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Photo: Daniel Friedlos from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues, und Kevin Spur, Student der Ökonomie an der Freien Universität Berlin.

Eine Vollzeitbeschäftigung könnte für ALG II-Empfänger durch eine niedrigere Anrechnungsquote maßgeblich attraktiver gemacht werden. Ab einem Bruttoeinkommen von 1.200 Euro pro Monat würden die Staatseinnahmen durch Sozialabgaben und Einkommensteuer den ALG II-Anspruch des aufstockenden Erwerbstätigen übersteigen.

Ein Ziel des 2005 eingeführten Arbeitslosengeldes II war es Beschäftigung attraktiver zu machen. Allerdings machen die Hinzuverdienstregelungen zum Arbeitslosengeld II eine niedrig entlohnte Beschäftigung in Vollzeit noch heute relativ unattraktiv. So hat ein alleinlebender Erwerbstätiger in Vollzeit, der 160 Stunden im Monat zum Mindestlohn von 8,84 Euro arbeitet, nur etwa 300 Euro mehr zur Verfügung als ein erwerbsloser ALG II-Empfänger. Daraus ergibt sich eine Zunahme des verfügbaren Einkommens von 1,88 Euro pro Arbeitsstunde. Das ist nicht sonderlich viel. Der Hinzuverdienst zum Arbeitslosengeld sollte attraktiver werden. So könnte zum Beispiel ein deutlich kleinerer Anteil des Erwerbseinkommens auf das ALG II angerechnet werden. Dadurch hätten ALG II-Empfänger einen stärkeren Anreiz, auch zu relativ niedrigen Löhnen wieder ins Erwerbsleben zurückzukehren.

Hohe Anrechnung von Einkommen auf ALG II

Das Arbeitslosengeld II sollte laut Bundeskanzler Gerhard Schröder „fordern und fördern“ . War auf der einen Seite das Ziel, ein soziokulturelles Existenzminimum zu garantieren, sollte auf der anderen Seite ein starker Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung bestehen. Die recht hohe Anrechnung von Einkommen auf das Arbeitslosengeld konterkariert dieses Ziel jedoch.

Nach einem Freibetrag von 100 Euro pro Monat werden Einkommen bis 1.000 Euro zu 80 % angerechnet. Zwischen 1.000 und 1.200 Euro werden 90 % und ab 1.200 Euro wird das volle Einkommen auf das Arbeitslosengeld angerechnet. Für Hilfsbedürftige mit Kind beträgt die Obergrenze 1.500 Euro. Die relativ starke Kürzung der staatlichen Unterstützung bei Erwerbstätigkeit schwächt den Anreiz, einer bezahlten Tätigkeit nachzugehen, wie das Beispiel eines kinderlosen Singles zeigt.

Minijob, Midijob und normaler Job

Zur Kalkulation des ALG II-Anspruchs ist eine Schätzung des Bedarfs für Unterkunft und Heizung nötig. Für einen alleinlebenden ALG II-Bezieher gelten etwa 45 Quadratmeter als „angemessener Wohnraum“. Wir gehen von einer Nettokaltmiete von 7 Euro pro Quadratmeter aus. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Kaltmiete für eine 65 m² Wohnung betrug in Deutschland 2016 6,50 Euro pro Quadratmeter. Laut Deutschem Mieterbund betrugen im Jahr 2014 die Betriebskosten durchschnittlich 2,17 Euro/Quadratmeter. Die angenommene Warmmiete inklusive aller Kosten beträgt so 413 Euro pro Monat.

 

 

Der Bedarf eines Erwerbslosen von etwa 822 Euro ergibt sich aus dem ALG II-Regelsatz in Höhe von 409 Euro und den Kosten für Wohnen und Heizen. Bei einem Bruttoeinkommen von bis zu 450 Euro nehmen wir einen Minijob und bei einem Bruttoeinkommen von bis zu 850 Euro einen Midijob an. Während Minijobs nach Wahl von den Sozialversicherungsbeiträgen gänzlich befreit sind, kommt bei Midijobs eine Gleitzonenregelung zur Anwendung, die die Last durch Sozialbeiträge reduziert. Ab einem Bruttoverdienst von 850 Euro pro Monat liegt eine normale Beschäftigung vor, bei der die Sozialversicherungsbeiträge in voller Höhe anfallen.

Arbeitslosigkeit zu Vollzeit: Impliziter Stundenlohn 1,88 Euro

Relativ lohnenswert ist die Aufnahme einer Beschäftigung im Minijobbereich. Arbeitet beispielsweise ein ALG II-Empfänger 12 Stunden im Monat zum Mindestlohn von 8,84 Euro und verdient somit 106 Euro im Monat, verfügt er am Ende des Monats nach der Miete über etwa 101 Euro mehr als ohne Arbeit. Er arbeitet für etwa 8,42 Euro pro Stunde.

Deutlich anders hingegen sieht es bei einer Vollzeitbeschäftigung zum Mindestlohn aus: Bei 160 Stunden Arbeit im Monat ergibt sich ein Bruttoeinkommen von 1.414 Euro, wovon 1.052 Euro netto verbleiben. Der ALG II-Anspruch beträgt nun allerdings nur noch 70 Euro. Insgesamt hat ein zum Mindestlohn Vollzeitbeschäftigter nach der Mietzahlung nur etwa 300 Euro mehr im Monat zur Verfügung als ein Erwerbsloser: Bei 160 Stunden Arbeit im Monat ergibt dies einen impliziten Stundenlohn von 1,88 Euro.

Ehepaare: Nicht mehr Mittel zwischen 1.200 und 2.000 Euro brutto

Ein ähnliches Bild ergibt sich für ein verheiratetes und kinderloses Paar, wenn beide ALG II beziehen. Wir nehmen an, das Paar lebe auf 60 Quadratmetern. Zudem gehen wir weiterhin von den oben erwähnten durchschnittlichen Mietkosten pro Quadratmeter aus. Die nachstehende Grafik verdeutlicht, wie sich das verfügbare Einkommen des Paares nach der Miete verändert, wenn ein Ehepartner eine Erwerbstätigkeit aufnimmt.

 

 

Bei Ehepartnern ergibt sich ein ALG II-Bedarf von 1.286 Euro pro Monat aus den Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 550 Euro und 90 % des Regelsatzes pro Person – zusammen 736 Euro. Auch in diesem Fall ist vor allem die Aufnahme eines Minijobs finanziell attraktiv. Aufgrund der vollständigen Anrechnung des Einkommens ab einem Bruttoeinkommen von 1.200 Euro verändert sich das verfügbare Einkommen nach Miete zwischen einem Bruttoeinkommen von 1.200 Euro bis 2.000 Euro für das Paar gar nicht, obwohl das Nettoeinkommen weiter steigt. Eine Vollzeitbeschäftigung eines Ehepartners zu Löhnen von bis zu 12,50 Euro pro Stunde ist somit recht unattraktiv.

Alternative: Anrechnung von nur 50%

Um eine Vollzeitbeschäftigung zu niedrigen Löhnen attraktiver zu machen, könnte ein geringerer Teil des Einkommens auf das ALG II angerechnet werden, zum Beispiel nur 50%.

Wir gehen hier zudem weiterhin von einem Grundbedarf von 822 Euro aus.

