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Photo: Wynand van Poortvliet from Unsplash (CC 0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Student der Volkswirtschaftslehre.

Als „CSR“ oder auch Corporate Social Responsibility wird die unterstellte unternehmerische Verantwortung gegenüber der sie umgebenden Gesellschaft bezeichnet. Die Entscheidung eine solche Unternehmenspolitik einzuführen, sollte in den Händen der Unternehmensführung liegen, und nicht über staatlichen Zwang forciert werden.

„Tue Gutes und sprich darüber“ ist seit dem letzten Jahr mit der Umsetzung der europäischen CSR-Richtlinie für Unternehmen ab 500 Mitarbeitern verpflichtend. Das Stichwort ist Corporate Social Responsibility. Die Unternehmen sind verpflichtet, jährlich über ihr freiwilliges Engagement zu berichten. CSR-Regeln sollen dafür sorgen, dass sich Unternehmen freiwillig über gesetzliche Bestimmungen hinaus für Sozial- und Umweltbelange einsetzen. Der Staat sollte sich jedoch auf seine Hauptaufgabe beschränken, Regeln zu definieren und durchzusetzen, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen. Eine Rechenschaftspflicht über „freiwillige“ wohltätige Verhaltensweisen gehört nicht dazu.

Was ist CSR?

Als Corporate Social Responsibility (CSR) wird die Verantwortung von Unternehmen für die Auswirkungen ihrer Handlungen auf die Gesellschaft bezeichnet. Darunter werden sowohl soziale als auch ökologische und ökonomische Aspekte des unternehmerischen Handelns verstanden. Viele Unternehmen verwenden den Begriff CSR und Nachhaltigkeit synonym. Das Engagement der Unternehmen geht dabei über die gesetzlichen Vorschriften hinaus. Die Aktivitäten sind vielfältig und reichen von Mitarbeiterzufriedenheit, Energieeffizienz oder Mindeststandards in der Lieferkette bis hin zu Spendenaktionen für Bedürftige.

Doch um eine ausschließlich freiwillige Übernahme von Verantwortung handelt es sich nicht mehr. Unternehmen müssen nicht mehr nur über ihre freiwilligen nicht-finanziellen Tätigkeiten berichten. Seit der letzten Reform des Vergaberechts im Jahr 2016 können CSR-Kriterien zudem in Vergabeanforderungen öffentlicher Ausschreibungen aufgenommen werden.

CSR: Billige und motivierte Mitarbeiter

Mit CSR-Aktvitäten verfolgen Unternehmen andere Ziele als zusätzliche Gewinne – so die Idee. Allerdings können CRS-Aktivitäten Nebenwirkungen haben, die nicht im Sinne der CSR-Idee sind.

So haben drei amerikanische Ökonomen den Effekt von CSR auf das Verhalten von Angestellten untersucht. Zunächst gründeten sie eine Firma und schalteten auf einem Internetportal verschiedene Jobangebote mit unterschiedlichen Lohnangaben. Zudem versahen die Wissenschaftler manche Jobbeschreibungen mit dem Zusatz, dass die Einnahmen der Firma dafür verwendet werden, unterprivilegierten Kindern den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Dieses Statement führte zu gut 33 Prozent mehr Bewerbungen im Vergleich zu normalen Jobanzeigen. Die gleiche Anzahl an Bewerbern konnte mit einem 27 Prozent geringeren Lohn gefunden werden.

Außerdem waren Bewerber auf Stellen mit CSR-Beschreibung anschließend 10 bis 25 Prozent produktiver. Möglicherweise signalisieren CSR-Regeln, dass ein Unternehmen ein angenehmer Arbeitgeber ist und sie veranlassen motivierte Bewerber dazu, einen geringeren Lohn zu akzeptieren. Es ist jedoch fraglich, ob geringere Löhne für besonders engagierte Personen von den politischen Unterstützern der CSR-Regeln beabsichtigt sind.

CSR: Lizenz für unmoralisches Verhalten?

Lassen sich durch CSR die Lohnkosten senken, spricht aus Unternehmenssicht einiges für CSR-Regeln. Doch ein Experiment von zwei amerikanischen Wissenschaftlern zeigt anschaulich, dass die Einführung von CSR-Regeln in einem Unternehmen unerwünschte Effekte auf die Qualität der Arbeit von Mitarbeitern haben kann.

Die Wissenschaftler gründeten ebenfalls eigens für das Experiment ein Unternehmen und warben auf einer Onlineplattform 3.000 Arbeitnehmer an, die eine relativ einfache Aufgabe erledigen sollten. Die amerikanischen Forscher fotografierten Seiten aus deutschen Büchern, die die amerikanischen Angestellten abtippen sollten. Dabei bestand die Möglichkeit, den Arbeitgeber zu betrügen. Wenn die Mitarbeiter den Text für unleserlich hielten, konnten sie das betreffende Foto überspringen und wurden trotzdem bezahlt. Die Texte waren alle leserlich. Wenn die Angestellten also ein Bild nicht abtippen, betrogen sie ihren Arbeitgeber.

Der Anteil der Betrugsfälle lag um 20 Prozent höher in der Gruppe der Mitarbeiter, die dachte, sie würde für einen sozial verantwortlichen Arbeitgeber arbeiten.

Dieses Phänomen wird auch als „moral-licensing“ bezeichnet. Menschen die überzeugt sind, in einem Bereich etwas Gutes getan zu haben, fühlen sich bei anderen Aktivitäten weniger zu moralischem Verhalten verpflichtet.

