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In den beiden bevölkerungsreichsten Städten der Schweiz und Deutschlands wurde am vergangenen Sonntag gewählt: In Zürich wurden Kantonsrat und -parlament neu gewählt, in Berlin fand die Wiederholungswahl des Abgeordnetenhauses und der Bezirksvertretungen statt. Da bietet es sich an, den Blick auf das politische System unserer Nachbarn zu richten und die Frage zu stellen, was wir von der Schweiz womöglich noch lernen könnten.
Die deutsche Parlamentskultur ist davon bestimmt, dass Koalitionsregierungen von Parteien gebildet wird. Das führt tendenziell zur Bildung von konfrontativen Lagern zwischen Regierung und Opposition, und damit zu parteipolitischen Gerangeln.
Diese machtpolitischen Manöver beschneiden jedoch das Gewicht der Parlamentarier: Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass die Abgeordneten in ihren Entscheidungen oftmals gar nicht so frei sind von dem Einfluss der Regierung. Der De-facto-Fraktionszwang und eine geringe Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen führen dazu, dass die Koalitionsparteien ihre Abgeordneten im Griff haben. Für die Exekutive ist das bequem, denn sie muss nicht mit Widerstand aus den eigenen Reihen rechnen, wenn es darum geht, Mehrheiten zu organisieren.
Im politischen Wettbewerb führt dies dazu, dass die Exekutive der Legislative mehr oder weniger direkt vorgeben, was zu tun ist, damit das eigene Team gewinnt. Die Relevanz dieser Strategie wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass der Bundeskanzler oftmals auch das Amt des Parteivorsitzenden innehat. In der Bundesrepublik hat das Tradition: Adenauer, Kiesinger, Brandt und Kohl waren ihre gesamte Kanzlerschaft über auch Parteivorsitzende, Schröder die ersten sechs und Merkel die ersten 13 Jahre. Und viele Parteivorsitzende bewarben sich um die Kanzlerschaft.
Dadurch wird die Arbeit der Exekutive unvermeidlich politisiert. Bei einigen Abstimmungen wissen die Abgeordneten sehr genau, dass es weniger um das Thema als vielmehr um das Fortbestehen der Regierung geht.
So kam es zum Beispiel bei der Abstimmung über das dritte Hilfspaket für Griechenland während der Eurokrise 2011, welche etliche Abgeordnete der schwarz-gelben Koalition nicht mittragen wollten, zum Eklat: Abweichlern wurde damals angedroht, dass sie nicht im Haushalts- oder Europaausschuss bleiben könnten. Sie wurden öffentlich von Fraktionsvorsitzenden desavouiert und moralisch ins Zwielicht gerückt.
Ähnlich verhielt es sich 2001 in der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder bei der Abstimmung über die umstrittene Bundeswehrbeteiligung am Antiterror-Kampf in Afghanistan. Schröder wurde seitens der Opposition damals ein „Koalitionsmachtspiel“ und „Nötigung des Parlaments“ vorgeworfen.
Dieses parteipolitischen Taktieren beschädigt jedoch die Kontroll-Funktion des Parlaments. Wenn das Regierungslager den zugehörigen Abgeordneten vorgibt, wie sie abzustimmen haben, damit eine Koalition nicht scheitert, wird die Legislative Opfer der Machtspielchen der Exekutive. Abweichende Meinungen haben es schwer. Für potenzielle Abweichler bedeutet Widerstand dann oftmals Druck und Ausgrenzung aus den eigenen Reihen.
Das Parlament büßt damit an politischem Gewicht ein, da es de facto zum Fraktionszwang für die Abgeordneten kommt.
Eigentlich garantiert das Grundgesetz den Bundestagsabgeordneten ausdrücklich ein „freies Mandat“ (Artikel 38). Die Abgeordneten sind damit nur ihrem Gewissen verpflichtet und nicht an Weisungen gebunden, weder von außerhalb noch von innerhalb des Parlaments. Das scheint man in der politischen Arena gerne zu vergessen. Lediglich heikle ethische Fragen werden zur Gewissensfrage erklärt: der Fraktionszwang ist dann aufgehoben und die Abstimmung dazu freigegeben. Das spiegelt wider, dass fraktionskonformes Abstimmen zum politischen Alltag in Berlin gehört – und impliziert, dass die anderen Abstimmungen dann zumindest weniger frei sind. Das führt den Parlamentarismus ad absurdum. Die parlamentarische Demokratie ist das politische System der Freiheit. Wenn die Mandatsträger der Kontrolle der Regierung nicht effektiv nachkommen können, drängt sich noch mehr die Frage auf, wozu wir überhaupt eines der größten Parlamente der Welt unterhalten. Würden es da nicht eine Handvoll Vertreter pro Fraktion tun?