 

Steuern und Sozialabgaben bleiben unberührt: Ein Beschäftigter in Vollzeit, der zum Mindestlohn arbeitet, verdient 1.414 Euro brutto und 1.052 Euro pro Monat netto. Bei 50-prozentiger Anrechnung ohne Freibetrag werden jedoch statt 752 Euro nur 345 Euro angerechnet, woraus sich ein ALG II-Anspruch von 477 Euro ergibt, von dem die Miete gedeckt ist. Im Vergleich zur Erwerbslosigkeit verfügt ein Beschäftigter in Vollzeit über 757 Euro mehr und verdient somit implizit 4,42 Euro pro Stunde. Das mag zwar nicht nach sonderlich viel klingen, ist aber eine Steigerung des impliziten Lohnsatzes im Vergleich zur jetzigen Gesetzeslage von mehr als 100 %. Die Aufnahme eine Vollzeitbeschäftigung würde dadurch deutlich attraktiver werden.

Vollzeitjobs lohnenswerter machen

Die Möglichkeit zum sogenannten „Aufstocken“ von relativ niedrigen Einkommen besteht schon heute. Die hohe Anrechnung des Erwerbseinkommens auf das ALG II gibt jedoch vor allem einen Anreiz zu einer Beschäftigung in nur teilweise sozialversicherungspflichtiger Teilzeit. Eine Vollzeitbeschäftigung könnte für ALG II-Empfänger durch eine niedrigere Anrechnungsquote maßgeblich attraktiver gemacht werden. Die Kosten einer Anrechnung von nur 50 % des Einkommens wären dabei überschaubar. Ab einem Bruttoeinkommen von 1.200 Euro pro Monat würden die Staatseinnahmen durch Sozialabgaben und Einkommensteuer den ALG II-Anspruch des aufstockenden Erwerbstätigen übersteigen, während durch seine Tätigkeit zusätzliche Güter und Dienstleistungen entstünden.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Alina Asadullah from Flickr (CC 1.0)

Vorgestern hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker seine jährliche Rede zur Lage der Union gehalten. Niemand hat dabei einen großen Wurf erwartet, dafür ist Juncker schon zu lange dabei und alle kennen ihn zur Genüge. Dennoch zeigt die Rede, wo es nach er Bundestagswahl hingehen soll und was die Konfliktlinien sein werden. Juncker hält unvermindert am Dogma der „ever closer union“ fest. Stillstand ist Rückschritt für ihn. Die Notwendigkeit belegt er mit Zahlen. Das Wirtschaftswachstum ist stärker als in den USA und die Arbeitslosigkeit so niedrig wie seit 9 Jahren nicht mehr. Seine Investitionsoffensive habe 225 Milliarden Euro Investitionskapital für kleine und mittlere Unternehmen bereitgestellt und 270 Infrastruktur-Projekte aktiviert. Selbst das öffentliche Defizit sei von 6,6 auf 1,6 Prozent gesunken. So viel Eigenlob war nie. Dennoch ist die EU und auch die Euro-Zone noch weit vom Vorkrisenniveau entfernt.

Wer meint, alles richtig gemacht zu haben, kann jetzt auch diesen Weg konsequent weitergehen. Investitionen in der EU will Juncker einem „Investment Screening“ unterziehen. Investitionsfreiheit gibt es nur auf Gegenseitigkeit. Die Übernahme von Schlüsselindustrien und Infrastruktur sollen nicht mehr in den Händen der Eigentümer liegen und durch individuelle Regelungen in den Mitgliedsstaaten vereinbart werden, sondern unter den Zustimmungsvorbehalt der Kommission gestellt werden. Warum nicht auch der Lebensmitteleinzelhandel oder die Müllabfuhr? Mehr Schlüsselindustrie geht doch nicht!

Natürlich ist es ein wichtiges politisches Anliegen, dass Unternehmen aus der EU möglichst ungehindert in China investieren, dort Unternehmen kaufen und verkaufen können. Doch eine zwingende Gegenseitigkeit setzt das nicht voraus. Es unterstellt nämlich, dass Unternehmen aus Europa per Zwang in China investieren. Nein, sie machen es freiwillig. Vielleicht könnte China noch mehr Investitionskapital aus dem Ausland erhalten, würde es seine Märkte stärker öffnen. Doch auch die Selbstschädigung ist erlaubt. Wieso wir es anderen gleichtun sollten, ist jedoch schleierhaft. Die Beispiele, die Juncker anführt, sind daher höchst fragwürdig. So dürfe China keine Häfen in Europa ohne Zustimmung der Kommission kaufen. Doch Häfen sind meist in staatlicher, halbstaatlicher oder kommunaler Hand. Wenn ein souveränes Land entscheidet, sein Eigentum zu verkaufen, dann hat keine Kommission dieser Welt das Recht, das zu verhindern.

Besonders spannend ist Junckers persönliche Vision der EU. Er wünscht sich eine EU mit den Grundprinzipien Freiheit, Gleichberechtigung und Rechtsstaatlichkeit. Er beschreibt das als sein großes Leitbild. Dabei ist er für die mangelnde Durchsetzung dieser Grundprinzipien höchstselbst verantwortlich. Wer hat sich denn in der beginnenden Flüchtlings- und Migrationskrise im Herbst 2015 in die Büsche geschlichen? Hat es seinerzeit Kritik von Juncker gegeben an der Aussetzung des Dubliner-Abkommens durch die derzeitige Bundesregierung? Hat er bei der Verletzung der Stabilitätskriterien des Maastrichter-Vertrages nicht fortwährend die Augen zugedrückt? Dabei ist seine Kommission die Hüterin der Europäischen Verträge. Wo ist die vielbeschworene Rechtsstaatlichkeit der EU? Auch in Brüssel gilt: wer im Glashaus sitzt, sollte daher nicht mit Steinen werfen.

Juncker geht es in seiner Rede nur darum, wie die Kommission zu mehr Macht gelangt. Juncker will den Europäischen Stabilitätsmechanismus in das Vertragswerk der EU integrieren, damit er dann per Mehrheitsbeschluss entscheiden kann. Er will alle EU-Staaten in den Euro-Raum zwingen, wo schon jetzt die Zentrifugalkraft den Währungsraum zu zerreißen droht. Neulich war ich bei einem Unternehmen in Baden-Württemberg, einem dieser Hidden-Champions, das zunehmend Probleme mit unfairen Wettbewerbern hat. Wer in Polen investiert, bekommt auf seine Maschinen einen 50 prozentigen Zuschuss aus dem EU-Haushalt. Der Unternehmer fragte mich, wie er mit einer solchen Wettbewerbsverzerrung dauerhaft mithalten soll, wenn er seine Maschine zu 100 Prozent kaufen muss. Er bezahlt also mit seinen Steuern die Maschine seiner eigenen Konkurrenz. Absurder geht es nicht.

Gleichzeitig schützt die Kommission durch die Entsenderichtlinie heimische Unternehmen vor „Billigkonkurrenz“ aus osteuropäischen Ländern. Was ist daran falsch? Alles. Sowohl die Subventionierung der polnischen Maschine ist falsch, als auch die Abschottung durch die Entsenderichtlinie. In einem gemeinsamen Markt muss es nicht gleiche Lohnkosten geben. Es gibt ja auch nicht eine gleiche Infrastruktur, ein gleiches Ausbildungsniveau oder gleiche Steuern und Abgaben. Zwar will Juncker auch das noch angleichen. Dennoch sollten wir unsere heimische Regulierungswut Polen, Tschechen oder Slowaken wahrhaft nicht antun. Das würde Europa nicht stärker zusammenführen, sondern auseinanderdividieren. Nicht ohne Grund wird BRD oft auch mit „Beinahe Regelungs Dicht“ übersetzt.

