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Photo: Christopher L. from Flickr. (CC BY 2.0)

Von Robert Nef, Stiftungsratsmitglied des Liberalen Instituts der Schweiz, Zürich.

Die EU beruht auf einem veralteten, territorialen, etatistischen und korporatistischen Konzept, dessen Ursprünge in die Nachkriegszeit und in die Zeit des Kalten Krieges zurückreichen. Sie verfolgt explizit und implizit sechs Hauptziele: Friedens- und Verteidigungsunion, aussenpolitische Union, Wirtschafts-, Währungs-, Fiskal- und Sozialunion. Von den sechs Zielen sind aus liberaler Sicht lediglich das erste und dritte — und von diesem auch nur die Deregulierung, nicht aber die Harmonisierung und das organisierte Zusammenwirken von Lobbyisten und EU-Bürokratie (Crony Capitalism) — interessant. Die andern vier gefährden nicht nur die nationale Eigenständigkeit der Mitglieder, sondern grundlegende liberale Werte. Aufgrund der allzu ambitiösen Ziele hat die EU unabsehbare zentralistische Entwicklungstendenzen. Und weil wichtige Mitgliedsländer derzeit in Finanznöten stecken, übt sie deswegen zunehmend Druck auf die Schweiz aus.

Die EU ist von ihrer Entstehungsgeschichte und von ihren Strukturen her ein Versuch, die Krisen des national strukturierten, sozialdemokratischen Industriezeitalters auf supranationaler bzw. kontinentaler Ebene zu überwinden. Eigentlich werden aber die durch eine allgemeinverbindliche demokratisch legitimierte nationale Gesetzgebung auf den ersten Blick nicht mehr lösbaren Probleme, zum Beispiel in der Währungspolitik, in der Migrationspolitik und in der tickenden Zeitbombe der kollektiven Altersvorsorge, einfach auf die europäische Ebene gehoben. Die grosse Schwäche der EU im Bereich der Legislativen hängt mit der Tatsache zusammen, dass in einem Staatenverbund, der an sich noch weniger zentralistisch sein sollte wie ein Bundesstaat, mit der EU- Kommission eine einzige schlecht legitimierte zentralistische Institution geschaffen wurde, die angeblich die auf den Verfassungsvertrag abgestützten allgemeinverbindlichen Gesetze erlassen soll. Der Streit um die Gewichtung der nationalen Stimmenanteile bei der kollektiven Meinungsbildung lässt nichts Gutes ahnen. Was daraus folgt, ist eine Verstärkung der heutigen Exekutiv- und Richterherrschaft. Dies täuscht darüber hinweg, dass man einem Kontinent einen Zentralstaat aufzwingen will, dessen historisch-politische Strukturen allenfalls eine nach aussen offene Freihandelsassoziation und allenfalls noch einen auf Frieden und gemeinsame Sicherheit ausgerichteten Staatenbund nahelegen. Schon ein Bundesstaat mit einem funktionierenden Zweikammersystem, in dem die Kleinen, Bevölkerungsschwachen gleiche Mitbestimmungsmöglichkeiten hätten wie die Grossen, wäre – anders als in den USA und in der Schweiz – in der EU nicht konsensfähig. Weder die USA noch die Schweiz kennen übrigens die höchst fragewürdige Praxis des zentralstaatlichen „bail out“ eines bankrotten Gliedstaates.

Die EU ist mithin ein rückwärtsgewandtes Projekt, das im strukturkonservativen Denken des Merkantilismus, der korporatistisch gezähmten bzw. gefesselten Marktwirtschaft, des Kalten Krieges und des entmündigenden Daseinsvorsorgestaates verhaftet geblieben ist und das für die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts schlecht gerüstet ist. Die Europäer stehen vor der Wahl, ob sie durch noch mehr Regulierung, Zentralisierung, Umverteilung und Harmonisierung eine Legitimitätskrise und eine Vollzugskrise ansteuern wollen, oder ob sie noch rechtzeitig den Aufbruch wagen zu offenen Strukturen, in denen autonome Zivilgesellschaften mit kleinen, eigenständigen, schlanken und kostengünstigen politischen Strukturen und in grundsätzlich benutzerfinanzierten oder privatisierten Infrastrukturen friedlich konkurrieren und kooperieren, um unter vielfältigen Lösungen die jeweils adäquateste zu ermitteln und kontinuierlich zu adaptieren.

