Organisation werden? Kaum. Ebenso wenig wie Sie ein Auto kaufen würden, dessen Typ, Ausstattung und Preis einseitig vom Verkäufer bestimmt werden.

V. Das Problem

Gibt es Alternativen? Wirklich freie Staaten, in denen der Bürger gleichberechtigter, souveräner „Kunde“ ist, existieren praktisch keine. Auch in sogenannten Minimalstaaten lauert immer das Damoklesschwert, dass die nächste Regierung, das nächste Parlament die Regeln ändert, ohne dass der Einzelne etwas dagegen machen kann. Denn im Verhältnis des einzelnen zum Staat besteht aktuell kein Gleichordnungsverhältnis wie in allen zivilrechtlichen Vertragsverhältnissen, sondern ein Über- /Unterordnungsverhältnis.

Tatsächlich sind die Wohlstands- und Freiheitsgrade in westlichen Staaten, die über eine jahrhundertelange Tradition des Freiheitskampfes gegen die Obrigkeit verfügen, immer noch viel höher als in den meisten anderen Staaten dieser Welt. Gleichwohl sei die Frage aufgeworfen, ob nicht all die Prinzipien, die sich im Laufe der Jahrhunderte als Beschränkung der Staatsgewalt etabliert haben, etwa das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip oder das Prinzip der Gewaltenteilung, zwar funktionierende Werkzeuge sind, aber letztlich doch nur Abmilderungen eines grundsätzlich verfehlten Systems bedeuten: der auf Zwang gegründeten Herrschaft der einen über die anderen.

Zwei Fragen sind ausreichend, um die Zweifelhaftigkeit heutiger, vermeintlich freiheitlicher, Ordnungen zu beleuchten:
1. Mit welchem Recht nehmen Sie anderen ihr rechtmässig erworbenes Einkommen ab?
2. Was tun Sie, wenn die anderen nicht mehr zahlen wollen?
Zwar sind die Antworten technisch gesehen einfach:
1. Die Regierung/das Parlament/die Mehrheit hat so entschieden.
2. Wir werfen sie ins Gefängnis bzw. enteignen sie.
Aber faktisch ist das nichts als Raub, gestützt auf das Recht des Stärkeren. Daran ändern sämtliche wohlfeilen Rechtfertigungsmodelle nichts.

Ich bin dagegen der Auffassung, dass ich das Recht habe, mein Leben und meine Lebensumstände so zu gestalten, wie ich dies für richtig halte und, wenn ich von anderen etwas will, dies auf der Basis freiwilligen Leistungstausches zu tun. Daraus ergeben sich zwei Prinzipien. Erstens, dass derjenige, der anderen kein Leid zugefügt und für sich selbst sorgen kann, Anrecht darauf hat, in Ruhe gelassen zu werden (auch von Politik, Demokratie, Fiskus). Zweitens, dass die menschliche Interaktion auf freiwilliger Basis und nicht auf der Basis von Zwang stattfindet. Leider finden auch in westlichen Demokratien beide Prinzipien keine Anwendung, wenn es um das Verhältnis Bürger-Staat geht. Und genau da liegt der Hund begraben.

VI. Die Zukunft

Auch die Sklaverei existierte viele Jahrtausende. Was zu dem Argument führte, dass diese nun mal ein elementarer Bestandteil menschlichen Daseins sei und zwar für alle Zeiten. Wir wissen, dass dies glücklicherweise nicht der Fall war. Vergleichbares wird man vielleicht einmal von unseren heutigen Staatssystemen sagen können. Die Ablösung der Diktatur von Einzelnen oder Minderheiten durch die Diktatur von Parteien oder Mehrheiten ist jedenfalls nicht das Ende der Geschichte. Es ist vielmehr eine Selbsttäuschung grandiosen Ausmaßes zu glauben, Freiheit und auf Zwang gegründete Herrschaft seien kompatibel. Ob diese Herrschaft demokratisch legitimiert ist oder nicht, spielt für diesen Befund keine Rolle. Freiheit bedarf der Freiwilligkeit.

Wie wir es schaffen, aus dieser Matrix auszubrechen, um auch im Hinblick auf unser Zusammenleben die erfolgreich erprobten Prinzipien des Marktes anzuwenden, nämlich Leistungstausch auf freiwilliger Basis und Recht zur Nichtteilnahme, dürfte die große Frage des 21. Jahrhunderts werden.

Wahrscheinlich wird es erst einmal auf ein selbstgewähltes Zusammenfinden mit Gleichgesinnten hinauslaufen, weil alle ethnische, kulturelle, religiöse oder nationale Verbundenheit da aufhört, wo Ausplünderung und Bevormundung durch die Mitmenschen beginnt. Dieser Weg dürfte anfänglich über kleinere Sezessionen bzw. räumlich überschaubare Neugründungen führen, die schließlich Ausstrahlungswirkung entfalten. Die heutigen Zwangs- und Ausbeutungsstaaten aber sind Überbleibsel der Vergangenheit, die auf Dauer in einer immer mobileren, immer globaleren Welt nicht überleben werden.

Ein Markt an Staatsmodellen schüfe hier Abhilfe, zum Wohle aller. Denn der Wettbewerb ist das einzige bewährte, dauerhaft wirksame Entmachtungsverfahren der Menschheit.

Erstmals erschienen im Schweizer Monat.

Photo: Jasonparreira from Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Von Dr. Titus Gebel, Unternehmer, Mitgründer der Deutschen Rohstoff AG

Der Sozialstaat gilt vielen als unverzichtbare Errungenschaft moderner Staaten. Er soll Lebensrisiken wie Hunger, Krankheit und Armut absichern und jedem ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen. Diese Ziele sind ehrenhaft und nicht zu beanstanden. Der Sozialstaat (1) ist aber kein geeignetes Vehikel, sie dauerhaft zu erreichen. Er führt in den Ruin, entmündigt und verursacht unsoziales Verhalten. Im Ergebnis verschlimmert er die Zustände, die er bekämpfen will. Der Sozialstaat hat daher keine Zukunft. Die gute Nachricht ist: es gibt funktionierende und erprobte Alternativen. Sie dienen den aufstrebenden Gemeinwesen des 21. Jahrhunderts als Beispiel, wie soziale Sicherung effektiv und ohne Zwang funktionieren kann.

I. Konstruktionsfehler des Sozialstaates

Der Sozialstaat weist mehrere Konstruktionsfehler auf. Die wesentliche funktionelle Unzulänglichkeit ist dabei die systematische Setzung von Fehlanreizen. Sowohl die Politik, als auch die Verwaltung, als auch die Leistungsempfänger sehen sich massiven Anreizen ausgesetzt, das System zum eigenen Vorteil auszunutzen. Der Sozialstaat unterliegt damit ebenfalls der Tragik der Allmende. Frei nach Frederic Bastiat ist der Sozialstaat die große Fiktion, nach der jedermann glaubt, auf Kosten von jedermann leben zu können. Aber das ist eben nur eine Fiktion.

1) Politische Fehlanreize

Der bedeutendste Fehlanreiz für die Politik ist der Stimmenkauf durch soziale Wohltaten. Anders ausgedrückt, die kurzfristige Bestechung der Wähler ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen: die Erhöhung des Kindergeldes, die Absenkung des Renteneintrittsalters, die Ausweitung von Krankenversicherungsleistungen, die Aufstockung der Sozialhilfe usw. Den bisher größten Wahlsieg in der Geschichte der CDU fuhr Konrad Adenauer im Jahre 1957 ein. Dies gelang ihm, weil er -entgegen ausdrücklicher Bedenken der Experten- ein reines Umlageverfahren für die Rentenversicherung durchsetzte und die durchschnittliche Rentenleistung dadurch signifikant anheben konnte. Und so ging das im Laufe der Jahre immer weiter, in Deutschland wie anderswo. Die sozialen Leistungskataloge wurden unter dem Beifall von Wählern und Medien beständig ausgedehnt und das Niveau der Leistungen angehoben. Politiker, die Leistungskürzungen befürworten, werden über kurz oder lang abgewählt.