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.

Photo: Wikimedia Commons

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kevin Spur, Student der Ökonomie an der Freien Universität Berlin.

Immer wieder liest man, Unternehmen würden Geringqualifizierten zu niedrige Löhne zahlen. Diese Wahrnehmung passt jedoch nicht zu den Beschäftigungsdaten. Profitierten gewinnorientierte Unternehmen ganz besonders stark von der Beschäftigung Geringqualifizierter, sollten sie in Abschwungphasen weniger von Arbeitslosigkeit betroffen sein als andere Gruppen von Beschäftigten. Sie werden jedoch tendenzielle eher entlassen.

In der Debatte um den Mindestlohn schwingt häufig die weit verbreitete Ansicht mit, Unternehmen würden von der Beschäftigung von Niedrigqualifizierten zu niedrigen Löhnen ganz besonders stark profitieren. Obwohl weit verbreitet, passt diese Wahrnehmung nicht zu den Beschäftigungsdaten – so auch in Deutschland. In Rezessionen verlieren relativ niedrig Qualifizierte und schlecht entlohnte Arbeitnehmer häufiger ihre Arbeit als Besserqualifizierte. Profitierten gewinnorientierte Unternehmen ganz besonders stark von der Beschäftigung Geringqualifizierter, sollten sie in Abschwungphasen weniger von Arbeitslosigkeit betroffen sein als andere Gruppen von Beschäftigten. Gewinnorientierte Unternehmen haben keinen Anreiz, gerade jene Mitarbeiter freizusetzen, von deren Beschäftigung sie am meisten profitieren. Aus der Entwicklung qualifikationsspezifischer Arbeitslosenraten in Krisenzeiten lässt sich jedoch vielmehr schließen, dass Unternehmen relativ stärker von der Beschäftigung Hochqualifizierter profitieren.

Eher entlassen trotz hohen Deckungsbeitrags?

Immer wieder liest man, Unternehmen würden Geringqualifizierten zu niedrige Löhne zahlen. Impliziert wird dabei, dass Geringqualifizierte relativ zu ihrem Beitrag zum Output der Unternehmen besonders niedrig entlohnt werden.

Erzielten Unternehmen durch die Beschäftigung von Geringqualifizierten einen besonders hohen Deckungsbeitrag, sollten Geringqualifizierte in Rezessionen zuletzt entlassen werden. Sie werden jedoch tendenziell eher entlassen. Auf diesen Widerspruch wies im vergangenen Jahr der US-Ökonom Tyler Cowen hin. Auch für Deutschland gilt, dass Geringqualifizierte in Rezessionszeiten eher ihre Beschäftigung verlieren als Besserqualifizierte.

Beschäftigungsverlust in Rezessionen: Geringqualifizierte stärker betroffen

Fünf Rezessionsjahre sind für Deutschland seit 1975 zu verzeichnen. Während sich 1975 und 1982 die erste und zweite Ölkrise negativ auf das BIP Deutschlands auswirkten, schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland am Ende des Einheitsbooms im Jahr 1993. Nach der leichten Rezession 2003 sank das BIP zuletzt nach der Finanzkrise im Jahre 2009.

Das bei der Bundesagentur für Arbeit ansässige Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung stellt für den Zeitraum von 1975 bis 2014 qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten bereit. Es werden die Arbeitslosenquoten für Menschen ohne Ausbildung, mit beruflicher Ausbildung und mit Universitätsabschluss unterschieden. Die Arbeitslosenquote von Menschen ohne Ausbildung war stets deutlich höher als die der anderen Gruppen. Zwar wuchs diese Differenz seit 1975 erheblich, es gelang jedoch auch immer mehr Menschen einen Berufsabschluss zu erwerben.

Hier wird die Beschäftigungsentwicklung der verschiedenen Qualifikationsgruppen in den Rezessionen von 1982, 1993, 2003 und 2009 betrachtet. Der Anstieg der Arbeitslosenrate einer Beschäftigungsgruppe während eines Rezessionsjahres wurde dabei ins Verhältnis zur Beschäftigungsquote dieser Gruppe im Vorjahr gesetzt. Die so ermittelte Quote zeigt folglich an, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass ein Beschäftigter einer Qualifikationsgruppe im Zuge einer Rezession seine Arbeit verlor. Dadurch wird berücksichtigt, dass die Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten stets höher war.

Im Zuge jeder Rezession war die Wahrscheinlichkeit arbeitslos zu werden für Beschäftigte ohne Ausbildung am höchsten. Während in der Rezession 1982 3,3 % der Beschäftigten ohne Ausbildung ihre Arbeit verloren, wurden nur 1,9 % der Beschäftigten mit beruflicher Ausbildung und gar nur 0,9 % der beschäftigten Universitätsabsolventen arbeitslos. In der zweiten hier betrachteten Rezession im Jahr 1993 war der Unterschied zwischen Personen ohne Ausbildung und Personen mit Hochschulausbildung noch gravierender. Interessant ist, dass der rezessionsbedingte Beschäftigungsverlust für Mittel- und Hochqualifizierte seit 1975 abnimmt, während er für Personen ohne Ausbildung stark schwankt.

Größter Gewinnbeitrag durch Hochqualifizierte?

Es ist zu erwarten, dass gewinnorientierte Unternehmen sich in einer Rezession zuerst von den Mitarbeitern trennen, die in Relation zu den durch sie entstehenden Personalkosten, inklusive allen durch Entlassungen und Einstellungen entstehenden Transaktionskosten, den kleinsten Beitrag zum Gewinn des Unternehmens leisten.

Die Entwicklung der qualifikationsspezifischen Quoten des Beschäftigungsverlustes deutet darauf hin, dass Menschen ohne Ausbildung für Unternehmen tendenziell geringere relative Deckungsbeiträge erwirtschaften. Denn ihr Beschäftigungsrückgang ist in Krisenzeiten am deutlichsten. Die Beschäftigungsentwicklung Hochqualifizierter weist dagegen darauf hin, dass ihr relativer Deckungsbeitrag am höchsten ist. Zudem suggeriert die Entwicklung seit der Rezession 1982, dass die relative Attraktivität der Beschäftigung Hochqualifizierter über die vergangenen Jahrzehnte gestiegen ist und spiegelt möglicherweise wider, dass eine sehr gute Ausbildung für ein erfolgreiches Erwerbsleben heute wichtiger ist als in der Vergangenheit.

Hohe Gewinnmargen durch Beschäftigung Geringqualifizierter?

Neben betriebsbedingten Kündigungen weiterhin aktiver Unternehmen trägt während einer Rezession auch die vollständige Aufgabe von Unternehmen zu höheren Arbeitslosenquoten bei. Erwirtschafteten Unternehmen, die gerade hauptsächlich Niedrigqualifizierte zu niedrigen Löhnen beschäftigen, besonders hohe Gewinnmargen, sollten sie besser durch Krisenzeiten kommen als andere Unternehmen. Die höheren Gewinnmargen in normalen Zeiten würden diesen Unternehmen helfen, die Durststrecke zu überstehen. Die Daten des IAB geben keinen Aufschluss darüber, aus welchen Gründen sich die Arbeitslosenquoten verändern. Sie legen jedoch eher nahe, dass relativ viele Unternehmen von Insolvenzen betroffen sind, die relativ viele Niedrigqualifizierte beschäftigen – und das spricht eher für überdurchschnittlich niedrige Gewinnmargen in diesen Unternehmen.