Mit dieser durchaus in der bürgerlichen Tradition verankerten Option hat die europäische Idee Zukunft. Die Europäer müssen ihre Vielfalt wahren und pflegen und den Weg zu einer neuen EFTA im ursprünglichen Sinn einer – New European Free Trade Association = NEFTA – beschreiten, einer nach innen und aussen offenen Gemeinschaft in der die Mitglieder hohe Autonomie geniessen. Aus diesem Grund sollten wir Europäer die Ambitionen der politisch-administrativen nationalstaats-ähnlichen Megastruktur und allfällige Weltmachtträume hinter uns lassen. Europa braucht enge und flexible wirtschaftliche und kulturelle Kontakte auf der Basis des fremdherrschaftsfreien Tauschs. Europa braucht auch jenen Frieden, den es im Lauf der Jahrhunderte immer wieder selbst zerstört hat. Als Basis einer gemeinsamen Sicherheitspolitik genügt ein robustes Friedensbündnis gestützt auf nationale Streitkräfte, welche die Defensive sicherstellen und interne und allenfalls gegenseitig wieder aufflammende Aggressionsgelüste im Keim ersticken können und auf international vernetzten aber grundsätzlich autonom funktionierenden Geheimdiensten zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität.

Anstelle des unlesbaren Verfassungsvertrags von Lissabon wäre ein kurzes Dokument wie die Magna Charta Libertatum oder der Bundesbrief der alten Eidgenossen in Erwägung zu ziehen. Freihandel entsteht nicht durch neue komplizierte bilaterale und multilaterale Regeln, sondern durch den von den Beteiligten selbstbestimmten, im eigenen Interesse offerierten und vollzogenen schrittweisen Abbau bestehender Schranken.

 

Photo: Joe deSousa from Flickr.com

Kulturpessimismus, Angst vor der Globalisierung, Innovationsfeindlichkeit und Besitzstandwahrung sind uralte Phänomene. Ängste und Sorgen, die heute auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums geschürt werden, haben schon vor fast 3000 Jahren Menschen verrückt gemacht.

Zeitlos: der Mythos der Verfallsgeschichte

Bereits Hesiod, nach Homer der älteste abendländische Schriftsteller, den wir kennen, hat in seinem Hauptwerk, der Theogonie, den Mythos der verschiedenen Zeitalter der Menschheit erzählt – als Verfallsgeschichte, an dessen Beginn das Goldene und an dessen Ende das Eiserne steht. Die Vorstellung, dass alles immer schlimmer wird, dass das Neue und Fremde auf jeden Fall schlechter ist als das Alte und Bekannte, scheint ein menschlicher Urmythos zu sein. Und bis heute erfreut er sich hoher Beliebtheit, obwohl doch der Blick zurück uns eigentlich eines Besseren belehren sollte. Wie wenig sich die Ängste von Grünen, Sozialisten und Konservativen von denen der Antike unterscheiden, zeigt auf anschauliche Weise ein Text des griechischen Schriftstellers Aratos von Soloi aus dem 3. Jahrhundert vor Christus.

Dieser Dichter aus dem antiken Kilikien, einem Gebiet, das heute im Südosten der Türkei liegt, hat der Nachwelt ein Werk hinterlassen, das die ganze Antike hindurch hoch im Kurs stand: Phainomena. Er beschreibt dort die Sternenwelt, durchbricht aber seine Beschreibungen immer wieder mit Anekdoten und Erzählungen – so auch über den Wechsel und Verfall der Zeitalter. Wenn man sich den Text genauer ansieht, dann kann man erkennen, dass viele der Ängste und Sorgen, die er beschreibt, noch heute in unseren Köpfen herumspuken. Diese Geschichte handelt von der „Gerechtigkeit“, die früher ganz offen auf der Erde herumwandelte, sich im Laufe der Zeit aber immer mehr zurückzog. Sehen wir uns ein paar Formulierungen genauer an:

Der widernatürliche Wettbewerb

Zu jener Zeit kannten die Menschen noch nicht das hasserfüllte Streben, den mäkelnden Wettbewerb oder das Lärmen des Krieges. Sie lebten vielmehr ein einfaches Leben.“ Heute würde man sagen: „Früher gab es noch nicht die Ökonomisierung aller Lebensbereiche“. Die Idee, dass das Bedürfnis, besser zu sein als andere – das Streben, der Wettbewerb – etwas moralisch Verwerfliches ist, haben mitnichten Zeit-Redakteure erfunden. Sie entspringt vielmehr unserem Denken in Kleingruppen, wie es Hayek und Popper so anschaulich beschrieben haben. Im Rahmen einer kleinen Gemeinschaft kann das Unterfangen, besser zu sein als andere, für den Rest der Gruppe bedrohlich sein. Wer im Konkurrenzkampf in einer so kleinen Gruppe unterliegt, konnte existentiell gefährdet sein. In einer Gesellschaft der Arbeitsteilung und des Tausches sind solche Ängste jedoch nicht mehr rational. Sie sind durch die Entwicklung der Marktwirtschaft längst überholt.

Aber viele wollen eben gerne zurück zu jenem einfachen Leben von früher. Nicht, weil sie auf Toiletten und Kitas, Auslandsstudium und Internet verzichten wollten. Sondern weil sie die Last der Moderne zu stark empfinden. Weil ihnen deren Unübersichtlichkeit und Schnelligkeit zu einer Qual wird. Sie wollen sich nicht mehr mit anderen messen und wollen Veränderung vermeiden. Sie wollen eine übersichtliche Welt, in der sie alles unter Kontrolle haben können. Die Sehnsucht nach dem einfachen Leben hat eben oft genauso viel mit der Abgabe von Verantwortung zu tun wie mit dem Bedürfnis zu kontrollieren und beaufsichtigen.

Antikapitalismus und Fremdenfeindlichkeit

Das grausame Meer war weit weg von ihnen und die Schiffe brachten noch nicht von Ferne her die Güter, die sie zum Leben brauchten.“ Das Misstrauen gegen Händler ist so alt wie der Handel selbst. Da spielt die Empörung mit hinein darüber, dass es Menschen gibt, die sich ihr Auskommen nicht im Schweiße ihres Angesichts und mit „ehrlicher Arbeit“ verdienen, sondern einfach nur, indem sie Waren vom einen zum anderen bringen. Die Gewinnmarge hat aus dieser Sicht etwas Betrügerisches, denn man schlägt etwas auf den Preis ohne eigentlich etwas dafür geleistet zu haben. Es sind die Vorfahren der Spekulanten und Heuschrecken, der gierigen Profiteure und Raubtierkapitalisten. Das Gegenteil dazu sind die einheimischen Bauern, deren Produkte man besser kaufen sollte – oder wie man im Großbritannien der 30er Jahre sagte: „Buy british!“

Und noch ein zweiter Aspekt spielt hinein in diese Aversion gegen den Händler: die Angst vor oder gar die Feindlichkeit gegenüber dem Fremden. Der Soziologe Georg Simmel hat das in seinem 1908 erschienen „Exkurs über den Fremden“ gut herausgearbeitet: „In der ganzen Geschichte der Wirtschaft erscheint der Fremde allenthalben als Händler bzw. der Händler als Fremder. Solange im wesentlichen Wirtschaft für den Eigenbedarf herrscht oder ein räumlich enger Kreis seine Produkte austauscht, bedarf es innerhalb seiner keines Zwischenhändlers; ein Händler kommt nur für diejenigen Produkte in Frage, die ganz außerhalb des Kreises erzeugt werden.“ Während die einen den Händler verachten, weil er nicht ehrlich arbeitet, sehen die anderen in ihm vor allem den Fremden, der eine Bedrohung der eigenen Lebenswelt darstellt, in der man es sich so schön eingerichtet hat. Noch einer jener Bereiche, in denen sich Antikapitalisten und Nationalisten die Hand reichen können.