Verdeckter Lobbyismus

Zudem ist zweifelhaft, ob Unternehmen mit ihren CSR-Aktivitäten tatsächlich wohltätige Ziele verfolgen. Einige Firmen scheinen unter dem Deckmantel sozialer Aktivitäten Lobbyismus zu betreiben. Dies zeigen vier amerikanische Ökonomen in einem aktuellen Papier. Unternehmen spenden vor allem an gemeinnützige Organisationen in Kongressbezirken in den USA, deren Vertreter in einem für das Unternehmen wichtigen Ausschuss sitzen.

Aufgabe von Unternehmen und Aufgaben des Staates

In einer Marktwirtschaft hält der Wettbewerb unter Anbietern sie dazu an, ihren Kunden ein möglichst attraktives Produkt zu einem niedrigen Preis anzubieten und Ressourcen möglichst effizient einzusetzen – also nicht zu verschwenden. Das ist ihre primäre Aufgabe.

Wie die Unternehmen, sollte sich auch der Staat auf Aufgaben konzentrieren, die er relativ gut wahrnehmen kann. Zu seinen Kernaufgaben gehört, einen Regelrahmen zu setzen und durchzusetzen, der ein friedliches Zusammenleben ermöglicht. Schadhaftes Verhalten einzelner soll er unterbinden. Es gehört nicht zu den Staatsaufgaben, erwünschtes Verhalten beispielsweise in Form von CSR-Aktivitäten einzufordern.

Verantwortliches Handeln: Viele Gesichter

Für manche Unternehmen gilt die alte Weisheit, dass sie Gutes tun und darüber sprechen sollten – etwa, wenn Kunden diese Aktivitäten honorieren. Andere Unternehmen können zu der Überzeugung kommen, dass „Tue Gutes und schweig“ die richtige Strategie ist. Schließlich mögen einige Unternehmen gänzlich auf CSR verzichten, da für sie die Nachteile die Vorteile überwiegen.

Diese vielfältigen Entscheidungen sollte der Gesetzgeber im Falle unternehmerischer Entscheidungen ebenso respektieren wie im Falle individueller privater Entscheidungen. Unterschiedliche Entscheidungen bedeuten nicht, dass die einen verantwortlich handeln und die anderen nicht.

Für und Wider CSR gibt es gute Gründe. Eine staatlich verordnete Hochglanzbroschüre ist für verantwortliches unternehmerisches Handeln gewiss nicht nötig.

 

Zuerst erschienen bei IREF.

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Student der Volkswirtschaftslehre, ehemaliger Praktikant bei Prometheus. 

Das bedinungslose Grundeinkommen – kurz BGE – ist aktuell ein groß diskutiertes Projekt in der Arbeits- und Sozialpolitik. Das Konzept beinhaltet die regelmäßige Auszahlung eines festen Betrags an jeden Bürger. Bisher ist die empirische Datenlage zu den Folgen sehr dünn. Studien aus den USA aber zeigen aber auf, dass der Trend in Richtung Reduzierung des Arbeitsangebots geht.

Das bedingungslose Grundeinkommen sorgt in letzter Zeit für hitzige Diskussionen. Über ideologische Grenzen hinweg finden sich Befürworter und Gegner. Die Auswirkungen einer Einführung sind umstritten. Kritiker befürchten, dass die Menschen den Umfang ihrer Erwerbsarbeit einschränken und so die Finanzierung des bedingungslosen Grundeinkommens gefährden würden. Ein bedingungsloses Grundeinkommen wurde noch nie in einem größeren Maßstab in einem Land eingeführt. Experimentelle Ergebnisse, die Rückschlüsse darauf zulassen, wie Menschen auf ein bedingungsloses Grundeinkommen reagieren, sind deshalb leicht zu überschauen.

1.000 Euro für Alle

Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine regelmäßige Zahlung an alle Bürger, unabhängig von ihrer finanziellen Situation. Es würde durch Steuereinnahmen finanziert werden. Im Gespräch sind beispielsweise um die 1.000 Euro pro Monat für jeden Bundesbürger. Bei rund 81 Millionen deutschen Staatsbürgern wird ersichtlich, dass die Finanzierung dieses Transfers eine Herausforderung wäre.

Für ein bedingungsloses Grundeinkommen, das alle Transferzahlungen ersetzt, spricht unter anderem ein geringer bürokratischer Aufwand, da die Bedürftigkeit der Empfänger nicht geprüft werden müsste. Wie wahrscheinlich es ist, dass es zu einer Umsetzung ohne Ausnahmen von dieser Regel käme, die diesen Vorteil konterkarieren würden, betrachten wir hier nicht.

Schlechte Anreize konventioneller Sozialtransfers

Heutige Sozialtransfers sind dagegen bürokratisch aufwendig und haben in ihrer jetzigen Ausgestaltung einen weiteren gravierenden Nachteil. Nehmen die Empfänger mehr als nur eine Tätigkeit im Rahmen eines Minijobs auf, reduzieren sich die Zahlungen maßgeblich oder gar vollständig. Für die Empfänger wirkt die Reduktion der Transfers wie eine Steuer auf zusätzliches Einkommen – netto erhöhen sich ihre Einkommen nicht eins zu eins mit dem Zuverdienst. Die durch die Reduzierung der Transfers ausgelösten impliziten Steuern sind – auch durch die Beiträge zu den Sozialversicherungen – relativ hoch. Wer als Alleinstehender eine Arbeit aufnimmt statt ALG II zu beziehen und 1.500 Euro brutto verdient, ist einem impliziten Steuersatz von etwa 80 Prozent ausgesetzt. Der monetäre Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen, ist in solch einer Situation recht gering.