Mindestlohn kann Situation für Geringqualifizierte verschärfen

Geht während einer Rezession die Nachfrage nach den Produkten eines Unternehmens zurück, fährt es früher oder später die Produktion zurück. Während Unternehmen in der Vergangenheit mit einem Mix von Preis- und Mengenanpassungen in Form von niedrigeren Löhnen für weniger Beschäftigte auf Rezessionen reagieren konnten, wird heute eine Preisanpassung unter 8,50 Euro durch den Mindestlohn verhindert. Der Mindestlohn könnte so zukünftig dazu beitragen, dass Geringqualifizierte noch stärker von steigender Arbeitslosigkeit in Zeiten von Rezessionen betroffen sein werden. Der Mindestlohn schiebt Lohnanpassungen nach unten einen Riegel vor und macht damit aus Sicht der Unternehmen das Instrument der Mengenanpassung in Form von Stellenabbau relativ attraktiver.

Beschäftigung erleichtern

Die Entwicklung qualifikationsspezifischer Arbeitslosenquoten in Jahren der Rezession spricht nicht dafür, dass Unternehmen in Deutschland ganz besonders von der Beschäftigung Niedrigqualifizierter zu niedrigen Löhnen profitieren. Die These, Niedrigqualifizierte sorgen für relative hohe Deckungsbeiträge für Unternehmen, passt zwar gut zu Vorbehalten gegenüber Unternehmen, aber nicht zu den beobachteten Beschäftigungsdaten. Das weit verbreitete Bild der auf dem Rücken von Niedrigqualifizierten hohe Gewinne erzielenden Unternehmen Bedarf einer Korrektur.

Vielmehr deuten die Daten darauf hin, dass Unternehmen von der Beschäftigung Hochqualifizierter relativ stärker profitieren. Geringqualifizierten und ihren potentiellen Arbeitgebern sollte deshalb der Abschluss und die Aufrechterhaltung von Arbeitsverhältnissen erleichtert und nicht erschwert werden, wie es beispielsweise durch den Mindestlohn geschieht. Anstatt die Beschäftigung Niedrigqualifizierter mittels des Mindestlohns mit einer Steuer zu belegen, wäre es der Unterstützung aller Geringverdiener dienlich, staatliche Lohnzuschüsse für sie bereitzustellen und somit ihre Beschäftigung zu subventionieren.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Wikimedia Commons (CC-BY-SA-3.9-migrated)

In Großbritannien kippt die Stimmung. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat lange rumgeeiert und sich jetzt für eine weichen Brexit ausgesprochen. Vielleicht hat er meinen „Weckruf für eine weichen Brexit“ vom 9. Juni gelesen. Man sollte die Hoffnung nie aufgeben – selbst bei Sozialisten!

Nach der Wahlschlappe von Theresa May bei der Unterhauswahl im Juni und dem Verlust ihrer absoluten Mehrheit war klar, dass diese „Klatsche“ nicht ohne Folgen für die britischen Brexit-Verhandlungen sein konnten. Die Premierministerin ist weiterhin stark unter Druck und es ist nicht ausgemacht, ob sie die nächsten Monate politisch überlebt.

Schon hat Außenminister Boris Johnson Zugeständnisse bei den Scheidungskosten angekündigt. Fast könnte man glauben, die EU sei in der Vorderhand und könne den Briten den Takt diktieren. Zumindest kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die EU-Kommission besser vorbereitet ist. Nach wie vor will die EU-Kommission an Großbritannien ein Exempel statuieren. Nie wieder soll ein Mitgliedsstaat es wagen auszutreten. Gerade in Richtung Polen, Tschechien und Ungarn soll dies wirken. Ob dies die Zentrifugalkraft durch den wachsenden EU-Zentralismus beseitigt, muss bezweifelt werden. Als Kitt und Lockmittel wirken dann letztlich nur noch die Gelder, die aus Brüssel verteilt werden.

Schon schlägt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine Verschärfung der Entsenderichtlinie vor, um den französischen Arbeitsmarkt gegen Arbeitnehmer und Unternehmen aus Osteuropa zu schützen. Er will die Entsendung auf maximal 12 Monate begrenzen. Mitarbeiter von entsendeten Firmen sollen nicht mehr nur den Mindestlohn des Landes erhalten, wo sie vorübergehend arbeiten, sondern den vergleichbaren Lohn. Wer jemals in der EU vom Abbau von Handelshemmnissen fabuliert hat, sollte künftig lieber still sein. Wer den Binnenmarkt, seine wohlstandsschaffende Wirkung auf die Märkte von Dienstleistungen und Waren jemals verstanden hat, sollte nicht weiter Hand an die ohnehin viel zu bürokratische Entsenderichtlinie und insbesondere ihre Umsetzung in die nationalen Gesetze anlegen.

Schon heute muss jedes Unternehmen, das im Nachbarland vorübergehend tätig ist, weil es eine Maschine aufbaut oder diese wartet, einen Wust an Bürokratie bewältigen, den mittelständische Firmen nicht ohne fremde Hilfe stemmen können. Damit wir die Wirkung eines gemeinsamen Marktes durchkreuzt. Es wäre so, als wenn ein Unternehmen aus Niedersachsen, das in Bayern eine Werkzeugmaschine installiert, vorher über das dortige Wirtschaftsministerium um Erlaubnis fragen muss. So weit sind wir innerdeutsch zum Glück noch nicht. Aber zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Deutschland und Österreich läuft es genau so. Macron will „Frankreich first“ durchsetzen und schadet damit dem eigenen Land. Wenn Unternehmen den Lohn des Einsatzlandes bezahlen müssen, dann wird es noch komplizierter. Woher soll ein Mittelständler aus Ostwestfalen mit 150 Mitarbeitern das Wissen hernehmen? Soll er extra dafür jemanden einstellen oder Anwälte damit beauftragen?

Erschreckend ist, dass die große Koalition und die Regierung in Berlin Macron beispringen. Auch sie wollen den deutschen Arbeitsmarkt abschotten und abriegeln. Sie sagen es nicht so, sondern kommen mit Schlagwörtern wie Dumpinglohn und unfairer Konkurrenz daher. Doch wo hört das auf? Ist es fair, dass Skoda seine Autos auf einem niedrigeren Lohnniveau in Tschechien produziert als VW in Wolfsburg. Müsste nicht Skoda, wenn es seine Autos in Deutschland verkaufen will, auch vergleichbare Löhne der deutschen Automobilindustrie bezahlen? Muss hier nicht auch die EU-Kommission endlich eingreifen? Ist das nicht auch Dumping? Und sind China, Indien und Südkorea nicht alle Dumping-Ökonomien? Müssen dort nicht auch unsere Löhne bezahlt werden? Was unterscheidet eigentlich diese Politik vom handelspolitischen Säbelrasseln eines Donald Trump? Ist es die Geschmeidigkeit? Die bessere Frisur? Regierungen wollen oft ökonomische Gesetze aushebeln, weil sie kurzfristig gefallen wollen. Doch ökonomische Gesetze lassen sich nicht beseitigen, sie wirken immer. Sie schaffen entweder die Basis für künftigen Wohlstand, oder die Politik versucht, sie zu verbiegen und schafft dadurch Arbeitslosigkeit und Armut.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Revolution_Ferg from Flickr (CC BY 2.0)

Von Robert Benkens, Student der Politkwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Germanistik.