Wir brauchen keine auf Erden wandelnde Gerechtigkeit!

Reichlich wurden ihre Bedürfnisse erfüllt vom Ochsen und Pflug und von der Gerechtigkeit, der Königin der Menschen und der gerechten Zuteilerin der Gaben.“ Wenn nur jemand gerecht zuteilt, dann ist für jeden genug da. Das ist der große Irrtum, der sich leitmotivisch nun schon über die Jahrtausende hinweg verbreitet. Aratos hätte durchaus schon bei seinem Landsmann Aristoteles nachschlagen können, der bereits hundert Jahre vorher in seiner „Nikomachischen Ethik“ zwischen Verteilungs- und Tauschgerechtigkeit unterschieden. Es gehört zum Wesen der Tauschgerechtigkeit, dass alle Beteiligten diesen Tausch durch ihre Zustimmung als vorteilhaft für sich und mithin als gerecht qualifizieren. Und erst durch diese Dynamik des Tauschens und Handelns kommen wir in eine Lage, dass unsere Bedürfnisse immer reichlicher (!) erfüllt werden können. Dazu braucht es keine auf Erden wandelnde Gerechtigkeit – ob sie im Gewand einer Göttin daherkommt oder in dem eines Politikers …

Was Aratos aus dem 3. Jahrhundert vor Christus mit den Konservativen, Grünen und Sozialisten des 21. Jahrhunderts verbindet, ist die Furcht vor Veränderung, vor dem Neuen und dem Unbeherrschbaren. Was sie unterscheidet ist, dass Aratos seinen Kulturpessimismus als intellektuelle Marotte pflegte, während Politiker besagter Couleur aus dieser Furcht politische Maßnahmen ableiten. Sie hemmen Entwicklungen und beschränken Freiheit. Und das nur, weil sie Bildern und Vorstellungen anhängen, die durch die Entwicklung der Menschheit seit den Tagen des Hesiod und des Aratos Generation um Generation widerlegt worden sind.

Wissen Sie übrigens, wer es in Hesiods Erzählung war, der das Ende des Goldenen Zeitalters einläutete? Prometheus – indem er den Menschen das Feuer brachte und sie aus der Abhängigkeit von den Göttern befreite!

Photo: Global Justice Now from Flickr (CC BY 2.0)

Kritiker des Freihandelsabkommens TTIP formieren sich. Nicht erst seit der Großdemonstration am 10. Oktober in Berlin. Von links bis rechts gehen Tausende auf die Straße und malen die Knechtschaft des Kapitalismus an die Wand. Sozialabbau und Umweltverschmutzung seien die Folgen, und die Großkonzerne würden sich über internationale Schiedsgerichtsverfahren am Steuerzahler schadlos halten. In dieses Horn blies am Montag auch die ARD in der Sendereihe „Die Story im Ersten“. „Konzerne klagen – wir zahlen“ war der Titel und auch der ausschließliche Inhalt der halbstündigen Sendung. Eine Differenzierung war der dem Grundversorgungsauftrag verpflichtete „Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland“, neudeutsch ARD, erst gar nicht eingefallen.

Stattdessen wurde „investigativ“ dargestellt, dass Anwaltskanzleien in den USA sich auf internationale Schiedsgerichtsverfahren spezialisierten und damit viel Geld verdienen. Wer hätte das gedacht? Skandal! Was sagen die Autoren denn dazu, dass sich hierzulande Anwälte auf Ehescheidungen oder Nachbarschaftsstreitereien konzentrieren und damit gutes Geld verdienen. Das kann doch nicht richtig sein, oder?

