Das Hambacher Fest gilt als Wiege der deutschen Demokratie. Am 27. Mai 1832 versammelten sich unweit des kleinen Städtchens Neustadt an der Weinstraße 20.000 bis 30.000 Bürger aus der Pfalz und den deutschen Ländern, um für Einigkeit, Recht und Freiheit einzutreten. Es war wohl der erste Flashmob in der deutschen Geschichte. Die Veranstalter rechneten mit 1.000 Teilnehmern, tatsächlich kam ein Vielfaches davon.

In der Geschichte Deutschlands sind solche Freiheitsmomente selten. Die Paulskirchenversammlung 1848/49 und die Deutsche Einheit 1989/90 gehören sicherlich dazu, aber darüber hinaus muss man lange suchen.

Wie gelang es in einer Zeit ohne Facebook und Internet, mit zahlreichen Grenzkontrollen und staatlicher Repressalien, wie Pressezensur und in Teilen sogar noch Leibeigenschaft, dennoch so viele Bürger zu bewegen, teils tagelange Anfahrtswege in Kauf zu nehmen, um mit Gleichgesinnten für die eigenen Ideale zu streiten? Was bewegte Menschen wie Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Johann Georg August Wirth dazu, die Lasten und Gefahren auf sich zu nehmen, sich mit den Mächtigen anzulegen und ihre eigene Existenz aufs Spiel zu setzen? Die offizielle Geschichtsschreibung nennt den Wunsch nach nationaler Einheit, bürgerlichen Freiheiten, staatsbürgerlicher Mitwirkung und die Verständigung der europäischen Völker als Hauptmotiv. Doch reichen diese abstrakten Ziele wirklich aus, um den Mythos Hambach zu erklären?

Wohl nicht! Für dieses historische Ereignis bedurfte es mehr. Es benötigte einen Moment in der Geschichte, der ein Zusammenkommen von Personen, die ihre Ideale konsequent vertreten, mit einem gesellschaftlichen Klima wie im Vormärz des 19. Jahrhunderts verbindet. In der Pfalz war dieses Klima des Aufbruchs und der Veränderung besonders vorhanden. Zum einen lernte die Pfalz mit der französischen Besatzung bis 1814 auch die bürgerlichen Rechte und Freiheiten eines „Code Civil“ kennen und zum anderen war die als Fremdherrschaft empfundene Zugehörigkeit der Pfalz zum Königreich Bayern mit weitgehenden Diskriminierungen verbunden. Eine hohe Steuerbelastung und verschärfte Zollbestimmungen für die Pfalz führten zu Armut und Frust in der Bevölkerung. Allein der so genannte „Holzfrevel“, also der Holzdiebstahl aus den Wäldern der Pfalz, brachte ein Fünftel der Bevölkerung vor Gericht.

Dennoch reichte die Not der Bevölkerung alleine nicht aus, damit diese Großdemonstration sich tatsächlich Bahn brechen konnte. Es bedurfte auch Personen, die ihre Ideale konsequent vertreten und umsetzen. Es gelang Wirth, Siebenpfeiffer und weiteren Mitstreitern schon Jahre vorher publizistisch über die Pfalz hinaus, ein Netzwerk von Gleichgesinnten aufzubauen. Mit der Gründung des „Preßvereins“ schufen sie einen organisatorischen Rahmen für eine Freiheitsbewegung, die in ihrer Spitze 5000 Mitglieder umfasste.

Für ungeduldige Freiheitsfreunde ist der Vormärz sehr lehrreich. Nicht alles geht von heute auf morgen. Vieles braucht seine Zeit und seinen Moment. Zwischen Hambacher Fest 1832 und der Paulskirchenversammlung mit der Verabschiedung der ersten deutschen Verfassung lagen immerhin 17 Jahre. Und vielleicht hätte es dieses Ereignis so nie gegeben, hätten Freiheitsfreunde wie Siebenpfeiffer und Wirth nicht die Courage besessen, mit Klugheit und Mut gegen die Macht der Herrschenden vorzugehen.