Das bedingungslose Grundeinkommen würde diese hohen impliziten Steuersätze für Geringverdiener umgehen. Jeder Euro Einkommen würde nach einem Vorschlag des Hamburger Ökonom Thomas Straubhaar mit 50 Prozent besteuert werden. Wer eine Arbeit aufnimmt, bezöge weiterhin das bedingungslose Grundeinkommen und könnte zusätzlich über 50 Prozent des erzielten Einkommens verfügen.

Die negative Einkommensteuer

Die von Milton Friedmann im Jahr 1962 vorgeschlagene negative Einkommensteuer weist Ähnlichkeiten mit der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens auf. Auch sie mindert das Problem schwacher Anreize, bezahlter Beschäftigung nachzugehen. Fällt das Einkommen einer Person unter einen gewissen Betrag, zahlt sie keine Steuern mehr, sondern erhält Zahlungen. Bei einem konstanten Grenzsteuersatz, der unter einer gewissen Einkommenschwelle negativ ausfällt, erhöht sich das Einkommen nach Steuern um immer den gleichen Teil des zusätzlichen Einkommens.

Anders als bei einem bedingungslosen Grundeinkommen, hängen die Nettozahlungen oder -gutschriften im Rahmen einer negativen Einkommensteuer also vom erzielten Einkommen ab. Bezüglich der Wirkung auf das Einkommen von Erwerbspersonen gleichen sich bedingungsloses Grundeinkommen und negative Einkommensteuer jedoch.

Bedingungslose Transferszahlungen und Arbeitsverhalten: USA

Wir widmen uns hier nicht der Frage, ob der Empfang von Nettotransfers in Abwesenheit einer Bedürftigkeit gerechtfertigt ist, oder ob die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens tatsächlich mit der Abschaffung aller Transfers einhergehen würde, die auf Bedürftigkeitsprüfungen basieren. Wir wenden uns hier Studien zu, die Rückschlüsse darauf zulassen, wie sich bedingungslose Transferzahlungen auf das Arbeitsverhalten der Empfänger auswirken.

Das „New Jersey Graduated Work Incentive Experiment“ war eine randomisierte Kontrollstudie, die in den Jahren 1968 bis 1972 durchgeführt wurde. Zufällig ausgewählte Familien in städtischen Gebieten mit einem Einkommen unter 150 Prozent der Armutsgrenze erhielten Geldtransfers, deren Höhe vom von ihnen zusätzlich erzielten Einkommen abhing – wie im Rahmen einer negativen Einkommensteuer vorgesehen. Bei den Teilnehmern konnte nur ein geringer negativer Effekt auf das Arbeitsangebot festgestellt werden, der in der Regel unwesentlich von der Kontrollgruppe abwich, die keine Zahlung erhielt. Eine ergänzende Studie mit Fokus auf ländliche Regionen ergab, dass männliche Arbeitskräfte ihre Arbeitszeit im Vergleich zur Kontrollgruppe im Durchschnitt um 1 Prozent senkten und weibliche Teilnehmer ihre Arbeitszeit um 27 Prozent reduzierten. Allerdings konnte auch hier nicht ausgeschlossen werden, dass die Unterschiede nicht dem Zufall geschuldet sind. Hingegen ging die Beschäftigungsquote der teilnehmenden Frauen signifikant um 28 Prozent zurück.

Das „Seattle/Denver Income-Maintenance-Experiment“ war das bisher größte negative Einkommensteuerexperiment. Die Teilnehmer wurden in dreijährige und fünfjährige Auszahlungsperioden aufgeteilt. Menschen, die die Zahlung für drei Jahre erhielten reduzierten ihre Arbeitsstunden um bis zu 7,3 Prozent, während in der Fünf-Jahres-Gruppe Arbeitszeitreduzierungen von bis zu 13,5 Prozent festgestellt wurden. Die statistisch signifikanten Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Verkürzung der Arbeitszeit umso höher ausfällt, je länger der Zeitraum ist, in dem eine negative Einkommensteuer zur Anwendung kommt.

Weitere Experimente bisher ohne Erkenntnisgewinn

Im Jahr 2017 startete Finnland ein Grundeinkommensexperiment mit 2.000 Arbeitslosen. Für zwei Jahre erhalten die Teilnehmer eine bedingungslose monatliche Zahlung von 560 Euro. Diese Summe ist nicht ausreichend um alle anderen Transferzahlungen einzustellen. Da das Experiment noch nicht abgeschlossen ist, liegen noch keine Ergebnisse vor.

In Deutschland gibt es eine private Initiative, die monatliche Grundeinkommen in Höhe von 1.000 Euro für ein Jahr verlost. Leider können von diesem Experiment auf Grund des sehr kurzen Zeitraums keine neuen belastbaren Erkenntnisse über die Veränderung des Arbeitsangebots erwartet werden.

Experimente in Schwellen- und Entwicklungsländern

Im Gegensatz zu den Experimenten in industrialisierten Ländern findet eine Studie über ein indisches Grundeinkommensexperiment aus dem Jahr 2014 einen positiven Beschäftigungseffekt. Die Zahlung lag unter dem Einkommensniveau, dass für eine Befriedigung der Grundbedürfnisse ausreichend wäre.

Vor dem Hintergrund, dass das Experiment und damit die Auszahlung nur zwei Jahre dauerten, nutzten die Empfänger des bedingungslosen Grundeinkommens die zusätzlichen Einnahmen vornehmlich, um ihre Lebensbedingungen langfristig zu verbessern und investierten in ihren Kapitalstock. So wurden vor allem neue Nutztiere angeschafft und die effizientere Bewirtschaftung des Haushalts vorangetrieben. Einige Haushalte bauten eine eigene Wasserversorgung oder zusammen mit Nachbarn einen gemeinsamen Wasseranschluss. Dies entlastete vor allem Frauen, die zuvor an öffentlichen Brunnen das Wasser für die Familie holen mussten. So stellten die Forscher fest, dass vor allem Frauen mehr Zeit darauf aufwenden konnten, um zusätzliches Einkommen zu erzielen.