Ein weiterer politischer Fehlanreiz ist die Ausweitung von Macht durch Erweiterung des Sozialstaates. Je mehr Sachverhalte dem Staat zugewiesen sind, je mehr Leistungsempfänger es gibt, desto mächtiger ist die Politik. Daher strebt diese danach, genau das zu erreichen, unabhängig von den Folgen. Dieser Anreiz lag bereits der Schaffung des Sozialstaats zugrunde. Der moderne Sozialstaat ist keine Errungenschaft der Sozialdemokratie. Er wurde vielmehr vom deutschen Reichskanzler Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts von oben eingeführt. Ziel war, die Machtposition der Gewerkschaften zu schwächen und die Bindung der Arbeiter an den Staat zu stärken. Anstelle der sozialen Selbsthilfe in Gewerkschaften und Gewerkvereinen trat eine paternalistische Zwangslösung. Bismarck sah in unabhängigen, besitzenden Arbeitern eine politische Gefahr (2). Entsprechend wurde der Sozialstaat immer weiter ausgedehnt. In Deutschland war die verpflichtende Krankenversicherung ursprünglich auf Arbeiter der unteren Einkommensschichten beschränkt, ist aber stetig ausgeweitet worden. 1927 kam eine Arbeitslosenversicherung dazu. 1995 wurde eine Pflegepflichtversicherung eingeführt. Seit 2009 sind endlich alle in Deutschland Lebenden verpflichtet, sich gegen Krankheit zu versichern. Auch Freiberufler müssen sich zwangsweise rentenversichern, Selbstständige dürften demnächst folgen. Ob die Betroffenen das auch möchten, interessiert nicht.

2) Bürokratische Fehlanreize

Der Fehlanreiz für die Verwaltung ist die Belohnung von Misserfolg. Mehr soziale Probleme, mehr Bedürftige bedeuten größere Budgets und mehr Mitarbeiter für die Sozialbürokratie. Da jede Bürokratie danach strebt, Macht und Einfluss auszubauen, besteht von dieser Seite ein stetiger Impuls, Probleme nicht zu lösen oder für erledigt zu erklären, sondern das Gegenteil zu tun. Steigen die Benzinpreise, wird nicht etwa eine Senkung der Mineralölsteuer erwogen, um „Armen“ wieder die Teilnahme am Straßenverkehr zu erleichtern. Stattdessen werden Beihilfen oder Benzingutscheine für Bedürftige vorgeschlagen, denn dies erfordert eine weitere Behörde und vergrößert die Macht von Verwaltung und Politik. Ein erheblicher Teil der sozialen Aufwendungen kommt gar nicht mehr den Bedürftigen zu gute. Er wandert direkt in die ständig wachsende Umverteilungsmaschine.

3) Leistungsbezogene Fehlanreize

Der Fehlanreiz für die Leistungsempfänger ist, die angebotenen Leistungen übermäßig und auch ohne Bedarf auszunutzen, da sie scheinbar umsonst sind. Der Sozialstaat bestraft Bescheidenheit und Zurückhaltung und belohnt Überkonsum sowie Unehrlichkeit. Denn es gilt mit der Unerbittlichkeit eines Naturgesetzes: jede Subvention lässt die Menge der subventionierten Güter wachsen. Der Grund hierfür liegt in dem jeden Menschen innewohnenden Drang, seinen Lebensstandard mit möglichst geringem Mitteleinsatz zu steigern. Als die britische Kolonialherrschaft einer Kobraplage in Indien Herr werden wollte, wurde eine Rupie für jeden ausgelobt, der eine tote Kobra ablieferte. In der Folge wuchs die Kobrapopulation auf ein nie gekanntes Maß: Kobras wurden gezüchtet, nur um an die Prämie zu kommen. Eine entsprechende Erfahrung machte der englische Sozialstaat vor wenigen Jahren, als allen minderjährigen alleinerziehenden Müttern eine Wohnung auf Staatskosten zugesagt wurde. Auch hier explodierte die Zahl minderjähriger alleinerziehender Mütter. Wie man später herausfand, wollten zahlreiche 16- und 17-jährige unbedingt von zu Hause ausziehen. Die Sorge um die Bewältigung der Aufgabe Kindererziehung trat dabei offenbar in den Hintergrund. Vor einigen Jahren wurde Deutschland von einem flächendeckenden Lokführerstreik in Atem gehalten. Als wichtige Verhandlungen anstanden, war der Vorsitzende auf einmal verschwunden. Die Presse mutmaßte bereits über Machtkämpfe in der Gewerkschaftsführung, als bekannt wurde, dass der Chef lediglich eine ihm zustehende Kur angetreten hatte (3). Diese Kur war bereits mehrfach verschoben worden und wäre bei einer weiteren Verschiebung verfallen. Als Kind des Sozialstaates konnte er offenbar gar nicht anders, als im Moment höchster Bewährung die kämpfende Truppe zu verlassen. Wehe, der Anspruch wäre ungenutzt verfallen! Es geht also nicht darum, ob gute Absichten vorliegen oder nicht. Entscheidend ist das Resultat. Wenn dafür bezahlt wird, arm, arbeitsunfähig, krank oder alleinerziehend zu sein, so werden auch diese Zustände häufiger auftreten (4).

Ein weiterer Fehlanreiz des Sozialstaates besteht darin, privates Vorsorgedenken und Verantwortungsübernahme auszuschalten. Warum soll man auf den eigenen Gesundheitszustand achten, wenn Anspruch auf volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall besteht? Warum soll man Vorsorge für Lebensrisiken treffen oder Nahestehende dazu ermutigen? Jeder hat doch einen Rechtsanspruch auf „notwendigen Lebensunterhalt“. Dazu gehören heute Theater-, Kino-, Konzertbesuche, Telefon, Radio, TV und Internet-Anschluss sowie das Abonnement einer Zeitung. Zu diesen Regelsätzen kommen einmalige Beihilfen für besondere Anschaffungen, die komplette Übernahme der Miet- und Versicherungskosten und ein Weihnachtsgeld (5).

Daneben besteht der Anreiz, ständig neue Leistungen zu fordern. Entgegen landläufiger Annahme wird im Sozialstaat nicht vorwiegend von Reich zu Arm umgeschichtet. Stattdessen findet immerfort eine Umverteilung zwischen allen Einkommensgruppen statt, um bestimmten Gruppen Sondervorteile zu gewähren: etwa alleinerziehenden Müttern, Studenten, Theaterliebhabern, Betroffenen von Naturkatastrophen, usw. Da die Umverteilung nicht in eine bestimmte Richtung erfolgt, kann schwer eingeschätzt werden, wer unter dem Strich einen Netto-Vorteil hat und wer nicht. Hat eine organisierte Interessengruppe einmal gelernt, dass sie -im Namen sozialer Gerechtigkeit- nur lautstark genug eine Leistung fordern muss, wird sie dieses Verhalten wiederholen. Andere gesellschaftliche Gruppen ziehen nach, wohl wissend, dass sie andernfalls nur Zahlstellen für die Vergünstigungen der aktiveren Gruppen sind.

