Beim Thema „Political Correctness“ neigen Gegner wie Befürworter dazu, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Um zu vermeiden, dass überall nasse Kinder herumliegen, sollte man ein wenig Begriffsklärung betreiben und die Hysterie aus der Debatte nehmen. Denn eigentlich geht es um eine Kultur des Anstands und des Respekts.
Der Vorgarten-Gandhi
Es ist wohl eine unvermeidbare Folge unserer Geschichte, dass viele Deutsche in ihren Tagträumen mit Sophie Scholl zusammen schon so manches Flugblatt in der Münchener Uni verteilt haben. Dieser historische Kontext verschärft noch einmal die menschliche Neigung zur Selbstgerechtigkeit. Die besonders gerne von manchen Grünen gepflegte Empörungskultur hat schon manchen Sturm der Entrüstung über die Republik fegen lassen. Dabei ist diese „Kultur“ oft gefährlich oberflächlich: Anstatt sich mit konträren Meinungen und Argumenten auseinander zu setzen, entfesseln die Empörer sofort die Rachegöttinnen und brüllen im Zweifel die andere Meinung auch einfach nieder.
Das ist aber keine heroische Tat des zivilen Ungehorsams, sondern schlicht und einfach schlechtes und unzivilisiertes Benehmen. Es ist schon genug gewaltsamen Ideologien gelungen, Menschen zu einem solchen Niederbrüllen anzustacheln, um diese Methode ein für alle Mal zu diskreditieren – könnte man meinen … Nur leider ist das Gefühl zu schön, auf der richtigen Seite zu stehen, anderen moralisch und menschlich überlegen zu sein. Viele Matadore der Political Correctness sind alles andere als mutig; sie schwimmen nur mit der Mehrheit und sind letztlich nichts anderes als Vorgarten-Gandhis. Von echter Courage keine Spur.
Die hochpubertäre Reaktion
Die getroffenen Hunde auf der anderen Seite bellen allerdings nicht weniger dümmlich zurück. So beschwert sich etwa ein Thilo Sarrazin in einem ganzen Buch („Der neue Tugendterror“) „über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“. Was der Autor verschweigt ist, dass es gerade diese vermeintlichen Grenzen sind, die seinen eigenen Erfolg sichern. Die von ihm vorgebrachten selbstdefinierten „Wahrheiten“ sind ja vor allem deswegen „unbequem“, weil sich sofort die politisch korrekten Furien auf sie stürzen. „Das wird man doch wohl noch mal sagen dürfen“ ist einfach auch ein sehr erfolgreiches Geschäftsmodell.
Gleichsam die reaktionäre Reaktion auf Claudia Roth hingegen ist Akif Pirincci, der mit seinem Buch „Deutschland von Sinnen – der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ zu einem Rundumschlag ausholt, der inhaltlich wie sprachlich an Ausraster von hochpubertären Jugendlichen erinnert. Die Ritter wider die Political Correctness sind eigentlich gerade nicht daran interessiert, ein Klima der echten Meinungsfreiheit herzustellen, sondern daran, es zu verhindern. Denn ihre Hysterie nährt sich von der Hysterie der Gegenseite. Nur dank der Berufs-Empörten können sie sich fortwährend zum Opfer stilisieren.
Empörte und beleidigte Leberwürste
Beide Seiten schütten in ihren Kreuzzügen die jeweiligen Kinder mit dem Bade aus. Beide Seiten haben wertvolle Anliegen, deren Verwirklichung sie aber oft verhindern, weil sie zu weit gehen. Das Grundanliegen der Political Correctness ist es, dagegen anzugehen, dass Menschen mittels der Sprache pauschal verunglimpft oder schlechter behandelt werden. Die Feder ist mächtiger als das Schwert, zumal in einer Zeit, in der physische Gewalt verpönt ist. Dass Worte tief verletzen können und die Macht haben, Menschen psychisch zu zerstören, weiß jedes Kindergartenkind aus Erfahrung. Darauf aufmerksam zu machen, dass wir diese Macht der Worte nicht missbrauchen sollten, ist ein ehrenwertes Anliegen. Nur darf man eben nicht Kreuzzüge führen, sondern muss versuchen, für Verständnis und Einsicht zu werben.