Siebenpfeiffer und Wirth schufen einen Freiheitsmoment in der deutschen Geschichte, der nicht durch seine Rationalität über Jahrhunderte zum Mythos wurde, sondern durch seine Emotionalität. Es war ein Fest der Freiheit, bei der zwar 25 politische Reden gehalten wurden, die von Wirth später auch publiziert und verbreitet wurden, aber im gesellschaftlichen Gedächtnis blieben die Bilder feiernder Menschen und das friedliche Zusammenkommen aus Nah und Fern auf dem Hambacher Schloss. Siebenpfeiffer hat den emotionalen Moment der Freiheit in einem Lied zum Hambacher Fest zusammengefasst. In der Schlussstrophe heißt es: „Frisch auf, Patrioten, den Berg hinauf! Wir pflanzen die Freiheit, das Vaterland auf!“

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Über das österreichische Bundesland Kärnten erfährt man in Deutschland zumeist sehr wenig. Es sind zwei Dinge, die man mit dem südlichsten Landstrich der Alpenrepublik verbindet. Für die einen ist es das seenreiche Ferienparadies für den Familienurlaub. Und für die anderen ist es vielleicht noch das Wirken des ehemaligen Landeshauptmannes Jörg Haider, der die österreichische Politik mit seiner rechtspopulistischen Partei FPÖ durcheinanderwirbelte. 2008 starb er bei einem Autounfall. Mit letzterem ist auch die aktuelle Berichterstattung über Kärnten eng verbunden. 2007 kaufte die Bayern LB auf dem Hoch der damaligen Börsenblase für 1,625 Milliarden Euro mehrheitlich vom Land Kärnten die Landesbank „Hypo Alpe Adria“. Seitdem geht es bergab. Korruption, Vettern- und Günstlingswirtschaft erschüttern seitdem Kärnten, Österreich, Bayern und die Bankenwelt.

Für die Bayern LB und den Freistaat Bayern wird der unternehmerische Ausflug an den Wörthersee zum Milliardengrab. Die Milliardendefizite wollten die Bayern irgendwann nicht mehr bezahlen und verkauften die Bank für einen Euro an den österreichischen Staat, der das Institut inzwischen abwickelt. Jörg Haiders Vermächtnis ist eine Garantie des Landes Kärnten von 10,5 Milliarden Euro gegenüber den Gläubigern der Bank. Davon sind alleine 7,1 Milliarden Euro in den Büchern deutscher Institute. Diese wenden sich jetzt an das Land Kärnten und mittelbar an den Österreichischen Staat und wollen ihr Geld zurück.

In Deutschland wäre es sehr einfach. Kann ein Bundesland nicht bezahlen, könnten sich die Gläubiger letztendlich auch an den Bund wenden. Ein Insolvenzverfahren für Kommunen, Länder oder für den Bund ist per Gesetz ausgeschlossen. Diese Einstandspflicht sichert den Kommunen und den Bundesländern faktisch gleiche Finanzierungskonditionen wie dem Bund. Anders ist es in der Schweiz. Dort haben Städte und Kantone eine eigene Insolvenzfähigkeit. Als 1998 die Gemeinde Leukerbad im Kanton Wallis zahlungsunfähig wurde und die Gläubiger sich an den Kanton und an die Zentralregierung im fernen Bern richteten, versagten diese eine Unterstützung mit dem Hinweis auf die Finanzautonomie der Gemeinde. Dies wurde höchstrichterlich bestätigt. Die Folge war: Die Gläubiger mussten auf 78 Prozent ihrer Forderungen verzichten. Seitdem differenzieren die Finanzierungskonditionen zwischen den Städten, den Kantonen und dem Bund. Nicht klar geregelt ist der Fall wohl in Österreich, und schon deshalb ist der weitere Verlauf spannend.