Insgesamt erhöhten gut 21 Prozent der Haushalte, die in dem Untersuchungszeitraum ein bedingungsloses Grundeinkommen erhielten, ihr Einkommen durch eine Ausweitung des Umfangs ihrer Erwerbsarbeit, während dies nur für 9 Prozent der Haushalte in der Kontrollgruppe zutraf.

Ein Experiment, das in Namibia ohne Kontrollgruppe durchgeführt wurde, weist ähnlich wie das indische Projekt darauf hin, dass die Menschen die zusätzlichen Mittel nutzten, um sich wirtschaftlich produktiver betätigen zu können. Die Autoren schreiben: „Dieser Befund widerspricht den Behauptungen der Kritiker, dass das bedingungslose Grundeinkommen zu Faulheit und Abhängigkeit führen würde.“

Die Studienteilnehmer in Namibia und Indien hatten gemein, dass sie in Gesellschaften leben, in denen die Arbeitsteilung weniger ausgeprägt ist als in industrialisierten Ländern. Sie waren zu einem Gutteil auf Subsistenzwirtschaft angewiesen. Die empirischen Ergebnisse weisen darauf hin, dass die zu einem Gutteil auf Subsistenzwirtschaft angewiesenen Haushalte die Transferzahlungen vor allem nutzten, um ihre Arbeit durch Investitionen in ihren Kapitalstock produktiver zu machen. Das mag helfen, die beobachteten Effekte zu erklären. Werden die Früchte der Arbeit reichhaltiger, wird es attraktiver, mehr zu arbeiten.

Finanzierung auf wackligen Füßen?

Individuen in hochgradig arbeitsteilig organisierten Gesellschaften haben leichten Zugang zu Krediten und würden Transferzahlungen vermutlich nicht zum Ausbau ihres Kapitalstocks nutzen, um sich produktiver in Erwerbsarbeit üben zu können. Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens in relativ reichen Gesellschaften schwebt derartiges zumeist auch nicht vor. Ganz im Gegenteil, Menschen sollen ja gerade frei davon werden, auf dem Markt Erwerbseinkommen erzielen zu müssen. Die Erfahrungen mit bedingungslosen Grundeinkommen in Entwicklungsländern sind auch aus diesen Gründen für entwickelte Länder nicht allzu aussagekräftig.

Die Erkenntnisse aus Nordamerika scheinen besser geeignet zu sein, um die potentiellen Arbeitsangebotseffekte eines bedingungslosen Grundeinkommens abzuschätzen. Diese Studien kommen zu dem Schluss, dass das Arbeitsangebot mit der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens eher abnimmt. Je länger die erwartete Auszahlungsperiode ist, desto stärker ist dieser Effekt.

Dass ein Bedingungsloses Grundeinkommen ab einer gewissen Höhe das Arbeitsangebot reduziert, steht außer Frage. Wie viele Menschen würden noch arbeiten, wenn es monatlich 5.000 Euro betrüge? Angesichts der bisher noch spärlichen empirischen Literatur zu Effekten bedingungsloser Transferzahlungen sollten alle Aussagen bezüglich der Wirkung eines moderaten bedingungslosen Grundeinkommens auf das Arbeitsangebotsverhalten allerdings mit Vorsicht genossen werden.

Zuerst erschienen bei IREF.

Photo: Nicolas Hoizey from Unsplash (CC 0)

Es gab früher Zeiten, da hat sich in diesem Land noch etwas bewegt. Die Jüngeren werden sich nicht mehr daran erinnert, weil es schon so lange her ist. Aber bei den Menschen, die in den 1980er Jahren und früher politisch sozialisiert wurden, ist es vielleicht noch im Langzeitgedächtnis abgespeichert.

Es war die Zeit der Agenda 2010. Heute blicken viele Sozialdemokraten mit Gram auf diese Zeit, Anfang der 2000er Jahre. Trug die damalige Wirtschaftspolitik der Regierung Schröder doch entscheidend dazu bei, dass die Sozialdemokratie sich anschließend gespalten hat, und der damalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine zur Linkspartei wechselte. Die verbliebenen Sozialdemokraten machen diese Regierungszeit bis heute für den Beginn ihres Niedergangs verantwortlich. Daher verteidigen nur noch wenige die damalige Wirtschaftspolitik. Im Gegenteil versucht die SPD seitdem, die Reformen von damals möglichst rückgängig zu machen, und hofft so, ihre verunsicherten Wähler wieder zurückzugewinnen. Doch strategisch machen die Sozis damit einen schweren Fehler. Sie haben nicht nur die unter Gerhard Schröder neu gewonnenen Wähler enttäuscht, sondern sie können die verloren gegangenen nicht wieder zurückgewinnen. Am linken Rand gibt es mit den Grünen und insbesondere der Linkspartei politische Alternativen, deren Glaube an den allumfassenden Sozialstaat von der SPD nicht überboten werden kann – insbesondere nicht in der Regierung.