Die Problematik wird verschärft durch die Wanderungsbewegungen. Aufgrund der hohen Sozialabgaben wandern qualifizierte Einzahler ab, dafür wandern arbeitsunwillige Leistungsempfänger zu. Dem Autor sind persönlich einige Fälle von leitenden Angestellten bekannt, die aus Deutschland bzw. Österreich in die Schweiz ausgewandert sind. Beweggrund waren neben den Steuern die in der Schweiz immer noch niedrigeren Sozialabgaben. Umgekehrt hat ein asiatischer Zuwanderer einmal berichtet, dass es für ihn keinen Anreiz gebe zu arbeiten, denn als Familienvater würde er Anspruch auf Sozialhilfe in einer Höhe haben, die ein Ministergehalt (!) in seiner Heimat übersteige. Wer in einem Entwicklungsland täglich zehn Stunden harte Arbeit verrichtet und dafür 100 Dollar pro Monat nach Hause trägt, wird sich in der Tat überlegen, ob er sich nicht besser in Mitteleuropa niederlässt. Hier bekommt er faktisch 1.000 Dollar im Monat fürs Nichtstun, hervorragende Infrastruktur inklusive. Folgerichtig geht etwa in der Schweiz nur jeder siebte anerkannte, aufenthaltsberechtigte Asylant einer geregelten Arbeit nach (6). Tragischer Weise führt dieses Anreizsystem sogar dazu, dass in ihren Heimatländern produktive Leistungsträger dazu verführt werden, in Sozialstaaten auszuwandern um dort alimentierte Leistungsempfänger zu werden.

Sozialstaatsauswanderer wie -einwanderer handeln menschlich, indem sie eine Erhöhung ihres Lebensstandards anstreben. Sie nutzen dabei die Anreizsysteme, die ihnen angeboten werden. Im Ergebnis verliert der Sozialstaat Geber und bekommt dafür mehr Nehmer. Aus diesen Realitäten folgt auch, dass die Kombination aus offenen Grenzen und Sozialstaat nicht funktioniert beziehungsweise das sichere Rezept für ein Desaster ist.

II. Die Folgen: Überschuldung, Bevormundung und unsoziales Verhalten

1) Überschuldung

Der Sozialstaat ist Schuldenstaat, der die versprochenen Leistungen künftigen Generationen nicht mehr auszahlen kann. Aufgrund der aufgezeigten Anreizstruktur werden dem System immer mehr Einzahler entzogen bei gleichzeitigem Anwachsen der Zahl der Leistungsempfänger. Parallel steigen die Leistungsniveaus stetig an und die Sozialbürokratie bläht sich auf. Dadurch steigen nicht nur die Staatsausgaben ständig, sondern auch das mögliche Wirtschaftswachstum wird reduziert. Denn immer weniger Personen sind im produktiven Sektor tätig. Weniger Wirtschaftswachstum führt aber wiederum zu einer Erhöhung der Anzahl an Bedürftigen. Ein Teufelskreis ist in Gang gesetzt. Der Sozialstaat bekämpft immer verzweifelter die Probleme, die er selbst verursacht hat.

Das Umlageverfahren beschleunigt den Weg in den finanziellen Ruin. Die meisten „Sozialversicherungen“ beruhen auf dem Umlageverfahren (Rente, Krankheit, Arbeitslosigkeit), d.h. die eingezahlten Beträge werden sofort weiter verteilt an die Leistungsempfänger. Da Mittel schlicht umverteilt werden, wird nichts gespart, es wird nicht investiert und damit werden auch keine Erträge erwirtschaftet (7). Werden die Einzahler immer weniger, immer älter und bekommen immer weniger Kinder, hat das System ein ernstes Problem. Das enorme, konstruktionsbedingte Kostenwachstum der Sozialsysteme kann daher seit Jahrzehnten nur noch durch die ständige Ausweitung der Staatsverschuldung bestritten werden. Reformen des Sozialstaats sind entweder Kosmetik oder hinterlassen auf Sicht von 15-20 Jahren nur einen Knick in der stetig steigenden Ausgabenkurve. Die dem Sozialstaat zurechenbaren Ausgaben machen in Deutschland heute mehr als 50% des Staatshaushaltes aus. Von 1979 bis heute wuchsen die deutschen Staatsschulden von 64 Milliarden Euro auf 2000 Milliarden Euro! Rechnet man alle Pensions- und Sozialansprüche der Kommunen und Länder mit ein, kommt man gar auf 8000 Milliarden bzw. 8 Billionen (8). In anderen westlichen Sozialstaaten sieht es ähnlich aus.

Wenn die Zahl der Nehmer immer weiter wächst, die Zahl der Geber immer weiter sinkt, und dabei die Sozialbürokratie größer wird, ist der Ruin der Staats- und Sozialhaushalte aber nur noch eine Frage der Zeit. Auch fiskalische Tricks der Zentralbanken wie die Zinsmanipulationen nach unten oder der Aufkauf eigener Staatsanleihen können dieses Ergebnis nur verzögern, nicht verhindern.

2) Bevormundung

Der Sozialstaat ist Obrigkeitsstaat – der Staat ordnet an, was zu tun ist, der Bürger hat zu gehorchen. Egal, ob dieser die gleichmäßige Verteilung seiner Einkünfte auf alle Lebensphasen, wie die gesetzliche Rentenversicherung vorschreibt, gar nicht möchte. Egal, ob er eine Minimal-Krankenversicherung nur gegen Hochrisiken bevorzugen würde. Individuelle Lebensentwürfe sind im System immer weniger zugelassen. Daraus folgt eine zunehmende Gängelung, Bevormundung und damit Freiheitseinschränkung. Der Bürger wird sowohl gehindert, eigene Wege zu gehen, als auch eigene Erfahrungen zu machen und daraus zu lernen. Der Weg in die Unmündigkeit ist vorgezeichnet. Und woraus ergibt sich eigentlich das Recht, friedliche Mitmenschen zu Mitgliedschaften zu zwingen, die sie nicht eingehen möchten? Weil irgendjemand glaubt besser zu wissen als der Betroffene, was gut für diesen ist? Was ist eigentlich aus dem Ideal des mündigen Bürgers geworden, der seine eigenen Angelegenheiten selbst wahrnehmen kann und soll?

3) Unsoziales Verhalten

Der Sozialstaat fördert unsoziales Verhalten. Wie gezeigt, bestehen massive Anreize, sich unehrlich und unanständig zu verhalten. An die Stelle von Eigenvorsorge tritt Abhängigkeit. An die Stelle von Verantwortungsübernahme tritt Unmündigkeit. An die Stelle der Nächstenliebe tritt das Bestreben, das Maximum herausholen. An die Stelle des Verlangens nach Bewährung tritt die Suche nach unverdientem Einkommen. An die Stelle von Dankbarkeit tritt aggressives Anspruchsdenken.

Die im Sozialstaat allgegenwärtige Forderung gesellschaftlicher Gruppen nach Umverteilung steht darüber hinaus der Aufforderung zu einer Straftat gleich. Denn Umverteilung ist nur möglich, indem man Menschen die Früchte ihrer Arbeit wegnimmt. Die Folge sind nie endende Verteilungskämpfe, sozialer Unfriede und Neid. Es gibt keinen allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, der zwei Menschen erlaubt, einen Dritten zu enteignen. Auch persönliches Pech oder Unvermögen begründen nicht das Privileg, andere auszubeuten.

Verteidiger des Sozialstaats werden einwenden, dass „Solidarität“ und „soziale Gerechtigkeit“ anders nicht hergestellt werden könnten. Aber unter Androhung von Gewalt erzwungene Solidarität ist keine. „Soziale Gerechtigkeit“ ist ein undefinierbarer Kampfbegriff und hängt stets vom Standpunkt des Betrachters ab. Was qualifiziert einen Menschen, auf Kosten eines anderen zu leben und wer ist der Richter, der darüber befindet? Mit welchem Recht entscheiden A und B darüber, was C an D zu zahlen hat?

Es führt kein Weg an der Einsicht vorbei: Ein wie auch immer legitimiertes System, welches per Gesetz Enteignungen zugunsten Dritter vorsieht (in Form von Steuererhebungen und Sozialabgaben), kann auf Dauer weder ein friedliches, noch ein berechenbares Miteinander schaffen. Es zerstört die Grundlagen und Resultate freiwilliger Kooperation durch staatliche Macht. Es vernichtet dadurch das, was eine Gesellschaft erfolgreich und attraktiv macht.

III. Alternativen zum Sozialstaat

Glücklicherweise gibt es funktionierende und erprobte Alternativen zum Sozialstaat. Und damit ist nicht die Verteilung von Almosen durch reiche Gönner gemeint.