Die Vorbehalte gegen den Freihandel sind zahlreich: Er betreibe eine Ausbeutung der unterentwickelten Länder zu Gunsten der reichen Industriestaaten, stehe für Demokratieabbau im Interesse großer Konzerne und Banken, zerstöre die Umwelt zu Lasten der Allgemeinheit. Kurzum: Freihandel ist böse und unfair, weil er Armut und Ungleichheit verstärke. Hier haben Freihandelsgegner einen ganz klaren Vorteil: Sie bringen Mitstreiter für das gefühlt Gute auf die Straßen, die Verteidiger des Freihandels hingegen bekommt die gewöhnliche Bevölkerung meist nur in Nadelstreifen und im professoralen Duktus im Fernsehen oder gar als Interessenvertreter bestimmter Verbände zu Gesicht. Wirklich mitreißend im Sinne einer „großen Freihandelserzählung“ ist das alles nicht.

Freihandel und seine Auswirkungen

Aber was ist überhaupt unter „Freihandel“ zu verstehen? Nicht jeder Handel ist gleich Freihandel. Und nicht alles, was im Welthandel heute passiert, sollten Freihandelsbefürworter gutheißen, sondern sich im Gegenteil im Namen eines wirklich freien Handels gegen bestehende Probleme einsetzen. Grundsätzlich meint Freihandel schlicht, dass Volkswirtschaften bzw. Unternehmen über Ländergrenzen hinweg verstärkt arbeitsteilig zusammenarbeiten, indem sie sich gemäß ihrer Fähigkeiten spezialisieren, dadurch einen Mehrwert produzieren und sich nicht gegeneinander abschotten. Dabei ist auf das Wort „frei“ zu achten: In einem wirklich freien Handel darf keiner Branche auf Kosten der Allgemeinheit ein Privileg von Seiten der staatlichen Politik eingeräumt werden, muss sich das einzelne Unternehmen also vor den Kunden am Markt bewähren, statt sich auf Zuwendungen des Steuerzahlers verlassen zu können. In gewisser Weise ist der Freihandel also das außenwirtschaftliche Pendant zur freien marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung im Inneren einer Volkswirtschaft. Auch wenn oder gerade weil es in der Vergangenheit und in der Gegenwart aufgrund eines fehlenden verbindlichen Rahmens auf internationaler Ebene nie den idealtypischen „freien Handel“ weltweit gegeben hat und dementsprechend auch heute noch unterschiedliche Schutzmaßnahmen bestehen und das Etikett „Freihandel“ fatalerweise häufig von bestimmten mächtigen Interessengruppen instrumentalisiert wird, soll hier gezeigt werden, warum der Weg zu einem schrittweise freier werdenden Handel grundsätzlich richtig ist, ohne dabei die wichtigsten Kritikpunkte Armut und Ungleichheit einfach außer Acht zu lassen.

Zunächst zum Vorwurf, der Freihandel bzw. die verstärkte Hinwendung zu globaler Arbeitsteilung in den letzten Jahrzehnten hätte die Armut in der Welt verstärkt. Abbildung 1 zeigt eine Zusammenstellung von Statistiken zur globalen Entwicklung in den letzten 200 Jahren:


Abbildung 1: Globale Entwicklung von extremer Armut, Grundbildung, Alphabetisierung, Demokratie, Impfschutz und Kindersterblichkeit in den letzten 200 Jahren (Quelle: Our World in Data).

Die Zahlen sind beeindruckend. So hat sich das Verhältnis bei der Armut geradezu umgekehrt: Lebten um 1800 von 100 Menschen 94 in absoluter Armut, so sind waren dies 2015 nur noch 10. Ähnliches lässt sich bei der Bildung feststellen: Um 1800 hatten nur 17 Kinder Zugang zu Grundschulbildung, im Jahr 2015 hingegen 86. Die Kindersterblichkeit ist von etwa 43 Prozent auf unter 5 Prozent gefallen. Die Alphabetisierung ist von 12 auf sagenhafte 85 Prozent weltweit gestiegen – und das alles bei einer Vervielfachung der Weltbevölkerung! Trotz zweifellos bestehender Probleme eine überaus vorzeigbare Bilanz, zu der Globalisierung und Freihandel entscheidend mit beigetragen haben. Das gilt insbesondere für die letzten Jahrzehnte, die in verstärktem Maße von einem zunehmenden grenzüberschreitenden Handel geprägt waren. Kritiker werden nun vermutlich sagen, dass sich diese positive Entwicklung vor allem auf den Reichtum der Industrieländer stütze und der Rest der Welt, vor allem die Entwicklungsländer, nach wie vor zu den Verlierern gehöre. Die Zahlen zu den Milleniumszielen der UN sagen hier etwas anderes:

Abbildung 2: Prävalenz extremer Armut, 1990 und 2010 (Quelle: Vereinte Nationen, Millenniums-Entwicklungsziele Bericht 2014).

Demnach hat sich die extreme Armut zwischen 1990 und 2010 in allen Weltregionen verringert, sogar in den ärmsten Regionen südlich der Sahara. Hierbei ist zudem festzustellen, dass (ehemalige) Entwicklungsländer, die sich tendenziell dem Weltmarkt geöffnet haben und über eine relativ stabile – wenn auch nicht immer demokratische – Regierung verfügen, am stärksten der absoluten Armut entkommen sind, namentlich: China mit mehreren hundert Millionen Menschen.

Der Freihandel kann somit zeitweise durchaus den Effekt haben, dass die Ungleichheit zwischen Ländern steigt, aber gerade nicht, weil er für mehr Armut sorgt, sondern weil er bei denjenigen, die sich ihm öffnen, für mehr Wohlstand sorgt, während andere, die sich abschotten, in Armut verharren. Würden die reichen Industriestaaten und aufkommenden Schwellenländer sich beispielsweise vom Freihandel zurück in eine protektionistische Planwirtschaft begeben, wäre die Welt wohl tatsächlich nicht so ungleich wie heute. Dafür wäre sie gleichermaßen bitterarm. Eine Abwendung vom Freihandel wäre somit gerade nicht die Lösung, sondern eine – zumindest schrittweise – Hinwendung zu diesem. Zudem bestätigt der langfristige Trend keineswegs, dass die Zunahme der Einkommensungleichheit zwischen den Ländern eine Art „ehernes Gesetz“ des Freihandels und der Globalisierung ist. Ein aktueller Artikel des dänischen Statistikers Bjørn Lomborg verdeutlicht dies.

Nachdem die Ungleichheit zwischen 1820 und 1990 drastisch hochgeschnellt ist, nimmt sie seitdem schrittweise wieder ab. Der globale langfristige Trend weist also sowohl auf ein Mehr an absolutem Wohlstand hin als auch auf ein tendenzielles Zusammenwachsen ehemals völlig ungleicher Volkswirtschaften. Lomborg: „Mit dem schnellen Wirtschaftswachstum in einigen Schwellenländern, besonders in China seit 1978 und in Indien von 1990 an, sind die Einkommen von sehr vielen in der ärmsten Hälfte der Welt stark gestiegen. Dem Großteil der ärmeren Hälfte der Welt gelang es aufzuholen.