Schiedsgerichte sind richtig und notwendig. Sie sind auch nichts Ungewöhnliches. Der Kaninchenzüchterverband hat eins, der „Bund für Umwelt und Naturschutz“ (BUND) hat eins und der Deutsche Gewerkschaftsbund hat auch eins. Deren private Gerichte tagen nichtöffentlich, ihre Richter müssen nicht im Hauptberuf Richter sein und eine Revision vor einem ordentlichen staatlichen Gericht ist ebenfalls nicht möglich. Kein Vereinsmeier und kein Gewerkschaftsfunktionär käme deshalb auf die Idee, diese privaten Schiedsgerichte an einen staatlichen Gerichtshof zu verlagern. Und der DGB würde mit Recht sagen: „Was interessiert das den Deutschen Arbeitgeberverband wie wir unsere internen Streitigkeiten beilegen?“

Internationale Schiedsgerichte schützen Eigentümer vor dem willkürlichen Zugriff des Staates auf sein Hab und Gut. Das passiert nicht nur in Bananenrepubliken oder bei despotischen Herrschern, sondern überall wo der Rechtspositivismus wütet. Immer dann, wenn sich politische Mehrheiten ändern und die neuen Machthaber aus ideologischen Gründen das Eigentum Einzelner aushöhlen, mit Auflagen versehen oder kalt enteignen wollen.

Die Methoden sind in unserer Hemisphäre vielleicht etwas subtiler, eleganter und gewiefter. Das Ergebnis ist jedoch das Gleiche: die Mehrheit greift dem Einzelnen in die Tasche. Dass dies Unternehmen, die ihre Waren und Dienstleistungen anderen auf dieser Welt anbieten wollen, verhindern wollen, ist doch nur gut und richtig. Was spricht dagegen, die Konsumenten dieser Produkte über die Beschaffenheit und Qualität entscheiden zu lassen und nicht die Regierung?

Als Beispiel hat die ARD die Klage des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall gegen das Land Hamburg um das Kohlekraftwerk Moorburg angeführt. Der CDU-Senat bewilligte 2005 das Projekt. 2008 verteuerte die grüne Umweltsenatorin mit immer neuen Auflagen die Investition. Dagegen klagte Vattenfall vor einem internationalen Schiedsgericht auf Schadenersatz von 1,4 Milliarden Euro. Dieser Druck führte dazu, dass das Land Hamburg sich auf Vattenfall zubewegte und man sich anschließend außergerichtlich einigte.

Ohne diese Klagemöglichkeit wäre die Investition für Vattenfall unrentabel geworden. Schiedsgerichte schaffen Rechtssicherheit für ausländische Investoren. Sie müssen sich nicht auf nationale Richter verlassen, die vom dortigen Staat bestellt und bezahlt werden.

Gerade Schiedsgerichte sind daher ein großer Verdienst der Freihandelsbewegung auf dieser Welt. Sie disziplinieren Regierungen. Denn jede Rechtsänderung, die enteignungsgleiche Wirkung entfaltet, führt zu Schadensersatzansprüchen der Investoren gegen diesen Staat und seine Regierung. Sie sind ein Entmachtungsinstrument. Sie zwingen die Regierungen und Parlamente, eine zweckunabhängige Rechtsordnung zu schaffen, die für alle gleich ist. Jetzt könnten Kritiker einwerfen, dass diese internationalen Schiedsverfahren heimischen Unternehmen gegenüber der eigenen Regierung versagt bleiben und dies doch ungerecht sei.

Das stimmt, daher ist zu überlegen, ob diese positive Wirkung der Entmachtung des Staates auch auf Unternehmen, Institutionen und Bürger in unserem Land ausgeweitet werden sollte. Warum sollen Schiedsgerichte nur dem BUND, ver.di oder dem Bauernverband vorbehalten sein? Warum nur innerhalb eines Vereins oder Organisation und nicht gegenüber einer Kommune, dem Land oder dem Bund? Die Gleichheit vor dem Recht wäre ein Stückchen mehr realisiert.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Protoplasma Kid/WikimediaCommons (CC-BY-SA 4.0)

Viele haben darüber spekuliert, ob Angela Merkel wegen ihrer Flüchtlingspolitik den Friedensnobelpreis bekommt. Nun ist doch nichts daraus geworden, und sie muss sich jetzt wohl wieder mit den Folgen ihrer einladenden Geste an die Flüchtlinge in Ungarn beschäftigen. Deren Konsequenz ist wohl viel weitreichender als der aktuelle Flüchtlingsstrom nach Deutschland. Ihr Handeln stellt das wesentliche Element der europäischen Einigung infrage. Dies ist die Freizügigkeit von Personen, Waren- und Dienstleistungen sowie Kapital.