Kreuzzüge provozieren unweigerlich Überreaktionen von Seiten derer, die einen anderen Standpunkt vertreten. Nicht jeder, der beispielsweise zu den Themen „Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ eine Ansicht vertritt, die von der derzeitigen Mehrheitsmeinung abweicht, ist ein Sexist, Homophober oder Rassist. Wer den Eindruck bekommt, in diese Ecke gedrängt zu werden, reagiert dann womöglich entsprechend über. Ein gern vorgebrachtes Argument lautet auch, dass übertriebene Reaktionen auf die Political Correctness nun mal nötig seien, um deren Übertreibung zu konterkarieren. Die Erfahrung zeigt: das Gegenteil ist der Fall. Korrekte und Inkorrekte schaukeln einander gegenseitig hoch, anstatt ihre legitimen Anliegen – Respekt und Meinungsfreiheit – zu befördern. Das führt unvermeidlich in einen Teufelskreis von empörten und beleidigten Leberwürsten.
Tugend, meine Damen und Herren!
Es gehört zu den bemerkenswertesten Errungenschaften der Menschheit, dass wir immer mehr lernen, einander nicht einen über die Mütze zu ziehen, wenn wir nicht übereinstimmen. Wir haben gelernt, gewaltsame Auseinandersetzungen immer mehr zu vermeiden und Konflikte auf diskursivem Wege zu lösen. Eine der Grundvoraussetzungen dafür war die Entwicklung der Idee von Toleranz. Doch genau daran mangelt es oft den Vorgarten-Gandhis genauso wie den pubertären Reaktionären. Die einen wollen nicht akzeptieren, dass andere Menschen abweichende Meinungen vertreten. Und die anderen halten es für ihr gutes Recht, sich herablassend über andere Menschen äußern zu dürfen.
Political Correctness ist keine neumodische Erfindung. Als „Gerechtigkeit“ war sie schon in der Antike eine der Kardinaltugenden. Konkreter noch finden wir sie paradoxerweise unter den sogenannten „Sekundärtugenden“, mit denen man laut Oskar Lafontaine auch ein KZ betreiben kann. Political Correctness bedeutet schlicht „Anstand“. Man ist freundlich zu Menschen, man behandelt sie nicht herablassend, man begegnet ihnen auf Augenhöhe. Das sind Selbstverständlichkeiten. Wenn man Political Correctness etwas niedriger hängt, als es ihre fanatischen Vertreter zu tun pflegen, kommt eine große zivilisatorische Errungenschaft zum Vorschein: Nennen wir es „Respekt“.
Respekt kann man nicht verordnen, man muss dafür werben
Es ist eine Frage des Respekts, dass wir Menschen nicht als „Neger“ und „Kanaken“ bezeichnen. Es ist eine Frage des Respekts, dass wir Frauen ordentlich und gleichwertig behandeln. Es ist eine Frage des Respekts, dass wir einem homosexuellen Paar auf der Straße keine dummen Sprüche hinterherrufen. Und, ja, es ist auch eine Frage des Respekts, dass wir keine Hexenjagd auf jemanden veranstalten, der unsere gesellschaftlichen Vorstellungen nicht teilt.
Zweifellos: es gibt viele ungute Auswüchse der Political Correctness. Heikel wird es, sobald ihre Vertreter anfangen, ihre Überzeugungen in Gesetze gießen zu wollen. Damit sind sie dann kein Deut besser als diejenigen, die auf Teufel komm raus eine heile Welt erhalten wollen, die gesetzliche Privilegierung der heterosexuellen Ehe verteidigen oder zur Begrenzung von Zuwanderung aufrufen. Formal ist das auch nichts anderes als die „politisch korrekte“ Forderung nach einer Frauenquote. Political Correctness ist aber dann sinnvoll, wenn ihre Vertreter darauf verzichten, den Staat für sich zu instrumentalisieren. Sie ist dann sinnvoll, wenn wir mit ihr aktiv in unserer Gesellschaft für Anstand und Respekt werben – wenn wir versuchen zu überzeugen statt zu zwingen. Denn nur dann ist sie wirklich vereinbar mit der Offenen Gesellschaft, in der Menschen gut und gerecht behandelt werden – unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft oder anderen Merkmalen.
Photo: Harshit Sekhon from Flickr