1) Kollektive Selbsthilfeeinrichtungen

Während des 19. und bis ins frühe 20. Jahrhundert waren die meisten Familie stolz darauf, sich selbst unterhalten zu können. Aber wenn der Hauptverdiener krank wurde oder starb, geriet die Familie in schwere Not. Die Antwort der Menschen, also des Marktes, auf diese harte Realität war die Schaffung kollektiver Selbsthilfeeinrichtungen. In England waren das die „Friendly Societies“, in den USA die „Fraternal Societies“, in Deutschland die Gewerkvereine und Genossenschaften. Ihnen war gemeinsam, dass die Führer dieser Vereinigungen der paternalistische Wohlfahrt (Charity) sehr kritisch gegenüber standen. Sie betrachteten es als Bestandteil ihrer Würde, nicht von solchen Almosen abhängig zu sein, sondern sich untereinander selbst helfen zu können. Ziel war, die Arbeiter zu emanzipieren, anstelle sie in Abhängigkeit von Staat oder Kirche zu bringen.

Diese selbstverwalteten Gesellschaften waren von vielfältiger Erscheinung, funktionierten aber mehr oder weniger nach dem gleichen Muster: Wer regelmäßige Beiträge in einen gemeinsamen Fonds leistete oder Hilfeleistung für andere in Naturalien erbrachte, war berechtigt, im Notfall entsprechende Leistungen zu beziehen. So konnten Unterstützungen bei Bewerbungsreisen, Umzügen, Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, außergewöhnliche Notfällen und bei Sterbefällen gewährt werden. Die Unterstützungsleistungen waren stets nur als äußerste Nothilfe konzipiert. Jeder Missbrauch wurde aufmerksam verfolgt und in der Regel mit dem Ausschluss geahndet. Darin unterschieden sich übrigens diese Gesellschaften nicht von ihren Kollegen der sozialistischen Gewerkschaften, welche vergleichbare Hilfskassen eingerichtet hatten.

In Deutschland sind vor allem die vom liberalen Amtsrichter Hermann Schulze aus Delitzsch initiierten Gewerkvereine und Genossenschaften zu nennen. Schulze-Delitzsch lehnte staatliche und andere „Hilfe von außen“ ab, weil sie unselbstständig und abhängig mache. Es sei eine deutsche Unsitte, immer nach dem Staat zu rufen, anstatt an Selbsthilfe zu denken. Sein Ansatz war, aus der Vereinigung vieler kleiner Kräfte eine so genannte Großkraft zu schaffen, wenn die persönliche Kraft eines Einzelnen nicht ausreicht. Denn die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Wirtschaft kann man nach seiner Auffassung nicht überwinden, darum muss man sich ihrer zum eigenen Vorteil bedienen. Er konzipierte unter anderem Vorschuss-, Kredit- und Darlehensvereine, Volksbanken, Rohstoff- und Konsumgenossenschaften, Krankenkosten-, Gesundheitspflege- und Magazinvereine (9). Volksbanken und Konsumgenossenschaften haben bis heute überlebt. Es ist bemerkenswert, dass Schulze-Delitzsch in den Diskussionen des 19. Jahrhunderts bereits nahezu sämtliche Probleme voraussah, die den heutigen Sozialstaat plagen (10). Er erkannte unter anderem:

Alle Hilfe jenseits der Gegenseitigkeit ist nur Almosen. Und Almosen demoralisiert, nimmt alle Selbstachtung, jeden Ansporn zu tüchtigem Tun, stumpft Intelligenz und Tatkraft, lähmt das Vertrauen auf sich selbst und überliefert der Trägheit und dem Leichtsinn. Nimmt man den Menschen die Sorge um die Existenz, so nimmt man ihm zugleich die beste Freude, die Freude am eigenen Schaffen und an dessen Früchten.

Die amerikanischen Fraternal Societies umfassten zu ihren Hochzeiten um 1920 etwa 18 Millionen Amerikaner, das waren damals etwa 30 % aller männlichen Erwachsenen. Wie sah die Wirklichkeit der Menschen im Rentenalter damals aus? Einer 1930 durchgeführten Erhebung des Staates New York zufolge waren 43 % der Alten aufgrund eigener Tätigkeiten, Ersparnisse oder Rentenansprüche (Versicherungen, Fraternal Societies) versorgt, während Familie und Freunde weitere 50 % unterstützten. Weniger als 4 % der Alten waren demnach abhängig von öffentlicher oder privater Fürsorge. Zeitgenössische Erhebungen berichten, dass die Kombination aus Eigenverantwortung, familiärer Unterstützung und kollektiven Selbsthilfeeinrichtungen auch in sehr armen Wohngegenden verantwortliches Verhalten nach sich zog. Besonders populär waren die Fraternal Societies bei der schwarzen Bevölkerung der USA, die häufig im Niedriglohnbereich arbeitete. Sie hielten hergebrachte kulturelle und zivilisatorische Standards aufrecht, übernahmen Verantwortung für ihre eigenes Leben, zeigten Stolz, Unabhängigkeit und Stärke. Für junge Schwarze war es in den 1920er Jahren, im Gegensatz zu heute, ebenso wahrscheinlich wie für Weiße, in Familien mit zwei Elternteilen aufzuwachsen (11). Auch das spricht dafür, dass der Sozialstaat die Übel, die er zu bekämpfen vorgibt, selbst verursacht hat.

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts waren auch die britischen Friendly Societies feste Bestandteile der Gesellschaft. Als die britische Regierung im Jahre 1911, dem Bismarck’schen Beispiel folgend, eine verpflichtende Sozialversicherung für 12 Millionen Menschen einführte, waren knapp 7 Millionen Mitglieder bereits in etwa 27.000 Friendly Societies versichert (mit stark steigender Tendenz) , weitere 2 Millionen waren in unregistrierten Vereinen auf Gegenseitigkeit organisiert. Im Augenblick ihres größten Erfolges wurden diese auf freiwilligem Zusammenschluss beruhenden Gesellschaften also vom Staat durch seine Zwangsversicherung verdrängt (12). Für die entsprechenden deutschen und amerikanischen Gesellschaften gilt im Prinzip dasselbe. Im Umkehrschluss gilt: wird der Sozialstaat abgeschafft, leben kollektive Selbsthilfeeinrichtungen wieder auf.

2) Private Versicherungen

Neben der Mitgliedschaft in kollektiven Selbsthilfeeinrichtungen, die praktisch Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit sind, besteht die Möglichkeit, sich über kommerzielle Versicherungen zu versichern. Das betrifft insbesondere Renten- und Krankenversicherung. Private Unternehmen können immer effizienter und effektiver arbeiten als Staatsbetriebe. Nicht weil sie klüger oder geschickter wären. Sie haben einfach die besseren Anreize: nach oben hin den Gewinn und nach unten hin das Risiko des Verschwindens. Im Ergebnis werden private Anbieter wesentlich mehr für dasselbe Geld leisten, sei es in der Altersversorgung, im Gesundheits- oder dem Bildungssystem. Auch die Schweiz hat diese Erfahrung machen müssen. Erst 1996 wurde ein Krankenversicherungszwang eingeführt. Zu diesem Zeitpunkt waren aber bereits 97% aller Schweizer freiwillig privat krankenversichert! Die gesetzlichen Vorgaben und Privilegien des neuen Zwangsversicherungsregimes setzen dieselben Fehlanreize, die an anderer Stelle bereits erörtert wurden. Die logische Folge: seither haben sich die Gesundheitskosten knapp verdoppelt und sind dreimal schneller gewachsen als die realen Einkommen (13).