Der Blick zu unseren Schweizer Nachbarn lohnt sich: auf deren Exekutive und Legislative, Bundesrat und Bundesversammlung.
Die Bundesversammlung ist das Parlament der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Es besteht aus zwei Kammern: dem Nationalrat und dem Ständerat. Beide Kammern haben die gleichen Befugnisse, sie haben aber unterschiedliche Zusammensetzungen und Verfahren. Der Nationalrat wird direkt vom Volk gewählt und hat 200 Mitglieder, während der Ständerat aus 46 Mitgliedern besteht, die von den Kantonen gewählt werden. Die Aufgaben der Bundesversammlung sind die Vertretung des Volkes, die Gesetzgebung, die Genehmigung des Bundeshaushalts sowie die Kontrolle und Wahl des Bundesrates.
Der Bundesrat bildet die Exekutive und setzt sich zusammen aus den im Parlament vertretenen großen Parteien. Er besteht aus sieben Mitgliedern, führt die Geschäfte der Regierung und setzt die vom Parlament beschlossenen Gesetze um. Die großen Parteien haben nach Proporz einen oder zwei Sitze für den Bundesrat zu vergeben. Somit bleibt gewährleistet, dass alle (größeren) Parteien in der Regierung partizipieren.
Jedes Mitglied des Bundesrates ist zudem für ein bestimmtes Regierungsressort verantwortlich, und die Regierungsgeschäfte werden kollektiv geführt. Die Bundesräte können deswegen nicht nur gegeneinander arbeiten, sondern müssen sich stets um einen Konsens bemühen, der wiederum eine mehrheitsfähige Entscheidung im Parlament ermöglicht. Das erleichtert eine überparteiliche, konstruktivere Zusammenarbeit innerhalb der Regierung. Vor allem aber ist die Regierung in der Bringschuld gegenüber dem Parlament, denn sie muss aktiv mit ihren Vorschlägen auf das Parlament zugehen und die Parlamentarier von der jeweiligen Maßnahme überzeugen.
Die Parlamentarier bringen selbstverständlich gewisse ideologische Voreinstellungen mit, die sich beispielsweise aus ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit ergeben. Trotzdem können sie viele andere Interessen vertreten, die eben nicht davon abhängig sind, was ihnen ihr Partei- und Regierungschef vorgibt. Die Abgeordneten können ihr persönliches Gewicht in die politische Waagschale werfen und so effektiv regionale und ideologische Belange vertreten. Das kann dann dazu führen, dass sich unterschiedliche Meinungen innerhalb einer Partei wiederfinden – und im Parlament auch zum Ausdruck kommen können. Genau diese politische Kultur sichert dem Parlament seine eigentliche Kontrolle.
In Deutschland verkommt das Parlament mit der bestehenden Kultur wahlweise zu einer Zustimmungs- oder Schimpfvereinigung. Eigentlich sollte die Regierung mit Inhalten, Vorschlägen und Kompromissen an das Parlament herantreten, um Mehrheiten zu gewinnen. Wenn die Exekutive allerdings bereits im Vorfeld mit einer mehrheitlichen Zustimmung der Abgeordneten rechnen kann, verkümmert die politische Debatte: Gesetze können im Hauruck-Verfahren durchgezogen werden. Dabei bleibt kein Raum für konstruktive Zusammenarbeit und Beratungen wichtiger Fragen zwischen Legislative und Exekutive, also die parlamentarische Kontrolle. Damit bleibt den Parlamentariern der Regierungsfraktionen nur, immer brav die Hand zu heben, während die Opposition pauschal alles von der Regierung vorgeschlagene ablehnen wird.
Für den politischen Betrieb und auch für das Vertrauen der Bürger in die Politik ist das langfristig beschädigend. Das Schweizer Modell ist freilich nicht eins zu eins auf Deutschland übertragbar. Trotzdem bleibt die Frage, was getan werden kann, um die politische Kultur wieder in Richtung eines ausgeglicheneren Machtverhältnisses zwischen Exekutive und Legislative zu bewegen. Unserer Exekutive würde weniger Selbstherrlichkeit gut anstehen. Anstatt Mehrheiten über den Fraktionszwang zu erzwingen, sollten eine konstruktive Zusammenarbeit und Kompromissbereitschaft im Fokus stehen, um mit Inhalten Mehrheiten im Parlament zu überzeugen. Gleichzeitig gehen immer wieder einzelne Abgeordnete mit gutem Beispiel voran und leben vor, wie man sich den Koalitionsmachtspielen widersetzen kann. Einzig die Abgeordneten haben die Macht, die Regierung zu kontrollieren und in die Schranken zu weisen – dazu darf das Parlament ruhig mit mehr Selbstbewusstsein stehen.