Doch welche Lehre zieht eigentlich die Landesregierung in Bayern aus dem Schlamassel in Kärnten? Und welche Schlussfolgerungen ziehen die Landesregierungen in Düsseldorf, Hannover, Stuttgart, Kiel und Hamburg aus den Schieflagen ihrer Landesbanken? Der missratene Weg der Landesbanken in unserem Land ist gepflastert mit Missmanagement, Korruption und Steuergeldverschwendung. Seit Anfang der 1990er Jahre haben die Landesbanken in Deutschland über 37 Milliarden Euro von den Ländern und Kommunen erhalten, um ihre Defizite auszugleichen. Und mit alleine 198 Milliarden Euro staatlichen und kommunalen Garantien mussten die WestLB, HSH Nordbank, LBBW und wie sie auch alle heißen, gestützt werden.

Zwei Dinge kann man daraus lernen. Erstens: Der Staat ist ein schlechter Unternehmer. Das zeigt sich nicht nur bei den Landesbanken, aber vor allem da. In den Aufsichtsgremien sitzen Politiker, die dafür keine Qualifikation aufweisen, die Vorstände wurden und werden politisch besetzt, und im Zweifel haftet der Steuerzahler für deren Versagen. Das war und ist keine tragfähige Konstruktion. Im Falle der Bayern LB muss man deshalb nicht nur die fahrlässige Rolle der Vorstände diskutieren, sondern auch die Aufsichtsräte zur Verantwortung ziehen. Risiko, Haftung und Verantwortung dürfen nicht zu einer Leerformel verkommen, sondern bewähren sich in der Praxis des politischen Alltags. Und zweitens: Das Schweizer Modell des Wettbewerbsförderalismus ist dem deutschen überlegen. Jeder haftet für seine Schulden selbst. Dieses Prinzip sorgt dafür, dass das Risiko als solches für den Anleger und Gläubiger erkennbar wird. Nur wenn dies der Fall ist, geht man mit Risiken verantwortungsvoll um und verlässt sich nicht auf Dritte. Wie es schon der Ordo-Liberale Wilhelm Röpke formulierte: „Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen.“

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 25. April 2015.

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Anfang Februar schrieb ich an dieser Stelle: „Bis Varoufakis ein neues Hilfsprogramm mit dem Euro-Club verhandelt hat, dauert es noch einige Monate. Bis dahin wird ihn die EZB über Wasser halten. Den wesentlichen Schritt dazu hat sie schon geleistet, indem sie ihren Beschluss aufhob, die als Schrottpapiere klassifizierten griechischen Staatsanleihen weiterhin als Sicherheiten zu akzeptieren. Das bedeutet, die griechischen Banken haben damit faktisch keinen Zugang mehr zu Zentralbankgeld der EZB. Damit bewahrt Mario Draghi sein Gesicht, eröffnet aber den griechischen Banken einen direkten Zugang zu sogenannten Ela-Kredite der griechischen Notenbank. Diese kann derzeit bis zu 60 Milliarden Euro auf „eigene Rechnung“ vergeben. In der Hochphase der Krise 2012 betrugen die Kredite über 120 Milliarden Euro. Inzwischen sind sie wieder fast auf Null reduziert. Das verschafft der griechischen Regierung Luft. Sie hat in der Vergangenheit bereits kurzlaufende Anleihen, so genannte T-Bills, herausgegeben. Diese können die heimischen Banken aufkaufen, als Sicherheiten bei der eigenen Notenbank einreichen und erhalten damit frisches Geld aus dem „Keller“ der griechischen Notenbank. Die Staatsfinanzierung durch die Druckerpresse ist perfekt.“

Genauso passiert es jetzt. Die Ela-Kredite werden im wöchentlichen Rhythmus von der EZB genehmigt und betragen derzeit über 75 Milliarden Euro. Der griechische Staat begibt kurzlaufende Anleihen und finanziert sich so über die Druckerpresse der eigenen Notenbank. Und die Staatengemeinschaft verhandelt im Hintergrund ein neues Paket mit Griechenland, welches das jetzige, nicht umgesetzte Programm ersetzen soll. Alle wahren ihr Gesicht: Schäuble kann sagen, die letzte Tranche des aktuellen Programms wurde nicht ausbezahlt, weil die Maßnahmen nicht umgesetzt wurden und er kann sich anschließend im Bundestag wegen seiner harten Haltung auf die Schulter klopfen lassen. Tsipras und Varoufakis können mitteilen, dass sie dem Diktat des Euro-Clubs nicht gefolgt sind und die Reformen rückgängig gemacht haben. Der IWF wird sagen, dass er spätestens im August raus ist, dann sein Geld wiederbekommen hat und die Europäer seine Aufgabe nun übernehmen müssten. Mario Draghi wird sagen, dass der Zugang der griechischen Banken zu EZB-Krediten von ihm gekappt wurde und die Ela-Kredite „nur“ auf das eigene Risiko der griechischen Notenbank (!) vergeben würden.