Ganz hartnäckige Globalisierungsgegner werden angesichts dieser Ergebnisse nun vielleicht ausweichend argumentieren, dass die „Schere“ nicht mehr primär zwischen den Ländern, sondern durch sie hindurch verlaufe. Zweifelsohne verstärkt freier Handel häufig auch Ungleichheiten innerhalb von Ländern, da bestimmte Gruppen mehr von ihm profitieren als andere und einige auch zu den Verlierern des Strukturwandels gehören. Aber wie sieht es unterm Strich, also gesamtwirtschaftlich aus? Nun, schauen wir uns dazu den Gini-Koeffizienten an, der die Ungleichheit innerhalb der Länder misst:

Abbildung 3: Gini-Koeffizient (in Prozent) der Einkommensverteilung (Quelle: Weltbank, 2014).

Nach dieser Messung läge die absolute – in der Realität nicht herzustellende – Gleichheit bei 0. Die absolute Ungleichheit bei 60 aufwärts. Der Grafik ist zu entnehmen, dass die Länder mit einem freien Wirtschafts- und Handelssystem zu jenen mit tendenziell geringerer Ungleichheit gehören. Die Ungleichheit ist dagegen am größten in den abgeschotteten und korrupten Staatswirtschaften südlich der Sahara oder etwa auch im sozialistischen Venezuela, das aufgrund der weltweit größten Erdölquellen eigentlich in Geld schwimmen müsste.

Diese kurze Zusammenstellung der wichtigsten Trends zeigt: Ein freies, nicht korrumpiertes Wirtschafts- und Handelssystem sorgt nicht nur für sehr viel mehr Wohlstand, sondern auch dafür, dass arme Bevölkerungsschichten ebenfalls von ihm profitieren – auch wenn sich die Schere in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern nach Marktöffnung zweifellos geweitet hat, allerdings bei gleichzeitiger Steigerung des allgemeinen Wohlstandsniveaus. Der World-Ecomic-Freedom-Index bestätigt diesen grundsätzlichen Zusammenhang von wirtschaftlicher Freiheit und allgemeinem Wohlstand: „Die freiesten 25% aller Länder weisen ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 41.228 Dollar auf, die unfreiesten 25% dagegen kamen nur auf 5471 Dollar. Die ärmsten 10% der Bevölkerung in den freiesten Ländern erwirtschafteten ein Pro-Kopf-Einkommen von 11.283 Dollar, was deutlich über dem Gesamtdurchschnittseinkommen in den unfreiesten Ländern liegt.“ Umgekehrt hingegen gilt: Je mehr ein Land den Weg der Abschottung und Staatswirtschaft beschreitet, desto weniger Wohlstand gibt es insgesamt und umso mehr konzentriert sich dieser bei der winzigen Elite der Herrschenden.

Kritik und Bedingungen des Freihandels

Viele Kritiker verweisen nun darauf, dass die Ungleichheit in vielen Industriestaaten heute primär aufgrund zunehmender Vermögenskonzentration steige und dass „globale Finanzeliten“ hierdurch ganze Staaten „im Würgegriff“ halten und ihre politische Agenda diktieren könnten. Dabei vergessen sie allerdings, dass es gerade jene Staaten bzw. Regierungen waren, die sich im Zuge ihrer Wachstums- und Klientelpolitik auf Pump erst in die Abhängigkeit solcher Finanzakteure begeben haben und sich dann mitunter sogar gezwungen sahen, jene aufgrund ihrer wortwörtlichen „Systemrelevanz“ auf Kosten der Allgemeinheit zu retten. Die Folge war die zunehmende Entkopplung einer „boomenden“ Finanzwirtschaft von einer vielerorts stagnierenden Realwirtschaft und: steigende Ungleichheit.

Wer in der Globalisierung nur auf Protektion und Subvention einer ganzen Volkswirtschaft auf Pump setzt statt auf schrittweise Öffnung und Reformen, muss sich nicht wundern, wenn dafür früher oder später die Rechnungen ins Haus flattern. Die Mär davon, den „globalen“ Finanzeliten passiv ausgeliefert zu sein, verfestigt also nur die antipolitische und zynische Haltung unserer Tage. Der Schlüssel zum Wachstum und Wohlstand für alle liegt nach wie vor bei den Nationalstaaten – und hierfür können Globalisierung und Freihandel wichtige Voraussetzungen sein.

Doch wie kommt es, dass einige Staaten wohlhabender werden, während andere arm bleiben? Woher rührt der aufgezeigte Zusammenhang von wirtschaftlicher Freiheit und allgemeinem Wohlstand, der durch die Geschichte und auch in der Gegenwart immer wieder bestätigt wird? Wie kommt es, dass die DDR wirtschaftlich und letztlich politisch scheiterte, während die BRD sich zum Exportweltmeister mauserte? Warum leben noch heute die Menschen in Nordkorea in himmelschreiender Armut, während aus Südkorea die modernsten Technologien der Welt kommen? Daron Acemoglu und James A. Robinson weisen in ihrem vielbeachteten Werk „Warum Nationen scheitern“ darauf hin, dass weder die Geografie oder die Ressourcen noch die Kultur entscheidend seien. Logisch: Denn sowohl Nord- und Sükoreaner als auch Ost- und Westdeutsche leben unter weitgehend gleichen geographischen Bedingungen und „entstammen“ dem gleichen Kulturkreis. Für den Wohlstand eines Landes sind nach Acemoglu und Robinson vielmehr die Institutionen entscheidend: ein starker Rechtsstaat, der Bürger- und Eigentumsrechte verteidigt, Machtzentrierung durch Gewaltenteilung verhindert sowie eine solide öffentliche Infrastruktur für alle gewährleistet und vor allem Anreize zum Sparen, Investieren und Innovieren setzt. Eben diese Anreize werden genommen, wenn die Früchte der eigenen Arbeit willkürlich enteignet werden können oder der Markt unter einigen wenigen Akteuren, meist noch mit staatlicher Hilfe, protektionistisch aufgeteilt wird. Damit wären wir bei einem entscheidenden Punkt: Der Freihandel ist kein Patentrezept, er ist auf einen stabilen und im Idealfall demokratischen Nationalstaat angewiesen, der diese Institutionen bzw. Rahmenbedingungen gewährleistet, damit er seine wohlstandsförderlichen Effekte voll und für alle entfalten kann.

Das große Missverständnis bezüglich des Freihandels besteht nun darin, dass es zwar weltweit eine schrittweise Öffnung hin zum Welthandel gegeben hat, was einerseits zu enormen Wachstums- und Wohlstandseffekten beigetragen hat, dieser Schritt zur Marktöffnung andererseits aber gleichzeitig häufig von autokratischen oder klientelistischen Systemen initiiert wurde. Eine Verbindung von wirtschaftlicher Liberalisierung bei gleichzeitiger autoritärer Führung. Somit entsteht der Eindruck, dass Freihandel und Oligarchie natürliche Verbündete seien. Das ist aber falsch, ein wirklicher Freihandel zerstört oligarchische Strukturen, in denen mächtige Konzerne und Politiker den Markt unter sich aufteilen und andere ohne Rechte an den Rand drängen, indem er wirtschaftliche Machtpositionen durch verstärkten internationalen Wettbewerb immer wieder in Frage stellt und niemandem Privilegien eingeräumt werden. Dafür ist wirklicher Freihandel aber, wie gesagt, auf einen stabilen staatlichen Rechtsrahmen sowie demokratische Kontrolle der Machthabenden angewiesen.