Woanders wurde der umgekehrte Weg beschritten: Chile hat trotz alternder Bevölkerung bereits 1980 geschafft, was in Europa vielerorts als unmöglich gilt. Die Rede ist vom Wechsel der gesetzlichen Rentenversicherung vom Umlagesystem zum Kapitaldeckungsverfahren. Finanziert wurde der Übergang durch Steuern und (vorübergehende) Schuldenaufnahme. Es besteht nur noch eine einzige Verpflichtung, nämlich 10% des Bruttoeinkommens auf ein Rentensparkonto einzuzahlen. Wer möchte, kann freiwillig mehr bezahlen. Dafür gibt es zertifizierte private Rentenversicherungsanbieter, welche die entsprechenden Gelder anlegen und unter denen die Einzahler frei wählen können. Das Rentensparkonto ist das persönliche Eigentum des Arbeitnehmers. Ist die Altersrente von 65 Jahren erreicht, kann der Berechtigte seine Leistungen abrufen, aber auf Wunsch daneben trotzdem weiterarbeiten und zusätzlich verdienen. Umgekehrt kann altersunabhängig jeder, der Ansprüche angespart hat, die eine Rente in Höhe von mindestens 50% des Durchschnittseinkommens der letzten 10 Jahre ermöglichen, in den Ruhestand gehen. Nach 30 Jahren lautet das Fazit: Die Leistungen des neuen Systems liegen heute bereits um 50-100% über denen des alten Systems. Durchschnittlich werden Rentenquoten von ca. 80% des Durchschnittseinkommens der letzten zehn Jahre erreicht. Die Wachstumsrate der chilenischen Wirtschaft hatte sich aufgrund des dadurch neu gewonnenen Anlagekapitals über einen langen Zeitraum nahezu verdoppelt. Die Arbeitnehmer haben ein direktes Interesse an der Wirtschaft entwickelt, sind sie jetzt doch Anteilseigner der größten chilenischen Unternehmen. Demografische Probleme sind irrelevant (14).

Das von Chile etablierte System ist zwar immer noch eines, das tendenziell vom unmündigen Bürger ausgeht, der zu dumm ist, für sich selbst vorzusorgen und daher gezwungen werden muss. Es ist aber bereits ein Mischsystem, das weit überwiegend private Anteile und marktkonforme Anreize hat: etwa die Entscheidungsfreiheit zwischen mehreren Anbietern, die Selbstvorsorge und Übernahme von Eigenverantwortung. Die Illusion der Gratisleistung wird vermieden. Mehrere Staaten haben das chilenische Modell bereits übernommen, u.a. Australien. Derartige Systeme weisen den Weg ins 21. Jahrhundert. Sie zeigen überdies, dass der europäische Sozialstaat seinen Zenit als weltweit leuchtendes Ideal überschritten hat.

3) Familie, Freunde und Bekannte

Schließlich bleibt die älteste Form der Hilfe für die Schwachen: die Unterstützung durch Familie, Freunde und Bekannte. Ein guter Bekannter des Autors, ein Anhänger des Sozialstaates, gab sein eigenes Beispiel zu bedenken. Er habe vor einem halben Jahr überraschend die Diagnose Gehirntumor erhalten und eine sehr teure –zum Glück erfolgreiche- Operation war die Folge. Ohne Sozialstaat, so seine Auffassung, wäre diese Operation nicht möglich gewesen. Aber stimmt das? Nehmen wir an, ein Sozialstaat sei nicht existent und der Betroffene habe weder eine private Krankenversicherung noch wäre Mitglied einer kollektiven Selbsthilfeeinrichtung. Was wäre dann geschehen? Zunächst einmal hätte seine Familie versucht, das Geld für diese Operation zusammen zu bringen. Wäre das nicht gelungen, dann hätte sich die Familie an nahestehende Freunde gewandt mit der Bitte zu helfen. Diese hätten die Angelegenheit voraussichtlich im weiteren Bekanntenkreis publik gemacht und um Unterstützung gebeten. Es wäre also eine Anteilnahme einer relativ großen Gruppe von Menschen am Schicksal des Bekannten erfolgt. In Wirklichkeit hat kaum jemand davon erfahren. In echten existenzbedrohenden Situationen stehen Verwandte und Freunde zusammen, gerade weil sie sich und den Betroffenen kennen. Eine soziale Kontrolle zur Verhinderung von Missbrauch ist möglich und wirksam. Aber entscheidend an dem Beispiel ist, dass der gesamte Vorgang der Anteilnahme, der Suche nach Unterstützung und die echte, weil freiwillige Solidarität tatsächlich nicht stattgefunden haben. Und das liegt am Sozialstaat.

4) Karitative Einrichtungen

Nun gibt es unbestritten Fälle, in denen Familie oder Freundeskreis die notwendige Hilfe aus finanziellen Gründen nicht aufbringen können. Lediglich für solche Fälle, in denen daneben auch keine Versicherung oder Selbsthilfeeinrichtung eintritt, kommt eine mildtätige oder karikative Zuwendung in Frage. Das schließt etwa familien- und mittellose Alte, Schwerbehinderte oder chronisch Kranke mit sehr teuren Behandlungen ein, für die sich keine bezahlbare Versicherung finden lässt. Daten hierzu zeigen, wie auch das obige Beispiel aus dem Staat New York, dass die Gruppe dieser Personen in entwickelten Ländern in der Regel nicht mehr als 5 %, der Bevölkerung beträgt. Angesichts der Unsummen, die bereits heute im Bereich freiwilliger Wohltätigkeit (Charity) aufgewendet werden, scheint es schwer vorstellbar, dass hierzu nicht genügend Mittel aufgebracht werden können. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass in einem solchen Szenario die exorbitanten Ausgaben für den Sozialstaat wegfallen würde, also jeder Beschäftigte erheblich höhere Netto-Einkünfte hätte.

5) Staatliche Mindestsicherung

Die beschriebenen Unterstützungsmöglichkeiten über

– Kollektive Selbsthilfeeinrichtungen
– Private Versicherungen
– Familie und Freundeskreis
– Karikative Einrichtungen

sollten mithin ausreichend sein, um sämtliche Fälle von echter Bedürftigkeit in einer Gesellschaft aufzufangen. Doch möglicherweise bedarf es darüber hinaus noch einer Art Rückversicherung, um ruhiger schlafen zu können. Insofern könnte ergänzend eine (steuerfinanzierte) staatliche Mindestsicherung von Leib und Leben sozusagen als Überlebensgarantie erfolgen. Voraussetzung wäre der Nachweis der Bedürftigkeit und Nichtbestehen bzw. Nichtleistung der anderen Sicherungssysteme. Prüfung und Leistung erfolgen ausschließlich auf kommunaler Ebene! Denn nur in der noch überschaubaren Struktur einer Gemeinde/eines Stadtviertels kann eine soziale Kontrolle dergestalt stattfinden, dass Missbrauch vermieden oder doch weitgehend eingedämmt wird.

IV. Die Folgen: Aufschwung und stabile soziale Verhältnisse

Im Ergebnis ist das aufgezeigte mehrstufige Modell wesentlich sozialer als heutige Sozialstaaten. Denn es mobilisiert das Beste im Menschen. Dazu gehört die Übernahme von Verantwortung für sich und andere, echte Anteilnahme, die Stärkung von Familie und kleinen Gemeinschaften, Ideen- und Erfindungsreichtum zur Überwindung von Schwierigkeiten, freiwillige Solidarität und im Gegenzug Dankbarkeit sowie nicht zuletzt Stolz und Zufriedenheit, sein Leben aus eigener Kraft zu meistern.

Es ist weiter geeignet, Mündigkeit und Selbstständigkeit zu fördern. Denn es trägt zum Verstehen wichtiger Prinzipien bei. Da ist zum einen das bereits angesprochene Prinzip do ut des, also die Erkenntnis, dass Leistung auf Gegenleistung beruht. Ferner die Goldene Regel: Behandle Andere so, wie Du selbst behandelt werden möchtest und schließlich das Nichtaggressionsprinzip, also der Vorrang von freiwilliger Kooperation gegenüber Zwang und Enteignung. Ständige Verteilungskämpfe und das Aufwiegeln gesellschaftlicher Gruppen gegeneinander gehören der Vergangenheit an. Durch die Bildung von echten Kapitalrücklagen steigt die Investitionsquote. Weniger Kosten fallen an, bei gleichzeitig besserer sozialer Sicherung. Wirtschaftlicher Aufschwung und gesellschaftliche Stabilität sind die Folge.