Das nennt man europäische Politik. Alle sind zufrieden. Mit dem Auslaufen des aktuellen „Hilfsprogramms“ Ende Juni muss dann nochmals eine entscheidende Hürde übersprungen werden. Zwischen Juni und August müssen Varoufakis und Tsipras rund 19 Milliarden Euro aufbringen, um Kredite, Anleihen und Zinsen bedienen und verlängern zu können. Beide Seiten, die Troika und auch die griechische Regierung, stehen vor einem Dilemma. Beide müssen die Verhandlungen als Erfolg verkaufen können. Völlig unstreitig ist, dass ein Grexit für die Troika ausgeschlossen ist. Kann der Euro-Club und die EZB eine Zahlungsunfähigkeit und damit eine Staatsinsolvenz Griechenlands vermeiden, werden sie es um jeden Preis tun. Niemand von den Beteiligten will Milliarden-Beträge abschreiben müssen – weder Schäuble noch Draghi. Beide schreiben an ihrem eigenen Geschichtsbuch. Das Grexit-Kapitel taucht darin nicht auf. Eigentlich könnte nur ein Graccident, also ein ungeplanter Staatsbankrott, zu einem Austritt Griechenlands aus dem Euro-Club führen. Doch dies wird Draghi im Zweifel zu verhindern wissen. Er kann jederzeit in den Keller gehen und Geld in unbegrenzter Höhe „drucken“ und den Banken und der griechischen Regierung zur Verfügung stellen. Er würde dies dann mit der besonderen Situation und der Finanzstabilität des Euros begründen.

Doch auch Schäuble muss dem Bundestag eine Geschichte erzählen können. Diese wird ungefähr so lauten: Griechenland ist ein isolierter Fall. Überall in Europa haben die Maßnahmen geholfen. Das Chaos, das 2010 und 2011 mit der Insolvenz von Staaten im Euro-Raum gedroht hätte, sei Dank des entschlossenen Eingreifens verhindert worden. Jetzt dauere es eben länger und Griechenland müsse über viele Jahre geholfen werden. Doch es ginge nicht an, dass die reichen Griechen immer Geld von den Konten abheben würden und ins Ausland brächten. Daher sei es richtig, dass – wie seinerzeit in Zypern – auch in Griechenland Kapitalverkehrskontrollen eingeführt würden.

Und Tsipras? Was macht der? Natürlich Neuwahlen! Er wird sich seinen Kurs der Erpressung gegenüber den Geldgeber bestätigen lassen, um weiter den Euro-Club mit dem Nasenring durch die Manege ziehen zu können. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Alle Krisenstaaten sind in ihrer Wirtschaftsleistung unter dem Niveau vor der Bankenkrise 2008/2009. Inzwischen erreicht der Dreimonats-Geldmarktzins Euribor erstmals eine negative Rendite.

Die Rufe, dass die Geldpolitik die Pensionsfonds und Versicherungen zerstört, nehmen derweilen zu. Die Bundesregierung hat schon mal im Voraus die Anlagevorschriften für Lebensversicherungen gelockert. Sie können jetzt einfacher in die Energiewende investieren. So schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe. Das Weltklima wird gerettet und die private Altersvorsorge wird durch garantierte Renditen stabilisiert, die der Stromkunde selbstverständlich bezahlen muss. „Sparen für das Weltklima“ entspricht ohnehin mehr dem Zeitgeist als seinerzeit „Rauchen für die Rente“. Gerade hat die „Alte Leipziger”, einer der solidesten Versicherer in Deutschland, mitgeteilt, dass man im laufenden Jahr in Offshore-Windparks investieren wolle.