Dabei war diese Zeit sehr erfolgreich, und von den in diesen Jahren geschaffenen Rahmenbedingungen, profitiert Deutschland noch heute. Die Flexibilität des Arbeitsmarktes durch die Zeitarbeit, die Abschaffung des Arbeitslosengeldes II und die Entrümpelung der Handwerksordnung, ermöglichte frischen Wind am Arbeitsmarkt und für Existenzgründer. Das Beschäftigungswunder, das Deutschland heute erlebt, hat seine Basis in der Agenda 2010. Wahrscheinlich ist das mangelnde Bekenntnis der Sozialdemokraten zu dieser Wirtschaftspolitik ihr heutiges Problem. Die SPD war immer dann stark, wenn es ihr gelungen ist, auch die Mitte der Gesellschaft zu erreichen. Also diejenigen, die den Sozialstaat mitfinanzieren.

Gerhard Schröder war die Inkarnation eines Aufsteigers sozialdemokratischer Prägung. In ärmlichen Verhältnissen im lippischen Kalletal aufgewachsen, hat er sich über den zweiten Bildungsweg erst zum Rechtsanwalt und später zum Bundeskanzler hochgeboxt. Die Geschichte, dass er als junger Sozialdemokrat vor dem Gitter des Kanzleramtes stand, daran rüttelte und sagte: „Da will ich rein“, war bezeichnend für seinen Ehrgeiz. Müsste man eine sozialdemokratische Biographie erfinden, wäre Gerhard Schröders Werdegang idealtypisch. Und auch sein Wirtschaftsminister Wolfgang Clement entsprach diesem Typus des Sozialdemokraten, der weit in bürgerlich liberale Milieus hinein vermittelbar war.

Heute hat die Sozialdemokratie keine Gerhard Schröders und Wolfgang Clements mehr. Das ist ihr Problem und womöglich ihr Untergang. Die SPD wäre allerdings nicht die erste sozialdemokratische Partei in Europa, die sich aus diesem Grund marginalisiert.

Jetzt haben Koalitionspolitiker aus Union und SPD vorgeschlagen, die Reformen aus der Agenda-Zeit beim Meisterzwang in der Handwerksordnung wieder rückgängig zu machen. Clement hatte damals die Meisterpflicht von 94 auf 41 Gewerke gesenkt und auf „gefahrgeneigte“ Tätigkeiten beschränkt. Schon das war damals ein Kompromiss, den die Monopolkommission der Bundesregierung seit vielen Jahren kritisiert. Wolle man als Gesetzgeber die Qualität einer Dienstleistung von staatlicher Seite sichern, dann genüge es nicht, einmal den Befähigungsnachweis zu erbringen, sondern man müsse dann schon regelmäßig Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen verpflichtend einführen. Und auch die Privilegierung des Marktzugangs mit der Ausbildungsleistung zu begründen, sei ein politisch-korporatistischer Ansatz. Selbständige Handwerksbetriebe vor einem intensiven Wettbewerb zu schützen, sei dadurch nicht gerechtfertigt. Insbesondere über die Handwerkskammer und ihre Mitwirkungsmöglichkeiten dort erhielten die Handwerker selbst die Kontrolle über den Marktzutritt, und damit die Intensität des Wettbewerbs in ihrem Sektor. Nach Auffassung der Monopolkommission sind solche Übereinkünfte zu Lasten Dritter abzulehnen.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Zentralverband des Handwerks den Vorstoß begrüßt und dies sogar als wichtigen Beitrag für den Verbraucherschutz bezeichnet. Immer dann, wenn betroffene Anbieter oder Berufsverbände von Verbraucherschutz reden, ist Vorsicht an der Bahnsteigkante geboten. Meist ist das Argument vorgeschoben, um unter sich bleiben zu können. Wer auch morgen noch einen Fliesenleger und andere Handwerker zu akzeptablen Preisen beauftragen will, sollte sich für die Abschaffung des Meisterzwangs auch bei anderen Gewerken einsetzen. Ein Wolfgang Clement würde das tun. Ein Peter Altmaier wohl nicht. Das macht den Unterschied aus zwischen Reden und Handeln, gestern und heute.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo by Zhen Hu on Unsplash

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Über drei Jahre ist der gesetzliche Mindestlohn jetzt alt. Die ersten finanzwissenschaftlichen Analysen offenbaren, was weltweit aus der Mindestlohnforschung bekannt ist: Eine heftige Reaktion blieb aus, trotzdem gab es einen moderaten Stellenabbau beziehungsweise niedrigere Stellenschaffung.

Der flächendeckende Mindestlohn wurde am 1. Januar 2018 drei Jahre alt. Seiner Einführung ging eine kontroverse Debatte über die zu erwartende Beschäftigungswirkung voran. Das ifo-Institut etwa prophezeite den Verlust von bis zu 900.000 Arbeitsplätzen. Die damalige Bundesministerin für Arbeit und Soziales Andrea Nahles dagegen versprach, dass 3,7 Millionen Menschen in den Genuss eines höheren Lohnes kommen würden. Zusätzliche Arbeitslosigkeit erwartete sie nicht.

Erste wissenschaftliche empirische Studien erlauben nun Rückschlüsse auf die kurzfristige Beschäftigungswirkung des Mindestlohns. Dieser hat demnach einen negativen, wenn auch quantitativ bescheiden ausfallenden Beschäftigungseffekt, wobei Minijobs stärker betroffen sind als reguläre Beschäftigungsverhältnisse. Die neuen Erkenntnisse aus Deutschland passen zu den Ergebnissen der Mindestlohnforschung in anderen Ländern, die zeigen, dass eine Erhöhung des Mindestlohns um 10 % durchschnittlich zum Abbau von etwa 1 % der Arbeitsverhältnisse in der vom Mindestlohn betroffenen Gruppe führt. Angesichts der ersten deutschen und vielfältigen internationalen Forschungsergebnisse scheint die von der politischen Linken vorgeschlagene kurzfristige Anhebung des Mindestlohns um mehr als 30 % auf 12 € wenig attraktiv.