Auf diesen vier Grundfreiheiten basiert die Idee der europäischen Einigung. Die Flüchtlingskrise rüttelt am Fundament dieser Idee. Denn wenn auf der einen Seite die Außengrenzen der EU zu löchrigem Käse werden und gleichzeitig die Flüchtlinge durch halb Europa reisen können, um in die Sozialsysteme ihrer Wahl einwandern zu können, dann mag das durch den Appell der Kanzlerin („Wir schaffen das!“) eine Weile gutgehen, aber schon bei näherer Betrachtung sprengt diese Entwicklung das Fundament der europäische Idee hinweg. Wenn die Personenfreizügigkeit in Europa durch den Bruch der Regeln des Schengener Abkommens infrage gestellt wird, dann dauert es nicht mehr lange, bis auch Waren wieder an der Grenze gestoppt werden und Investitionen im europäischen Ausland von der dortigen Regierung genehmigt werden müssen. Es wäre nicht nur der Schritt in die Vorkriegsjahre des letzten Jahrhunderts, sondern sogar ein Rückfall ins frühe 19. Jahrhundert.

Aus diesem Grund wäre es ein starkes Signal des norwegischen Nobelpreis-Komitees gewesen, wenn es die Chance genutzt hätte, den Freihandel als friedensstiftendes Element des Zusammenlebens auf dieser Welt herauszustellen. Vielleicht hätte das Komitee, den vor 150 Jahren verstorbenen geistigen Vater der Freihandelsidee, den Briten Richard Cobden, postum damit ehren sollen. Damit hätte es den stockenden Verhandlungen der Welthandelsorganisation WTO wieder Lebensmut einhauchen und einen aktiven Beitrag gegen die Armut in dieser Welt leisten können.

Cobden, der in ärmlichsten Verhältnissen als viertes von elf Kindern eines Farmers in Sussex aufwuchs, bekam früh zu spüren, welche Folgen Zölle und Exportsubventionen für die Menschen haben. Sie führten zur Verarmung weiter Teile der Bevölkerung und zu Hungersnöten in England. Doch damals, und in weiten Teilen auch heute noch, glaubten Ökonomen und Politiker, dass die wachsende Zahl der Bevölkerung durch die landwirtschaftliche Produktion nicht ernährt werden könne. Der Glaube, dass dies nur durch eine Politik der staatlichen Geburtenkontrolle erreicht werden kann, ist bis in die heutige Zeit zum Beispiel der Geist der Ein-Kind-Politik in China.

Die Theorie ist nicht nur durch den technischen Fortschritt in der Landwirtschaft, sondern auch durch den Freihandel seit langer Zeit widerlegt. Es herrschen in Teilen dieser Welt nicht deshalb Hungersnöte, weil es zu wenig zu essen gibt, sondern weil sich Länder und Regionen abschotten, ihre Unternehmen einseitig subventionieren und Entwicklungs- und Schwellenländer hindern, ihre Waren auf dem Weltmarkt anzubieten. Viele Länder tragen durch Kriege, Korruption und Vetternwirtschaft zu dieser Mangelwirtschaft bei. Und auch die Politik der Abwertung der eigenen gegenüber der fremden Währung ist eine moderne Form der Subvention. Sie ist die subtile Art, der Exportwirtschaft einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen.

Offene Märkte, so Cobdens Botschaft, nutzen dagegen nicht nur wenigen Privilegierten, sondern allen. Denjenigen, die Waren produzieren, und denjenigen, die diese kaufen wollen. Dabei ist es unerheblich, ob diese im eigenen Land beheimatet sind oder in einem fremden Land. Und sein entscheidendes Erbe für die heutige Zeit ist, dass wahrscheinlich keine Entwicklung friedensstiftender ist, als der Freihandel. Wer Handel treibt, sich austauscht, sich als Unternehmer in die Abhängigkeit der Konsumenten begibt, greift nicht zur Waffe, damit die Waren gekauft werden, sondern er hegt und pflegt seine Kunden, damit sie wiederkommen und noch mehr Waren von ihm kaufen.