Die Quintessenz von all dem ist: Die Intervention nährt die nächste Intervention und die eine staatliche Willkür erzeugt den Nährboden der nächsten staatlichen Willkür. Die Antwort einer freien Gesellschaft darauf lautet: die strikte Verhinderung von Zwang außer für die Durchsetzung allgemeiner, auf alle gleichermaßen anwendbarer abstrakten Regeln.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Tichys Einblick.

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Politisches Denken wird maßgeblich bestimmt von Erzählungen. Eine wichtige Rolle spielen dabei historische Erzählungen, die die Gegenwart mithilfe der Vergangenheit deuten. Dabei wird Geschichte jedoch oft einseitig dargestellt. Den Nutzen haben die Mächtigen.

Schlachten und Herrscher bestimmen unsere Geschichtsbücher

Anfang April jährte sich Bismarcks Geburtstag zum 200. Mal. Manch einer versuchte, aus diesem Jubiläum politisches Kapital zu ziehen. Auch der Finanzminister erhob zaghafte Ansprüche auf das Erbe des Eisernen Kanzlers. Sein dazugehöriger FAZ-Artikel musste freilich etliche Pirouetten drehen und mehrere Hindernisse umschiffen, um das ohne Bauchplatscher ins Fettnäpfchen hinzubekommen. Drei Kriege, die Katholiken- und Sozialistenverfolgung sind selbst für einen gewieften Politiker wie Schäuble nicht einfach weg zu diskutieren. Es bleibt verwunderlich: dieselben Leute, die Politiker wie Orban, Erdogan oder Putin mit Sorge beobachten, tragen ihr Wohlwollen gegenüber Bismarck unverhohlen zur Schau.

Wir Menschen lieben Erzählungen. Am meisten solche mit Helden und Schurken. Schon die alten Sagen von Homer handelten mehr von Kriegern und Anführern als von Erfindern und Unternehmern. Dieses Phänomen zieht sich durch. Am Ende des 19. Jahrhunderts war Deutschland übersät mit Kaiser-Wilhelm-Denkmälern und –Straßen und es gab weit mehr Heldendenkmäler für die Gefallenen als Krankenhäuser für die Lebenden. Und noch heute hangeln sich die meisten Geschichtsbücher entlang einflussreicher Herrscher und gewaltiger Schlachten. Die Schlüsseldaten der Geschichte, die fast jeder kennt, lauten eben immer noch 1618, 1789, 1815, 1871, 1918, 1933, 1945 … Das Jahr 1989 ist tatsächlich eine rühmliche Ausnahme.

Legitimation der Macht

Es ist kein Wunder, dass wir eine solche Tradition haben, denn die meisten Geschichtsschreiber waren direkt oder indirekt abhängig von den Mächtigen ihrer Zeit. Und so hatte Geschichtsschreibung oft zumindest auch das Anliegen, deren Handeln zu rechtfertigen. Es war selbstverständlich, Herrscher und Schlachten für die eigenen Erzählungen zu nutzen. Und natürlich fanden sich auch immer dankbare Zuhörer. Die Kämpfe in Gallien waren eben spannender als die Erzählung von der Erfindung des Aquädukts. Das ist heute noch so: Der Erfolg von „Game of Thrones“ oder „House of Cards“ zeigt die zeitlose Gültigkeit dieses Phänomens – auch in unserer scheinbar aufgeklärten Gesellschaft.

Wegen dieses Erzählmusters werden die technischen und zivilisatorischen Fortschritte der Menschheit meist mit Herrschern und Politikern in Verbindung gebracht. Das hilft auch den aktuellen Akteuren. Weil wir durch diese Art Geschichtsschreibung geprägt sind, erwarten viele, dass die Mächtigen entscheidende Veränderungen einleiten. Diese Art Geschichtsschreibung legitimiert den Anspruch, mit dem Politiker auftreten, und nährt die Hoffnungen, die in sie gesetzt werden. Vor dem Hintergrund der verklärenden Geschichtsschreibung übersehen viele, dass die Bilanz in der Regel gemischt, oft auch negativ war. Ein Friedrich II. von Preußen mag Voltaire gefördert haben, aber er hat eben auch einen schrecklichen Krieg angezettelt, der mehr als eine Million Menschen das Leben kostete und weltweit wirtschaftliche Entwicklung hemmte. Kaiser Karl der Große hat einen Genozid unter Friesen und Sachsen durchgeführt – was gerne unterschlagen wird, wenn er heute als der „erste Europäer“ gefeiert wird.