Einführung des Mindestlohns: Eine kontroverse Debatte

Wieso war die deutsche Mindestlohndebatte so kontrovers, wenn internationale Studien doch ein recht eindeutiges Bild zeichnen – nämlich schwache negative Beschäftigungseffekte? Viele Kommentatoren verwiesen auf die besondere Situation in Deutschland, welche Rückschlüsse auf Basis der Erfahrungen anderer Länder relativiere: Schon vor der Einführung des flächendeckenden Mindestlohns existierten in zahlreichen Industrien branchenspezifische Lohnuntergrenzen. Zudem ist vor allem außerhalb der wissenschaftlichen Forschung die Ansicht weit verbreitet, Deutschland leide an einer zu geringen Binnennachfrage und ein höherer Mindestlohn könne zu einer Ausweitung der Nachfrage nach Arbeit führen.

Doch auch wenn jedes Land gewiss spezifische Eigenheiten aufweist, gab es für Ökonomen keinen Grund für die Annahme, dass eine fundamentale Regelmäßigkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht gelten solle: Wenn der Preis einer Dienstleistung – in diesem Fall der erbrachten Arbeit – steigt, so wird sie weniger häufig nachgefragt. Unklar ist jedoch, wie stark der Nachfragerückgang ausfällt. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von der Preiselastizität der Arbeitsnachfrage.

Effekt des Mindestlohns: Messung anspruchsvoll

Ein weiterer Grund für die polarisierte Debatte liegt in der Schwierigkeit, die Arbeitsmarkteffekte des Mindestlohns verlässlich zu messen. Einfache Vorher-Nachher-Vergleiche bilden die tatsächlichen Effekte nicht ab, da sie nicht berücksichtigen, wie der Arbeitsmarkt heute aussähe, wäre es nicht zur Einführung des Mindestlohns gekommen. So kann die Beobachtung, dass die Arbeitslosigkeit nach 2015 weiter gesunken ist nicht als Beleg für ausbleibende unerwünschte Wirkungen des Mindestlohns herhalten- Vielmehr wurde ein negativer Beschäftigungseffekt des Mindestlohns möglicherweise von anderen gegenläufigen Entwicklungen überlagert.

Die Messung der Beschäftigungseffekte des Mindestlohns erweist sich deshalb als eine weitaus anspruchsvollere Herausforderung, als viele Kommentatoren dies in ihren Erfolgsmeldungen nach 2015 suggerierten. Aus diesem Grund suchen Arbeitsmarktforscher nach plausiblen Vergleichsgruppen, d.h. Individuen, Unternehmen oder Regionen, die in unterschiedlichem Maße vom Mindestlohn betroffen sind, sich aber in anderen arbeitsmarktrelevanten Eigenschaften ähneln. Das Ausmaß der Betroffenheit vom Mindestlohn einer solchen Vergleichsgruppe wird dabei als der „Biss“ des Mindestlohns bezeichnet.

 

Studien für Deutschland seit 2015: Beschäftigungseffekt schwach und negativ

Eine der ersten zuverlässigen Analysen liefern Mario Bossler und Hans-Dieter Gerner (2016) vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mittels einer Differenz-von-Differenzen-Schätzung. Basierenden auf dem IAB-Betriebspanel, einem repräsentativen Survey deutscher Arbeitgeber, vergleichen die Autoren Betriebe vor und nach 2015 unter Berücksichtigung des Ausmaßes, in dem ein Betrieb vom Mindestlohn betroffen ist. Sie finden, dass es unter den betroffenen Betrieben zu einem Beschäftigungsrückgang von 1,9 % oder 60.000 Arbeitsplätzen kam – hauptsächlich aufgrund nicht erfolgter Neueinstellungen. In einem weiteren Paper findet Mario Bossler (2017), dass die voraussichtlich vom Mindestlohn betroffenen Arbeitgeber 2014 erwarteten, dass die Rate mit der sie zukünftig neue Beschäftigungsverhältnisse schaffen werden um 0,9 Prozentpunkte sank – eine Erwartung, die sich nach 2015 punktgenau bestätigt hat.

Alfred Garloff (2017) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie ist in der Bewertung der Arbeitsmarkteffekte des Mindestlohns zurückhaltender. In seiner Analyse verwendet er alters- und geschlechtsspezifische Daten der 141 Arbeitsmarktregionen Deutschlands und berechnet den „Biss“ des Mindestlohns für 1.410 Regionen-Altersgruppen-Geschlecht-Zellen. Er zeigt, dass in stärker betroffenen Zellen nach 2015 relativ mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse und relativ weniger Minijobs geschaffen wurden – ein Indiz dafür, dass vom Mindestlohn betroffenen Minijobs teilweise in reguläre Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt wurden. Da jedoch mehr Minijobs verloren gegangen sind als sozialversicherungspflichtige Jobs geschaffen wurden, ist in stärker betroffenen Zellen zugleich die Arbeitslosigkeit gestiegen.

Sebastian Schmitz (2017) von der Freien Universität Berlin verwendet ein ähnliches Forschungsdesign wie Garloff, untersucht jedoch stärker aggregierte Regionaldaten in einer Längsschnittanalyse über fast 50 Jahre. Er findet keinen Effekt auf die reguläre Beschäftigung, schätzt jedoch, dass im Jahr 2015 zwischen 150.000 und 200.000 Minijobs aufgrund des Mindestlohns verloren gegangen sind.