V. Der Weg dorthin

Wie aber gelangt man zu einer neuen Sozialordnung angesichts der politischen Attraktivität und den Beharrungskräften des bestehenden Systems? Im 21. Jahrhundert wird die Welt neu zusammengesetzt. Bisher konnte sich jede Regierung darauf verlassen, dass ein Großteil ihrer produktiven Bürger immer im Lande blieb, auch wenn einzelne abwanderten. Das wird sich ändern, weil die Menschen rein technisch viel mobiler geworden sind und die Bindung an einen festen Ort, ein Land oder eine Region aus vielerlei Gründen schwächer geworden ist. Die Heimat der Zukunft wird Wahlheimat sein. Das hat Auswirkungen auf die Zukunft des Sozialstaates. Dessen Einwohner haben heute schon im Supermarkt unter unzähligen Produkten die Wahl, können zwischen verschiedensten Versicherungen für alle Lebensbereiche wählen und erhalten ständig neue technische Produkte angeboten. Warum sollten sie sich im Bereich sozialer Absicherung für eine Zwangslösung entscheiden, die teuer ist und schlecht funktioniert? Diese Diskrepanz zwischen staatlicher Bevormundung einerseits und täglicher Wahlfreiheit andererseits kann derzeit noch mit viel Propaganda und Sozialgetöse verschleiert werden. Das wird aber nicht auf ewig gehen. Die zunehmende Vernetzung der Welt sorgt dafür, dass sich neue Erkenntnisse schneller verbreiten als früher. Dazu gehört die Kunde von der Untauglichkeit des Sozialstaats und des Bestehens von Alternativen. Verweigert der Staat diese, wird ausgewandert. Die zunehmende Abwanderung erhöht dann wiederum den Druck im Inland, etwas zu ändern. Das Ende des über 100 Jahre alten Irrweges Sozialstaat könnte also schneller kommen, als man sich heute vorstellen mag.

Am leichtesten werden neue Modelle freilich in Staaten entstehen können, die sich gerade erst in Richtung einer vollindustrialisierten Gesellschaft entwickeln. Sie können beobachten, vergleichen und sich schließlich für ein System entscheiden. Denn einflussreiche, organisierte Interessengruppen, die vom Sozialstaat profitieren, sind bei Ihnen noch nicht entstanden. Aber auch in etablierten Sozialstaaten gibt es die Möglichkeit, in abgrenzbaren Verwaltungseinheiten oder für eine Gruppe von Freiwilligen neue Modelle zum Versuch zuzulassen. So könnte der „Wettbewerb der Sozialsysteme“ als Entdeckungsverfahren genutzt werden. Weil hier der Versuchscharakter im Vordergrund steht, dürfte die Zustimmung leichter erreichbar sein als bei einer Totalreform. Man stelle sich etwa vor, ein kleiner Schweizer Kanton votierte für den Ausstieg aus dem Schweizer Sozialstaat und für die Einführung des aufgezeigten fünfstufigen Sicherungssystems nach einer bestimmten Übergangszeit. Die Bevölkerung der Restschweiz würde dies billigen, weil sie sich die Auswirkungen der Alternativlösung anschauen möchte. Es wäre beim Vorliegen entsprechender Mehrheiten schwierig für die Politik, dies gänzlich zu unterbinden, selbst in Staaten, die keine direkte Demokratie kennen. Auf die Einrichtung derartiger Versuchszonen hinzuarbeiten, ist möglicherweise einfacher, als sich in das politische Tagesgeschäft zu stürzen und eine umfassende Sozialstaatsreform anzustreben. Das Bestehende zu bekämpfen, ist schwer, langwierig und oft wenig erfolgreich. Lohnender erscheint, etwas Neues zu schaffen, welches das Alte unattraktiv und überflüssig macht.

Dieser Artikel erschien erstmals beim Deutschen Arbeitgeber Verband (Teil 1 und Teil 2).


(1) Unter Sozialstaat sei verstanden ein Mitglieds- und Beitragszwang für die Bereiche Rente, Gesundheit und Arbeitslosigkeit bzw. deren Bezuschussung über Steuermittel. Daneben erfolgt eine Umverteilung durch eine steuerfinanzierte Grundversorgung für Bedürftige (Sozialhilfe), sowie nicht rückzahlbare Beihilfen und Zuschüsse für diverse Sachverhalte. Hinzu treten mannigfaltige Vorschriften zugunsten bestimmter Gruppen, insbesondere im Arbeitsrecht.

(2) Gerd Habermann, Der Wohlfahrtsstaat – Ende einer Illusion, Finanzbuchverlag, München 2013, 182

(3) Die Welt vom 18.10.2007, Heute Lokführerstreik – und der Gewerkschaftschef fährt zur Kur

(4) Christian Hoffmann, Scheitern anerkennen – Alternativen erkunden, in: Christian Hoffmann, Pierre Bessard (Hrsg.), Sackgasse Sozialstaat Alternativen zu einem Irrweg, Liberales Institut, Zürich 2012, 7-17; 9.

(5) In Deutschland, Habermann, 226.

(6) Weltwoche 51/52, 2014, Sozialstaat einfach.

(7) Hoffmann, 7.

(8) Michael von Prollius, Siamesische Zwillinge: Wohlfahrtsstaat und Wirtschaftskrisen, in: Christian Hoffmann, Pierre Bessard (Hrsg.), Sackgasse Sozialstaat Alternativen zu einem Irrweg, Liberales Institut, Zürich 2012, 57-77; 65.

(9) Habermann, 156f.

(10) Habermann, 158-161

(11) David Beito, Mutual Aid for Social Welfare: The Case of American Fraternal Societies, in: Tom Palmer (Hrsg.), After the Welfare State, Jameson Books, Ottawa 2012, 67-88.

(12) David Green, The Evolution of Mutual Aid, in: Tom Palmer (Hrsg.), After the Welfare State, Jameson Books, Ottawa 2012, 55-65.

(13) Pierre Bessard, Der lange Irrweg zum Schweizer Sozialstaat, in: Christian Hoffmann, Pierre Bessard (Hrsg.), Sackgasse Sozialstaat Alternativen zu einem Irrweg, Liberales Institut, Zürich 2012, 37-53; 49.

(14) José Pinera, Private Altersvorsorge in einer alternden Gesellschaft – Das chilenische Modell des Rentensparens, in: Christian Hoffmann, Pierre Bessard (Hrsg.), Sackgasse Sozialstaat Alternativen zu einem Irrweg, Liberales Institut, Zürich 2012, 143-164.

Photo: leo gonzales from Flickr (CC BY 2.0)

Sie packen an. Sie arbeiten zusammen. Sie schaffen ein Umfeld, in dem sich Menschen zusammentun, um Probleme zu lösen und Ziele zu erreichen. Die Bürgerplattformen sind die funktionierenden Alternativen zu politischen und bürokratischen Lösungsversuchen.

Ein Korrektiv zur Politik

Am Montagabend trafen sich etwa 650 Berliner auf dem Gelände der Rütli-Schule in Neukölln mit dem Regierenden Bürgermeister. Anders als das bei solchen glamourösen Veranstaltungen sonst oft der Fall ist, war das Event freilich nicht dazu da, um dem Bürgermeister eine Bühne zu bieten, sondern vor allem, um ihn zum Zuhören zu bringen. Den größten Teil des Abends über stellten sich die Bürgerplattformen der Berliner Stadtteile Treptow-Köpenick, Neukölln und Wedding-Moabit vor. Erst in der letzten Viertelstunde durfte der „Landesvater“ drei Fragen beantworten.