Schön und gut, werden nun viele sagen, aber solche tollen politischen Rahmenbedingungen können wir gerade in Entwicklungsländern nicht einfach von außen einführen. Sollten wir dann nicht wenigstens aufhören, die miesen Produktionsbedingungen in solch politisch fragilen Staaten indirekt zu unterstützen, indem wir Geschäfte mit ihnen machen? Es stimmt ja, Freihandel allein kann beispielsweise nicht für Eigentums- und Arbeitnehmerrechte oder Umweltschutzstandards in Entwicklungsländern sorgen. Freihandel macht durch globale Wertschöpfungsketten aber gerade solche Missstände für Konsumenten und Bürger in reichen Ländern sichtbar. Dabei kann äußerer Druck durch die Konsumenten eine Rolle spielen, letztlich müssen menschenwürdige Standards und Grundrechte aber vor Ort politisch erkämpft und durchgesetzt werden.

Der Freihandel kann somit einerseits für Wachstumsperspektiven in Entwicklungsländern sorgen, andererseits kann er dort mit steigendem Wohlstands- und Bildungsniveau auch demokratische und rechtsstaatliche Prozesse anstoßen, so dass hoffentlich schrittweise immer mehr Menschen vom Wachstum profitieren. Denn mit steigendem wirtschaftlichen Wachstum werden die Menschen hoffentlich früher oder später auch zunehmend demokratische und rechtsstaatliche Standards einfordern – auch wenn viele die Kombination einer autoritären Führung und einer „freien“ Wirtschafts- und Handelspolitik angesichts der Beispiele von China und der Türkei für mittelfristig wahrscheinlicher halten. Mit einer Abwendung vom Freihandel oder einem Boykott ganzer Produktionsstandorte in Entwicklungsländern wäre jedenfalls beides gleichermaßen – Wohlstand und Demokratisierung – verloren. Nur weil wir beispielsweise Kinderarbeit nicht mehr direkt sehen würden, wäre sie nicht weg. Im Gegenteil: Sie würde sich von den Augen der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeobachtet wieder in die rückständigen Produktionsbetriebe des agrarischen Hinterlandes verlagern. Freihandel und Arbeitsteilung bieten den Ländern durch Wachstumsperspektiven die einmalige Möglichkeit, bitterer Armut und mit steigendem Wohlstand hoffentlich auch politischer Unterdrückung zu entkommen. Dem wirtschaftlichen Fortschritt folgt dann im Idealfall politischer und sozialer Fortschritt – wie einst in Europa.

Die Demokratisierung ist dabei natürlich keine automatische Folge des Freihandels nach dem Motto: Wenn ihr den Freihandel einführt, bekommt ihr gleichzeitig die Demokratie mitgeliefert. Gewissermaßen kann auch die politische Veränderung, also eine schrittweise Demokratisierung, an erster Stelle kommen und die Basis für den dann folgenden wirtschaftlichen Fortschritt sein, da Menschen in einer Demokratie mit sicheren Eigentumsrechten einen größeren Anreiz haben, wirtschaftlich tätig und innovativ zu sein. So oder so: Vieles spricht dafür, dass sich beides – wirtschaftlicher Aufschwung und demokratische Veränderung – auf lange Sicht gesehen gegenseitig bedingen. Der Freihandel bietet die große Chance (nicht die Garantie!), ein Wachstums- und somit Wohlstandsmotor für arme Länder zu sein und diese aus Klientel- und Mangelwirtschaft zu befreien.

Chancen des Freihandels

Die Demokratisierung ist dabei natürlich keine automatische Folge des Freihandels nach dem Motto: Wenn ihr den Freihandel einführt, bekommt ihr gleichzeitig die Demokratie mitgeliefert. Gewissermaßen kann auch die politische Veränderung, also eine schrittweise Demokratisierung, an erster Stelle kommen und die Basis für den dann folgenden wirtschaftlichen Fortschritt sein, da Menschen in einer Demokratie mit sicheren Eigentumsrechten einen größeren Anreiz haben, wirtschaftlich tätig und innovativ zu sein. So oder so: Vieles spricht dafür, dass sich beides – wirtschaftlicher Aufschwung und demokratische Veränderung – auf lange Sicht gesehen gegenseitig bedingen. Der Freihandel bietet die große Chance (nicht die Garantie!), ein Wachstums- und somit Wohlstandsmotor für arme Länder zu sein und diese aus Klientel- und Mangelwirtschaft zu befreien.

Denn nach David Ricardo, einem der Begründer der internationalen Freihandelstheorie im damaligen Europa, lohnen sich Freihandel und Arbeitsteilung für alle beteiligten Länder, sogar in dem unrealistischen Fall, dass ein Land alle Produkte besser, kostengünstiger und effizienter herstellen kann als ein anderes. Beide Länder spezialisieren sich auf das, was sie im Verhältnis zum jeweils anderen am besten oder kostengünstigsten herstellen können und konzentrieren ihre Ressourcen auf die Wertschöpfung in „ihrem“ jeweiligen Spezialgebiet. Dadurch steigt die Produktivität auf beiden Seiten deutlich an, mehr Handel und Konsum sind nun möglich, was Wachstum generiert, welches wiederum Grundlage für zukünftige Investitionen ist. Dabei ist Ricardos Ansatz trotz aller Abstraktheit keineswegs graue Theorie geblieben: Der angesprochene rasante wirtschaftliche Aufschwung in vielen Ländern Europas während der Industrialisierung zeigt dies überdeutlich. Aber auch in jüngster Vergangenheit hat die schrittweise Öffnung Chinas eindrucksvoll bewiesen, wie sich ein ehemaliges Armenhaus aufgrund seines Kostenvorteils beim Faktor Arbeit zur „Werkbank der Welt“ entwickeln konnte und heute zunehmend selbst hochwertige und Knowhow erfordernde Produkte herstellt.

Natürlich ist die Ungleichheit in China krass, weil insbesondere die ländlichen Regionen im Landesinnern noch nicht so vom Aufschwung profitieren konnten wie die urbanen Hotspots an den Küsten des Riesenreichs. Das allgemeine Wohlstandsniveau ist heute aber deutlich höher, die Löhne und der Lebensstandard steigen und nicht nur die Oberschicht, sondern auch die Mittelschicht ist deutlich gewachsen – was insbesondere wieder für Deutschland als Exportnation einen riesigen Absatz- und Wachstumsmarkt bedeutet und somit auch in Zukunft Wohlstand verspricht. Gleichwohl: Sogenannte „Globalisierungsverlierer“, egal in welchem Land, dürfen nicht aus dem Blick geraten. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob ein umfassender Protektionismus die richtige Alternative ist. Denn protektionistische Maßnahmen mögen zeitweise wirksam sein, um den Strukturwandel in alten Industrieregionen sozialpolitisch abzufedern oder um umgekehrt junge Industrien vorübergehend zu schützen, um sie schließlich fit für den Weltmarkt zu machen. Dies haben die USA Ende des 19. Jahrhunderts oder auch China Ende des 20. Jahrhunderts durchaus mit Erfolg vorgemacht. Das Ziel bzw. der Zweck war aber immer: Teilnahme und Teilhabe am internationalen Freihandel.