Marco Caliendo et al. (2017), ein breites Forscherteam aus Berlin und Potsdam, greifen auf Individualdaten aus der Verdienststrukturerhebung (SES) der EU und dem Sozioökonomischen Panel (SOEP) zurück. Wie in den vorgenannten Studien aggregieren sie diese Daten in Regionen auf und setzen deren Mindestlohnbetroffenheit und Arbeitsmarktentwicklung zueinander ins Verhältnis. Die Autoren finden, dass zwischen 2014 und 2015 ca. 180.000 Minijobs, also 2,4 % aller Minijobs, durch den Mindestlohn verloren gegangen sind. Bezüglich regulärer Arbeitsverhältnisse ergeben einige Schätzungen einen Rückgang um bis zu 0,3 % oder 78.000 Jobs. Doch in anderen Spezifikationen finden sie keinen Effekt.

Lutz Bellmann et al. (2017) zeigen auf Basis des IAB-Betriebspanels, dass von der Einführung des Mindestlohns betroffene Betriebe weniger in die Fortbildung ihrer mittel- und hochqualifizierten Mitarbeiter investieren. Dieser Befund liefert einen Hinweis darauf, dass Arbeitgeber angesichts des Mindestlohns Kosten sparen, indem sie andere explizite und implizite Lohnbestandteile senken.

Fazit: Mindestlohn mit unerwünschten Nebenwirkungen

Drei Jahre nach der Einführung des Mindestlohns ist eine erste wissenschaftlich zuverlässige Abschätzung der kurzfristigen Beschäftigungseffekte möglich. Bisherige Studien zeigen, dass sich weder das Horrorszenario von fast einer Million verlorenen Jobs, noch der Traum einer beschäftigungsneutralen Lohnanhebung bewahrheitet haben. Unterm Strich hat der Mindestlohn zu leichten Jobverlusten geführt: 150.000 bis 200.000 Minijobs sind verloren gegangen. Einige, doch bei weitem nicht alle dieser Job wurden in reguläre Arbeitsverhältnisse umgewandelt, sodass insgesamt ca. 60.000 Stellen abgebaut bzw. nicht neu geschaffen wurden.

Auch wenn die bisherigen Beschäftigungseffekte des Mindestlohns nicht dramatisch ausfallen, sind diese arbeitsmarktpolitisch nicht unbedenklich und ließen sich verhindern, wenn der Mindestlohn durch stärkeres Aufstocken niedriger Löhne ersetzt würde. Zwar sind die schwachen negativen Beschäftigungseffekte angesichts der moderaten Höhe des Mindestlohns von 8,50 € bzw. 8,84 € seit 2017 nicht überraschend. Doch demonstrieren sie, dass die Teilnehmer auf dem deutschen Arbeitsmarkt auf gesetzliche Lohnuntergrenzen ähnlich reagieren, wie dies in anderen Ländern der Fall ist. Entsprechend würde eine deutliche Anhebung des Mindestlohns stärkere Beschäftigungseffekte hervorrufen. Gemäß der bisherigen Erfahrungen in Deutschland und anderen Ländern ließe die von der politischen Linken geforderte Anhebung um mehr als 30 % auf 12 € einen Beschäftigungsrückgang von etwa 3 % in der betroffenen Gruppe erwarten.

Zuerst erschienen bei IREF.

Photo: futureatlas.com from Flickr (CC BY 2.0)

Wenn es um die Migration geht, irrt die deutsche Politik ähnlich unambitioniert, überheblich und planlos über den Platz wie die Nationalmannschaft bei dieser Fußball-Weltmeisterschaft. Es wäre an der Zeit für eine neue Migrationspolitik, die Chancen realisiert, statt Krisen herbeizurufen.

Kaum eine Debatte wird so postfaktisch geführt wie jene um Migration

Tagespolitische Debatten werden auf absurde Weise irrational geführt. Einmal wird ein ganzes Land getragen von der „Wir schaffen das“-Mentalität und zeigt eine in Europa einzigartige Solidarität mit über einer Million Flüchtlingen. Und wie sieht es zwei Jahre später aus – in einer Zeit, in der laut FRONTEX die Zahl der Neuankömmlinge nicht nur weit entfernt von den 1,82 Millionen des Jahres 2015 ist, sondern auch weiter rückläufig? Da gerät über die Frage nach dem Umgang mit der Migration nicht nur die deutsche Union, sondern gleich die ganze Europäische Union ins Wanken.

Dabei werden Begriffe und Definitionen derart durcheinandergebracht, dass es selbst rationalen Beobachtern schwerfällt, gegen die allgemeine Stimmung anzukommen. Ressentiments und gefühlte Wahrheiten nehmen die Stelle von Fakten ein. Und die Politik tut ihr Übriges, indem sie (in der verzweifelten Hoffnung auf Wählerstimmen) eine akute Krise herbeiredet, wo überhaupt keine ist. Die auf diese Weise vergiftete Debatte dreht sich plötzlich nur noch um die Gefahr durch neue „Flüchtlingsströme“, die unser scheinbar so schön geordnetes und friedliches Zusammenleben überschwemmen. Das ist nicht nur ein Drama, weil Symbolpolitik die unangenehme Eigenschaft hat, Probleme – von denen sie letztlich lebt – aufzubauschen anstatt sie zu lösen. Aber es ist auch ein Drama, weil Migration ein Wachstumsmotor für Deutschland sein könnte.