Diese Herangehensweise passt zu dem Format der Bürgerplattformen, die weder Ansammlungen von Wutbürgern sind noch von langweiligen, kritiklosen Claqueuren. Sie sehen sich als Korrektiv zur Politik. Es passt, dass sie über ihre finanziellen Ressourcen folgendermaßen Auskunft geben: „Um als gleichberechtigter Partner in der Auseinandersetzung mit Politik und Verwaltung auftreten zu können, legen wir großen Wert auf Selbstständigkeit im Handeln und eine finanzielle Unabhängigkeit von staatlicher Förderung.“ Die Organisationen finanzieren sich allein durch Mitgliedsbeiträge und Spenden.

Konkrete Probleme lösen

80 zivilgesellschaftliche Gruppierungen, die insgesamt etwa 100.000 Menschen in Berlin erreichen, haben sich in den drei Netzwerken zusammengeschlossen. Begonnen hat das dieses „community organizing“ in den 60er Jahren in den USA. Also in einer Zeit, in der die Frage der Rassentrennung, der Vietnamkrieg und allgemeine soziale Unruhen zu massiven Verwerfungen führten. Politiker waren in vielen Städten wie Chicago oder New York entweder tief korrupt oder buchstäblich nicht mehr imstande, ihren Aufgaben nachzukommen.

Einer der großen Vordenker des Konzepts war Saul Alinsky, eine höchst streitbare Persönlichkeit, der die dramatischen Zustände in den amerikanischen Großstädten und Problemzonen nicht mehr hinnehmen wollte. Alinsky lässt sich politisch kaum einordnen – Marxisten haben ihn ebenso zu vereinnahmen versucht wie auch jüngst die Tea Party. Er selbst sagte einmal im Interview mit dem Playboy: „Ich konnte niemals ein starres Dogma oder eine Ideologie akzeptieren, weder Christentum noch Marxismus. … Wenn Du denkst, Du habest einen direkten Draht zur absoluten Wahrheit, dann wirst Du doktrinär, humorlos und intellektuell verstopft.“ Ihm ging es nicht darum, eine bestimmte Heilslehre zu verwirklichen, sondern darum, konkrete Probleme zu lösen.

Verantwortung übernehmen

Alinsky ging es um Veränderung und Verbesserung. Er rief nicht nach der nächsten Lösung durch den politischen Apparat. Er versteckte sich nicht hinter hohlen Phrasen. Sondern er packte an und brachte zivilgesellschaftliche Gruppen an einen Tisch. Ein wichtiges Element seiner Arbeit war die Kontrolle der Politik durch engagierte Bürger – ein dringend notwendiges Element der Machtbeschränkung in dem immer verfilzter werdenden System seiner Zeit. Noch wichtiger aber und noch nachhaltiger war die Idee, dass Bürger selber Lösungen finden und an ihrer Verwirklichung mitarbeiten können.

Um einen Spielplatz wieder benutzbar zu machen, um Transportmöglichkeiten für die Alten im Stadtviertel zu schaffen, um den Bürgersteig zu reparieren, sogar um Schulen zu gründen – für all das braucht man zunächst weder Behörden noch Politiker. All das kann man auch selber machen – und oft viel effizienter. Das ist der eigentlich bemerkenswerte Kerngedanke des „community organizing“: Den Menschen die Augen dafür zu öffnen, dass sie selber Verantwortung übernehmen können. „Verantwortung übernehmen“ war dann auch die Formulierung, die bei dem Treffen der Bürgerplattformen am häufigsten fiel.

Hier wachsen positive Mentalitäten heran

Bei den Bürgerplattformen treffen unterschiedlichste Menschen aus verschiedensten Milieus aufeinander und ergänzen sich bei der gemeinsamen Aufgabe, Probleme zu lösen. Da ist der Küchenmeister aus dem Berliner Südosten, der zu DDR-Zeiten den offenen Konflikt mit den Herrschenden nicht gescheut hat. Neben ihm steht ein 15jähriger Schülersprecher, der eindrucksvoll sein Wort zu machen versteht. Da ist die Frau aus dem anatolischen Dorf, Mutter von sechs Kindern, die mit kräftiger Stimme ruft: „Ich wollte weiterkommen! Darum habe ich mich gebildet, habe über Physik und Chemie und über Geschichte gelernt – und bin nach Deutschland gekommen. Viele Leute aus meinem Dorf haben es mir nachgemacht, weil auch sie etwas erreichen wollten.“ Und daneben steht der bürgerliche Familienvater, der sich in seiner katholischen Gemeinde engagiert. Sprachschulen für indonesische Studenten, muslimische Pfadfindergruppen, das Projekt der Weddinger Bürgerschule – all dies entsteht aus der Mitte der Bürgerplattformen.

Was all diese Menschen eint, ist der Wille, Verantwortung zu übernehmen. Sie wollen weiterkommen und etwas erreichen: für sich, für ihre Familien, für ihre Nachbarn. Dieser Impuls ist ja in der Tat der Motor für echte Veränderung. Für Veränderung, die nicht von oben verordnet und organisiert ist, sondern die von den Menschen selbst gestaltet wird. Man kann nur hoffen, dass dieses Beispiel Schule macht und viele Nachahmer findet. Nicht nur, weil diese selbstverantwortliche Organisation Probleme effizienter und informierter löst. Sondern insbesondere auch, weil das Übernehmen von Verantwortung Menschen glücklicher macht. Wenn sie etwas erreicht haben, ist es ihr Spielplatz, ihre Kleiderkammer, ihre Schule. Und dieser verdiente Stolz wird sie prägen – sie und die nachwachsenden Generationen. Hier wachsen positive Mentalitäten heran und entstehen veritable Freiheitsinseln!

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Heute jährt sich die deutsche Kapitulation im Zweiten Weltkrieg zum 70. Mal. Es war das Ende der Kampfhandlungen, nicht aber des Krieges. Den Krieg haben nicht die Generäle und Staatsmänner beendet, sondern die Bürger, die sich für ein Miteinander anstatt für das Gegeneinander entschieden.

Ein Sieg ist nicht dasselbe wie Frieden

Vor zwei Wochen haben wir hier Betrachtungen darüber angestellt, dass uns Geschichtsschreibung oft ein falsches Bild vermittelt. Dass nicht Feldherren und Führer die entscheidenden Persönlichkeiten waren, sondern dass „der wirkliche Fortschritt für die Menschheit von Erfindern, Unternehmern, Denkern und deren Unterstützern ausging.“ Der heutige Jahrestag ist ein gutes Beispiel dafür, wie Geschichtsschreibung uns in die Irre führen kann. Klar, der 8. Mai war der Tag des Sieges der Alliierten über Deutschland. Er war auch, wie Richard von Weizsäcker in seiner bedeutenden Rede vor dreißig Jahren sagte, der „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Aber er war eben nicht der Tag, an dem der Krieg aufhörte.

Denn ein Sieg ist nicht dasselbe wie Frieden. Das liegt zum Teil daran, dass die Sieger auch alles andere als weiße Westen hatten: die pauschale Internierung von Japanern durch die US-Regierung, der Bombenterror über Dresden und vor allem Hiroshima und Nagasaki, ganz zu schweigen von dem verbrecherischen Regime Stalins, das dem Hitlers in Vielem verblüffend ähnelte. Das liegt aber auch daran, dass Krieg mehr ist als nur Kampfhandlungen – der auf den Zweiten Weltkrieg folgende Kalte Krieg hat das deutlich gezeigt. Krieg ist dort, wo Menschengruppen einander fürchten oder hassen, wo Gegeneinander herrscht und nicht Miteinander.

Krieg wird nicht von Geschützen beendet, sondern von ausgestreckten Händen

Darum bedurfte es noch etlicher Jahre bis der Zweite Weltkrieg tatsächlich vorbei war. Etlicher Jahre – und vor allem vieler mutiger Menschen, die es geschafft haben, Leid, Angst und Hass hinter sich zu lassen und aufeinander zuzugehen. Anstatt am 8. Mai Militärparaden zu veranstalten, sollten wir besser dieser Menschen gedenken und ihnen danken. Zumal es nicht überall gelang, den Krieg zu beenden. Denn die Panzer der Roten Armee standen bis Anfang der 90er Jahre noch auf deutschem Boden, um die kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa zu schützen. Abermillionen lebten noch Jahrzehnte lang in Unfreiheit und Unterdrückung.