Zudem schafft erst eine starke Wirtschaft die finanziellen Mittel, die für die Unterstützung und Weiterbildung jener, deren Arbeitsplätze vom Freihandel bedroht sind, nötig sind. Ein umfassender Protektionismus hingegen kann kurzfristig die Kosten der Anpassung an die Weltwirtschaft hinausschieben – wie dies etwa beim Kohlebergbau in Deutschland der Fall war. Langfristig gerät das entsprechende Land oder auch die Region im weltweiten Wettbewerb aber ins Hintertreffen oder die Weltwirtschaft kühlt sich im Zuge eines „Abschottungswettbewerbs“ ab. Dann muss der „schützende“ Staat bei sinkenden Wachstumsraten und somit Einnahmen nicht nur eine bestimmte, sondern eine viel größere und wachsende Zahl von Transfer- und Subventionsleistungsempfängern bedienen.

Verteilungskampf statt Arbeitsteilung

So differenziert argumentieren rechte und linke Apologeten aber schon gar nicht mehr. Für linke und rechte Globalisierungsgegner ist der Freihandel per se immer und überall ein Nullsummenspiel – des einen Gewinn ist demnach des anderen Verlust. Lediglich die Antworten hierauf sind unterschiedlich: Während sich Rechte möglichst viel vom „globalen Kuchen“ vor „Barbaren“ sichern wollen, sehen Linke „den“ Westen in der Schuld, der etwas von seinem „Wohlstand abgeben“ müsse, damit es den armen Menschen in der Welt ein bisschen besser geht. Die Antworten sind zwar entgegengesetzt, die Logik aber ist dieselbe: Verteilungskampf statt Arbeitsteilung. Anstatt zusammenzuarbeiten und mehr herzustellen, konkurrieren in einem solchen Szenario immer mehr Menschen und Länder um den stetig sinkenden Wohlstand. Bald werden Marktanteile dann auch nicht mehr darüber gewonnen, dass Unternehmen über Ländergrenzen hinweg kooperieren und konkurrieren, um ihren Kunden in aller Welt immer mehr vielfältige, erschwingliche und bessere Produkte und Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen, sondern schlicht und einfach über das Schwert. Erst gerät also der Wohlstand, dann der Frieden in Gefahr.

Ein freies Wirtschaftssystem ist also eine nach innen gerichtete, ein freies Handelssystem eine nach außen gerichtete Bedingung für allgemeinen Wohlstand, aber auch für Frieden in der Welt, wenn man davon ausgeht, dass Menschen, die miteinander Handel treiben, wenig Interesse daran zeigen dürften, sich gegenseitig umzubringen. Viele „Globalisierungs- und Freihandelskritiker“ setzen Probleme wie Armut und Ungleichheit, die zweifellos auch im heutigen Welthandel trotz aller Erfolge noch bestehen, mit dem Freihandel gleich, obwohl sie viel mehr mit Protektionismus und Klientelwirtschaft zu tun haben: Wenn Staaten Großbanken aufgrund ihrer „Systemrelevanz“ retten, Gewinne dabei zu Gunsten weniger privatisiert und Verluste zu Lasten aller sozialisiert werden, dann wird damit doch gerade der Grundsatz marktwirtschaftlicher Haftung außer Kraft gesetzt und die Finanzbranche durch staatlichen Protektionismus geschützt. Wenn reiche Industriestaaten armen Entwicklungsländern unfaire Handelsbedingungen aufzwingen – ob in Form von Einfuhrzöllen oder Agrarsubventionen – hat dies nichts mit Freihandel, sondern doch gerade mit Protektionismus der Agrarbranche zu tun. Wenn Großkonzerne mit Hilfe der herrschenden Eliten in „failed states“ Landraub betreiben, Bauern enteignen und giftige Abwässer zurück in die Umwelt leiten, dann hat dies viel mit mangelnden Eigentums- und Klagerechten in den betreffenden Ländern zu tun. Wenn in solch armen Entwicklungsländern eine kleine Machtelite (nicht selten mit offener oder verdeckter Unterstützung aus dem Westen) die große Masse ausbeutet, dann ist das ebenfalls ein Skandal, hat aber nichts mit dem Freihandel und schon gar nichts mit dem Neoliberalismus, sondern mit Vettern- und Misswirtschaft – kurz Staatsversagen – zu tun. Dabei ist es weitgehend egal, ob es sich bei dem herrschenden Regime um einen alteingesessenen Clan, eine religiöse Theokratie, einen nationalistischen Autokraten oder auch um eine sozialistische Partei handelt. Das Ergebnis ist immer dasselbe: Im Namen einer angeblich hehren Idee oder schlicht mit dem Recht des Stärkeren werden individuelle Freiheitsräume eingeschränkt, wird die Wirtschaft vom Staat kontrolliert, grassieren Korruption, Vettern- und Misswirtschaft. Zu oft stützt sich der liberalisierte Welthandel auf lokale Bedingungen, die nur als unfrei bezeichnet werden können. Deshalb sollte aber nicht der Welthandel und mit ihm ein wesentlicher Wachstumsmotor angehalten werden, sondern die Bedingungen vor Ort müssen geändert werden. Denn die notwendigen rechtsstaatlichen und demokratischen Bedingungen für einen wirklich freien Handel können zwar in Abkommen proklamiert und festgehalten werden, wirklich zur Geltung gebracht und durchgesetzt werden müssen sie aber vor Ort.

Diesbezüglich sollte zum Schluss noch mit einem großen Missverständnis aufgeräumt werden: Globalisierung sollte trotz aller wichtigen Entgrenzungen nicht bedeuten, dass regionale oder nationale Souveränitäten zu Gunsten eines technokratischen Apparates jenseits demokratischer Rechenschaftspflichten oder dass elementare Standards aufgelöst werden. Deutschland als eines der am meisten in den Freihandel eingebundenen Länder weltweit gehört gleichzeitig zu den Ländern mit den höchsten Sozial- und Umweltstandards. Hohe Standards, die in den demokratischen Nationalstaaten oder in Kooperation derselben erreicht wurden und wirtschaftlicher Erfolg durch Freihandel schließen sich also nicht aus. Dafür muss der Freihandel, wie zu Beginn angedeutet, aber auch im Kleinen verteidigt und gewollt werden – bisweilen auch angesichts schmerzhafter Reformen und Strukturveränderungen. Eine offene demokratische Debatte über die Vor- und auch Nachteile der Globalisierung, über den selbstbestimmten Grad der Öffnung – nicht nur bei Fragen des Handels, sondern auch der Migration – muss stattfinden. Ein abschätziges Herabblicken auf „rückständige Globalisierungsverlierer“ oder eine aufgezwungene Freihandelsagenda ist nicht der richtige Weg. In einer solchen Debatte sollten diejenigen, die Wohlstand, Freiheit und Frieden für alle anstreben, aber erkennen, dass der Gegner nicht im Freihandel zu sehen ist. Dieser ist in Eliten zu finden, die im Namen des Freihandels Interessenpolitik betreiben und sich dafür den Staat zur Beute machen, sowie in rechten und linken Globalisierungsgegnern, die ein Zurück in eine romantisierte (Mangel-)Wirtschaftswelt propagieren.

Erstmals erschienen bei Novo Argumente.