Es bedarf einer koordinierten Migration, aber keiner Planwirtschaft

Zu Beginn des neuen Jahrtausends dominierten andere Sorgen die öffentliche Debatte. Es ging um den „kranken Mann“ Europas mit seinem stetig wachsenden Staatsdefizit, der hohen Arbeitslosigkeit und dem drohenden demographischen Wandel. Die deutsche Bevölkerung würde zwangsläufig immer älter und weigerte sich trotz Kindergelderhöhung beharrlich, sich zu vermehren. In der Folge – so die Schreckensvision – würde das Rentensystem kollabieren und Landstriche verwaisen. Es erscheint wie ein Treppenwitz der Geschichte, dass wir uns heute darüber beklagen, dass allein zwischen 2013 und 2016 netto mehr als 3 Millionen Menschen in Deutschland eingewandert sind.

Nun könnte man argumentieren, dass es vor allem darauf ankomme, wer einwandert, und nicht nur wie viele. Das trifft aber nur bedingt den Punkt. Einerseits zeigen verlässliche Untersuchungen, dass „selbst“ Asylantragssteller (also Menschen ohne direkte Aussicht auf Arbeit), nach spätestens drei bis sieben Jahren einen signifikant positiven Effekt auf die heimische Volkswirtschaft haben. Andererseits bedeutet das nicht, dass durch eine bessere Koordination nicht Effizienzgewinne erzielt werden könnten. Ein Vorwurf, den man der aktuellen Regierung durchaus zu Recht machen kann, ist, dass sich an dieser Stelle seit dem Schock von 2015 noch immer nichts getan hat oder sogar – Stichwort Mindestlohn-Erhöhung – neue Hürden aufgebaut wurden.

Eine kluge Migrationspolitik darf nicht in Planwirtschaft münden. Es darf hier nicht darum gehen, zu „errechnen“, an welcher Stelle unserer Volkswirtschaft wie viele Arbeitskräfte benötigt würden. Keine zentrale Stelle kann wissen, ob es wirklich die hoch-qualifizierte Informatikerin ist, die Unternehmen millionenfach einstellen würden, oder der Altenpfleger, der die demographische Delle (siehe oben) versorgen soll. Stattdessen sollte es Deutschen Unternehmen ermöglicht werden, gezielt Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben. Menschen mit einem Job-Angebot sollte dann unbürokratisch und schnell eine Aufenthaltsgenehmigung mit Arbeitserlaubnis erteilt werden.

Warum Menschen nicht bereits im Ausland ausbilden?

Ganz neu ist diese Idee nicht. Sie taucht unter anderem im Global Compact for Migration auf, einem neuen internationalen Regelwerk, auf das sich die Vereinten Nationen Ende des Jahres verständigen wollen. Der darin enthaltenen Idee der „Global Skill Partnerships“ entsprechend, sollen Länder bilaterale Ausbildungs-Abkommen schließen. So könnte beispielsweise Deutschland mit Ruanda vereinbaren, dass die IHK in Ruanda Menschen ausbildet, von denen eine Hälfte nach abgeschlossener Ausbildung ein Job-Angebot aus Deutschland erhält, während die andere Hälfte vor Ort bleibt und die heimische Wirtschaft unterstützt.

Auf diese Weise könnten deutsche Arbeitgeber, etwa im vollkommen überlasteten Pflegebereich, dringend benötigte und nach ihren Standards ausgebildete Arbeitskräfte erhalten, während gleichzeitig die Volkswirtschaften in Entwicklungsländern keinen „Brain-Drain“ mehr fürchten müssten. Und aus humanitärer Sicht noch viel wichtiger: ein solches Modell würde die lebensgefährliche irreguläre Einwanderung, bei der jedes Jahr zigtausende Menschen sterben substantiell vermindern. Es gäbe schlicht keinen Grund mehr, sein Leben für eine illegale Einreise zu riskieren, wenn legale Möglichkeiten quasi vor der Haustür existieren.

Was Immigration wirklich für uns bedeutet: Humankapital

Sicher, ein solches Programm ist keine Lösung für jene Menschen, die sich bereits als Asylsuchende in Deutschland befinden. Doch auch diese Menschen sollten wir als wertvolles Humankapital begreifen, anstatt als unüberwindbares Problem. Die Politik sollte alles dafür tun, diesen Menschen möglichst schnell die Teilnahme am Arbeitsmarkt zu ermöglichen; durch die schnelle Bearbeitung von Asylanträgen, die Aufhebung von Arbeitsverboten und vor allem die Befreiung von unnötiger Bürokratie. Dabei darf es nicht immer nur um Erwerbsarbeit gehen, schließlich ist gerade den zahlreichen Flüchtlingen, die zu großen Teilen aus klassischen Händler- und Unternehmer-Kulturen stammen, eine gehörige Portion an Gründergeist zuzutrauen. Sie könnten die alte deutsche Tradition des Unternehmertums womöglich wieder mit neuer Dynamik versehen.

Am Ende fußt Europas Wohlstand auf Ideen und Gründergeist. Je mehr Köpfe im Wettbewerb miteinander um die besten Ideen streiten, desto besser geht es unserer Volkswirtschaft. Deshalb brauchen wir einen Paradigmenwechsel in der Migration. Eine Ausbildung von Menschen bereits im Ausland nach dem Prinzip der „Global Skill Partnerships“ schlägt mehrerer Fliegen mit einer Klappe. Es profitieren deutsche Unternehmen, Menschen in Entwicklungsländern und sogar deren Gesellschaften. Und weitere Migrationsschocks und humanitäre Krisen wie jene auf dem Mittelmeer werden von Vornherein abgemildert. Die Idee, durch Grenzschließungen, Aufnahmelager an der nordafrikanischen Küste, und die Subventionierung von afrikanischen Despoten Menschen davon abzuhalten, zu uns kommen, erscheint im Vergleich wahrhaft töricht.