Wenn wir unsere Perspektive ändern, dann ändert das auch unser Verhalten

Es ist nicht nur eine Frage der Fairness, dass wir uns ein anderes Geschichtsverständnis zulegen, sondern auch eine Frage der Klugheit. Fairness, weil der wirkliche Fortschritt für die Menschheit eben von Erfindern, Unternehmern, Denkern und deren Unterstützern ausging. Und Klugheit, weil wir dann vielleicht denen nicht mehr bedenkenlos Verantwortung übertragen würden, die sie so oft missbrauchen. Von dem englischen Historiker Lord Acton stammt der Satz: „Macht hat die Tendenz zu korrumpieren und absolute Macht korrumpiert absolut.“ Unsere Helden sollten nicht Karl der Große oder Friedrich II. von Preußen, Bismarck oder Adenauer heißen, sondern Johannes Gutenberg oder Moses Mendelssohn, Robert Koch oder Karl Albrecht.

Kriege werden durch Töten gewonnen. Fürstenthrone auf den Rücken der Untertanen gebaut. Mit anderen Worten: Politik lebt von den Opfern, die andere bringen. Wenn wir Geschichte schreiben und erzählen, sollten wir lieber von denen berichten, die durch ihre Findigkeit, ihren Unternehmergeist und überhaupt ihre positive Energie die Leben von Tausenden, Millionen, oft sogar der ganzen Menschheit massiv verbessert haben. Von diesen Menschen sollten wir lernen, ihnen vertrauen, ihnen nacheifern. Wenn wir unsere Perspektive ändern, dann ändert das auch unser Verhalten: Reden wir mehr über Forscher und Unternehmer – dann wird es auch wieder mehr davon geben!

Photo: Ian Rutherford from Flickr

Die Vorratsdatenspeicherung (VDS) beherrscht mal wieder die Schlagzeilen. In den meisten Kommentaren geht es – zurecht – vor allem um die Frage der Legitimität solcher Eingriffe in die Privatsphäre. Ebenso interessant ist aber die Frage der Effizienz.

Aktionismus statt Lösungen

Es gehört leider mittlerweile zum täglichen Ritual: Irgendein Problem taucht auf und schon beginnt der Überbietungswettbewerb für Lösungen in der politischen Arena. In der Regel gibt es zwei mögliche Stoßrichtungen für die Lösungen, die Politiker präsentieren: Entweder solche, die an die Gefühle des Wählers appellieren (z. B. Mindestlohn, Mütterrente, Ausstieg aus der Atomenergie). Oder solche, die Politik und Bürokratie mit mehr Kompetenzen ausstatten (Euro-Rettungsschirme, Arbeitsplatzverordnungen oder – eben – VDS). Ausschlaggebend für den Lösungsvorschlag ist nicht, dass das Problem tatsächlich verbessert oder gar behoben wird. Entscheidend ist, dass eines dieser beiden Kriterien erfüllt wird.

Es handelt sich dabei leider tatsächlich um einen Überbietungswettbewerb. Denn kein Politiker will erst der dritte sein, der einen Lösungsvorschlag präsentiert. Und der Satz „darüber müssen wir erstmal in Ruhe nachdenken“ gehört definitiv nicht zum Standardvokabular in einer Welt, in der die Bedeutung von Politikern an den zitierten Sätzen in Medien hängt. Die Folge ist ein ruheloser Aktionismus, der sich mit allem beschäftigt außer dem tatsächlichen Problem.