Der verhinderte Preisträger Cobden schrieb schon im April 1842: „Der Freihandel wird unweigerlich, indem er die wechselseitige Abhängigkeit der Länder untereinander sichert, den Regierungen die Macht entreißen, ihre Völker in den Krieg zu stürzen.“

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 10. Oktober 2015.

Photo: Rae Allen from Flickr (CC BY 2.0)

Schiedsgerichte wären eine spannende und innovative Möglichkeit, eine größere Vielfalt und mehr Auswahlmöglichkeiten in unserem Rechtssystem zur Verfügung zu stellen. Dass das Europäische Parlament sie ablehnt, ist ein Fehler.

Keine Herrschaft der Hinterzimmer

Die Entscheidung der Europaparlamentarier, der Kommission das Mandat für die TTIP-Verhandlungen mit den USA zu geben, ist in dem ganzen Wirbel um Griechenland ein wenig untergegangen. Die üblichen Bedenkenträger waren so sehr mit der Causa Grexit beschäftigt, dass der große Aufschrei ausblieb. Sie hatten sich aber auch in einem nicht unwichtigen Punkt durchgesetzt: Das Investitionsschiedsabkommen ISDS soll aus den Verhandlungen ausgeschlossen werden. Dieses Abkommen sollte Investoren dies- und jenseits des Atlantiks die Möglichkeit geben, Streitfälle mit staatlichen Stellen zu lösen.

Diese Art der Problemlösung ist mitnichten neu. Wie die Befürworter des Abkommens in den letzten Monaten nicht müde wurden, herauszustellen, haben europäische Staaten in den letzten 60 Jahren über 1400 solcher Investitionsschutzabkommen abgeschlossen. Weltweit gibt es über 2000 von ihnen. Die meisten Schiedsverfahren werden von der Weltbank durchgeführt, also nicht in irgendwelchen Hinterzimmern von Großkonzernen. Überhaupt Großkonzerne: Die Kritik am ISDS bezieht sich gebetsmühlenartig auf die Klage von Vattenfall gegen Deutschland im Zusammenhang mit dem Atomausstieg. Unabhängig davon, wie man zu diesem konkreten Fall steht, muss man anerkennen: er ist nicht repräsentativ.

Schiedsgerichte schaffen in den meisten Fällen Rechtssicherheit

Wirft man einen Blick in die Berichte des „Internationalen Zentrums zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten“ der Weltbank (ICSID), das einen großen Teil der Streitfälle verhandelt, kann man Einblicke gewinnen, die in deutlichem Gegensatz stehen zu dem Standard-Bild, das hierzulande in der Öffentlichkeit gezeichnet wird. 150 Länder sind Mitglieder des Abkommens, darunter fast alle EU-Staaten, die USA, China und Japan. Von allen Fällen, die je dort verhandelt wurden, sind nur 4 % der Fälle gegen Staaten Westeuropas und weitere 4 % der Fälle gegen Staaten Nordamerikas verhandelt worden. Ein großer Teil der angeklagten Staaten liegt in Regionen, in denen das staatliche Rechtssystem zumindest instabil ist: 26 % in Südamerika, 26 % in Afrika und dem Mittleren Osten, 25 % in Osteuropa und Zentralasien.

Offensichtlich ist das Instrument internationaler Schiedsgerichte also eine Möglichkeit, zusätzliche Rechtssicherheit für Investoren herzustellen. Davon sind übrigens auch sehr viele Mittelständler betroffen, die in Gegenden mit ungenügendem Rechtsschutz operieren. Von Vorteil sind diese Optionen zusätzlicher Rechtssicherheit zudem nicht nur für die Investoren, sondern auch für deren Partner vor Ort, für deren Angestellten und Kunden. Wenn es gelingt, die Produktionsstätte eines deutschen Unternehmers etwa in Kenia, Uruguay oder Pakistan vor der Willkür von Politik und Bürokratie zu schützen, ist das ja auch für diejenigen von Vorteil, die dort ihren Lebensunterhalt verdienen oder als Händler, Transporteure und Konsumenten von den Produkten profitieren.