Der Zweite Weltkrieg wurde nicht von Feldherren und Geschützen beendet, sondern von ausgestreckten Händen. Das waren gleich zu Beginn die Trümmerfrauen, die dem jahrelangen zerstörerischen Wüten ihren tapferen Willen zum Neubeginn entgegensetzten. Das waren die amerikanischen Bürger, die nur wenige Monate nachdem ihre Söhne und Ehemänner im Kampf gegen Deutschland gefallen waren, Millionen von CARE-Paketen hierher schickten. Das waren die Polen, Tschechen, Slowaken, Balten, die den vertriebenen Deutschen ein Stück Brot, ein Glas Milch oder einen Schlafplatz boten.

Frieden kommt durch das Bemühen jedes Einzelnen

Die unzähligen Verbrechen, die im Laufe des Krieges begangen wurden, haben dennoch lange zu einer Stimmung des Misstrauens, wenn nicht gar des Hasses beigetragen. Es waren noch weitere Schritte nötig, um dem Frieden zum Durchbruch zu verhelfen. Wie etwa die die Luftbrücke nach West-Berlin, das Treffen Adenauers und Ben Gurions in New York, Adenauers und de Gaulles in Reims, der Brief der polnischen Bischöfe vor fünfzig Jahren, der Kniefall Willy Brandts in Warschau. Noch viel wichtiger als all diese politischen Aktionen waren die kleinen Schritte, die Menschen Tag für Tag aufeinander zugegangen sind. Exemplarisch dafür steht die gemeinsame Aktion deutscher und französischer Jugendlicher beim Grenzübergang St. Germanshof in der Südpfalz, bei der im Sommer 1950 die Schlagbäume niedergerissen wurden. Schüler- und Studentenaustausch, gemeinsam durchgeführte sportliche und kulturelle Ereignisse, kleine alltägliche Versöhnungsgesten der Opfer auf allen Seiten und die Bereitschaft, nationale Ressentiments hinter sich zu lassen – all das hat den Zweiten Weltkrieg wirklich beendet und Frieden geschaffen.

Der 8. Mai ist eine gute Gelegenheit, um sich der Menschen zu erinnern, die unser heutiges Zusammenleben in Europa ermöglicht haben. Das waren ein paar Politiker. Es waren aber vor allem einfache Menschen, die durch ihren Mut und ihre Versöhnungsbereitschaft das Antlitz dieser Erde zum Besseren verändert haben. Frieden kommt nicht durch große Worte oder wohlklingende Verträge. Frieden kommt durch das Bemühen jedes Einzelnen. Der große englische Pazifist Richard Cobden stellte schon 1850 fest:

„Der Fortschritt der Freiheit hängt mehr an der Bewahrung des Friedens, der Verbreitung des Handels und der allgemeinen Bildung als an den Bemühungen von Regierungen und Außenministerien.“

Das Hambacher Fest gilt als Wiege der deutschen Demokratie. Am 27. Mai 1832 versammelten sich unweit des kleinen Städtchens Neustadt an der Weinstraße 20.000 bis 30.000 Bürger aus der Pfalz und den deutschen Ländern, um für Einigkeit, Recht und Freiheit einzutreten. Es war wohl der erste Flashmob in der deutschen Geschichte. Die Veranstalter rechneten mit 1.000 Teilnehmern, tatsächlich kam ein Vielfaches davon.

In der Geschichte Deutschlands sind solche Freiheitsmomente selten. Die Paulskirchenversammlung 1848/49 und die Deutsche Einheit 1989/90 gehören sicherlich dazu, aber darüber hinaus muss man lange suchen.

Wie gelang es in einer Zeit ohne Facebook und Internet, mit zahlreichen Grenzkontrollen und staatlicher Repressalien, wie Pressezensur und in Teilen sogar noch Leibeigenschaft, dennoch so viele Bürger zu bewegen, teils tagelange Anfahrtswege in Kauf zu nehmen, um mit Gleichgesinnten für die eigenen Ideale zu streiten? Was bewegte Menschen wie Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Johann Georg August Wirth dazu, die Lasten und Gefahren auf sich zu nehmen, sich mit den Mächtigen anzulegen und ihre eigene Existenz aufs Spiel zu setzen? Die offizielle Geschichtsschreibung nennt den Wunsch nach nationaler Einheit, bürgerlichen Freiheiten, staatsbürgerlicher Mitwirkung und die Verständigung der europäischen Völker als Hauptmotiv. Doch reichen diese abstrakten Ziele wirklich aus, um den Mythos Hambach zu erklären?

Wohl nicht! Für dieses historische Ereignis bedurfte es mehr. Es benötigte einen Moment in der Geschichte, der ein Zusammenkommen von Personen, die ihre Ideale konsequent vertreten, mit einem gesellschaftlichen Klima wie im Vormärz des 19. Jahrhunderts verbindet. In der Pfalz war dieses Klima des Aufbruchs und der Veränderung besonders vorhanden. Zum einen lernte die Pfalz mit der französischen Besatzung bis 1814 auch die bürgerlichen Rechte und Freiheiten eines „Code Civil“ kennen und zum anderen war die als Fremdherrschaft empfundene Zugehörigkeit der Pfalz zum Königreich Bayern mit weitgehenden Diskriminierungen verbunden. Eine hohe Steuerbelastung und verschärfte Zollbestimmungen für die Pfalz führten zu Armut und Frust in der Bevölkerung. Allein der so genannte „Holzfrevel“, also der Holzdiebstahl aus den Wäldern der Pfalz, brachte ein Fünftel der Bevölkerung vor Gericht.

Dennoch reichte die Not der Bevölkerung alleine nicht aus, damit diese Großdemonstration sich tatsächlich Bahn brechen konnte. Es bedurfte auch Personen, die ihre Ideale konsequent vertreten und umsetzen. Es gelang Wirth, Siebenpfeiffer und weiteren Mitstreitern schon Jahre vorher publizistisch über die Pfalz hinaus, ein Netzwerk von Gleichgesinnten aufzubauen. Mit der Gründung des „Preßvereins“ schufen sie einen organisatorischen Rahmen für eine Freiheitsbewegung, die in ihrer Spitze 5000 Mitglieder umfasste.

Für ungeduldige Freiheitsfreunde ist der Vormärz sehr lehrreich. Nicht alles geht von heute auf morgen. Vieles braucht seine Zeit und seinen Moment. Zwischen Hambacher Fest 1832 und der Paulskirchenversammlung mit der Verabschiedung der ersten deutschen Verfassung lagen immerhin 17 Jahre. Und vielleicht hätte es dieses Ereignis so nie gegeben, hätten Freiheitsfreunde wie Siebenpfeiffer und Wirth nicht die Courage besessen, mit Klugheit und Mut gegen die Macht der Herrschenden vorzugehen.

Siebenpfeiffer und Wirth schufen einen Freiheitsmoment in der deutschen Geschichte, der nicht durch seine Rationalität über Jahrhunderte zum Mythos wurde, sondern durch seine Emotionalität. Es war ein Fest der Freiheit, bei der zwar 25 politische Reden gehalten wurden, die von Wirth später auch publiziert und verbreitet wurden, aber im gesellschaftlichen Gedächtnis blieben die Bilder feiernder Menschen und das friedliche Zusammenkommen aus Nah und Fern auf dem Hambacher Schloss. Siebenpfeiffer hat den emotionalen Moment der Freiheit in einem Lied zum Hambacher Fest zusammengefasst. In der Schlussstrophe heißt es: „Frisch auf, Patrioten, den Berg hinauf! Wir pflanzen die Freiheit, das Vaterland auf!“

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