Die VDS führt nur zur Professionalisierung von Verbrechern

Es gibt genug anschauliche Beispiele dafür, wie dieser Aktionismus komplett ins Leere läuft. Wenn wieder irgendwelche Banken sich verzocken oder Schrottpapiere unter das Volk bringen, kann man fest mit einem Ruf nach mehr Regulierung rechnen. Während dann Ministerien und internationale Gremien jahrelang über neue Regulierungen verhandeln, können sich die Banken in aller Seelenruhe darauf einstellen und überlegen, wie sie die neuen Regeln umgehen. Das gleiche gilt für die Bekämpfung des Drogenhandels. Das einzige Ergebnis, das hier durch die Reaktionen von Politik und Polizei gezeitigt wird, ist eine zunehmende Kriminalisierung, nicht aber der Rückgang von Drogenmissbrauch. Selbst so unverdächtige Institutionen wie das Max-Planck-Institut für Strafrecht, der wissenschaftliche Dienst des Bundestages und – ja! – das Bundeskriminalamt kommen zu dem Schluss, dass die VDS einen statistisch kaum oder gar nicht erfassbaren Einfluss auf Verbrechensaufklärung hat, geschweige denn auf deren Verhinderung.

Man darf jedoch erwarten, dass andere, unbeabsichtigte Folgen eintreten werden. Allen voran eine Professionalisierung von Terroristen und Kriminellen. So wie Banken immer raffiniertere (und unverständlichere) Finanzprodukte ersinnen werden, je mehr Regulierungen eingeführt werden, so werden auch Verbrecher ihre Methoden unter dem Druck der VDS verbessern. Nachdem mit dem „Krieg gegen die Drogen“ ein erfolgreiches Dauer-Konjunkturprogramm für Kriminelle aufgelegt wurde, werden ihnen nun mit der VDS auch noch Möglichkeiten geboten, sich zu professionalisieren. Wer sich einmal vor Augen führen möchte, wie das genau aussieht, dem sei dringend empfohlen, die US-amerikanische Serie „The Wire“ anzugucken. In dieser überragenden Produktion wird höchst anschaulich und sehr realistisch dargestellt, welche Formen der Verbrechensbekämpfung scheitern und welche funktionieren könnten, wenn man die Bereitschaft zum Umdenken aufbringen würde.

Ursachen bekämpfen, nicht Symptome

Die ersten beiden Staffeln von „The Wire“ widmen sich den Versuchen einer Polizeieinheit, Kriminalität durch Überwachung in den Griff zu bekommen. In beiden Staffeln können die Ermittler und Fahnder am Ende so gut wie keine Erfolge vorweisen. Die dritte und vierte Staffel widmen sich hingegen alternativen Lösungsansätzen. In der dritten Staffel versucht ein Polizeioffizier eigenmächtig, den Drogenhandel zu legalisieren. Und in der vierten Staffel verstärkt die Polizei ihr Engagement im Bereich der Schulen, um die jungen Menschen vor dem Abrutschen in die Kriminalität zu bewahren. Beide vielversprechenden Versuche scheitern. Anders als die Überwachung scheitern sie aber nicht daran, dass die Methode falsch ist. Sie scheitern vielmehr an dem Widerstand, der sich von Seiten der Politik und der Bürokratie dagegen regt.

Die VDS wird die Verbrechensbekämpfung nicht verbessern. Sie wird nur dazu beitragen, dass Kriminelle ihre Fähigkeiten ausbauen, der Hand des Gesetzes zu entkommen. Wirksame Kriminalitätsbekämpfung muss bei den Ursachen anfangen statt an den Symptomen herumzufummeln. Dorthin zu kommen, ist freilich ein weiter Weg. Denn sowenig der Metzger sich zum Vorkämpfer des Vegetarismus machen wird, so wenig werden Innenpolitiker für Lösungen plädieren, die das Budget oder die Kompetenzen der Sicherheitsbehörden beschränken würden. Umso stärker muss der Druck aus der Bevölkerung kommen. Nicht nur, weil unsere Privatsphäre in Gefahr ist. Sondern auch, weil mit der VDS die Gefahren von Kriminalität und Terrorismus unter Umständen nur noch größer werden.