Die Illusion der Unabhängigkeit

Nun ist der Einwand nicht ganz unberechtigt, dass die EU und die USA ja doch weitgehend funktionsfähige Rechtssysteme haben. (Wobei gerade die scharfen TTIP-Kritiker das im Blick auf die USA wahrscheinlich verneinen würden, weshalb sie durchaus für das ISDS sein könnten …) Ob freilich die nun gefundene Regelung, staatlich benannte Richter für solche Streitfälle einzusetzen, die bessere Lösung ist, kann mit Fug und Recht angezweifelt werden. „Aus Schiedsstellen, die zum Missbrauch einladen, haben wir unabhängige Gerichte gemacht“, jubelte der Europaabgeordnete Bernhard Lange nach der Entscheidung. Diese Sicht der Dinge geht von einer Illusion aus: Nämlich von der Illusion, dass ein Richter, sobald er nicht durch eine Institution des Staates ernannt wurde, zum Rechtsmissbrauch neige, während umgekehrt staatlich eingesetzte Richter automatisch unabhängig seien.

Richter sind Menschen, unabhängig davon, ob sie eine staatliche Robe tragen oder nicht. Richter machen Fehler und können korrupt sein. Korruption ist dabei definitiv nicht nur mithilfe von Geld durchführbar. Auch die Aussicht auf Ämter oder Beförderungen kann Menschen, und eben auch Richter, dazu bringen, Recht, Gesetz und Gerechtigkeit zu ignorieren. Dennoch sind Richter, ob staatlich legitimiert oder nicht, wohl tendenziell eher immun gegen Korruption. Das liegt an ihrem Berufsethos. Das liegt aber auch daran, dass natürlich alle Parteien, die für die Einsetzung eines Richters zuständig sind, ein Interesse an dessen Integrität haben. Würden sich etwa die Richter des ICSID durch besondere Nähe zu Staat oder Unternehmen auszeichnen, wäre es wohl bald vorbei mit dessen gutem Ruf.

Was wollen die Gegner der Schiedsgerichte eigentlich wirklich?

Private Schiedsgerichte laden weder signifikant mehr noch weniger als staatliche Einrichtungen zum Missbrauch oder auch nur zum Irrtum ein. Sie können aber ein wichtiges Korrektiv und eine wichtige Ergänzung zu bereits bestehenden staatlichen Gerichten sein. Nicht nur auf dem Gütermarkt ist Wettbewerb ein Instrument, um bessere Lösungen zu finden. Wenn man nicht davon ausgeht, dass es Menschen gibt, die, weil gütiger, weiser und integrer als andere, bestimmt sind, als Philosophenkönige zu herrschen, dann kann auch für staatliche Institutionen und Organisationen der Wettbewerb ein guter Weg sein, um innovativ zu sein und sich zu disziplinieren.

Man könnte ins Grübeln kommen angesichts von Bernhard Langes Freude darüber, dass sich Investoren aus den USA und der EU fortan nur noch an staatlich ernannte Richter sollen wenden können. Speist sich sein Wohlgefallen gar daraus, dass die Politik auch in Zukunft nicht darauf wird verzichten müssen, die Rechtsprechung zu kontrollieren? Wird hier gar unter dem Vorwand, dem Missbrauch der Justiz durch zahlungskräftige Unternehmen vorbeugen zu wollen, der Boden bereitet für den Missbrauch der Justiz durch die Politik? Wenn man die Stimmungsmache im Europäischen Parlament gegen große Konzerne wie Google beobachtet, könnte man fast zu diesem Schluss kommen. Es bleibt abzuwarten, ob die Ablehnung privater Schiedsgerichte wirklich der Herrschaft des Rechts dienen wird.