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Verletzte Polizisten, brennende Autos und bundesweite Aufmerksamkeit. Was die Hausbesetzer in der Rigaer Straße in Berlin und ihre Mitkämpfer veranstalten, kann es eigentlich nur in einem marktwirtschaftlichen System geben. Überall sonst würde gnadenlos niedergeknüppelt.

Perfide Selbstinszenierung als „Widerstand“

Im Internet feiern sich die Hausbesetzer der Rigaer Straße 94 als „Teil des radikalen Widerstandes gegen Verdrängung und Vertreibung“. Sie sprechen von „Belagerung“ und „polizeilicher Besetzung“ (privat scheint das in Ordnung zu gehen) und drohen, „Berlin ins Chaos zu stürzen“. Jeder, der halbwegs bei Sinnen ist, findet dieses groteske Schauspiel abstoßend. Die hass- und wuterfüllte Rhetorik und die sich daraus ergebende Gewalt unterscheidet sich nur in den Parolen und Feindbildern vom gewaltbereiten Rechtsradikalismus – phänotypisch sind sie sich zum Verwechseln ähnlich.

Widerstand – das ist ein schwerwiegendes Wort, gerade in dieser Stadt. Wenn der Berliner sich eine Vorstellung davon machen möchte, was Widerstand bedeutet, kann er in die Gedenkstätte Plötzensee fahren, wo die Nationalsozialisten im Akkord Widerstandskämpfer an Fleischerhaken gehängt haben (unter anderem auch einen früheren Bewohner des besetzten Hauses: Ernst Pahnke). Oder man kann nach Hohenschönhausen fahren, wo einem ehemalige Insassen des Stasi-Gefängnisses aus erster Hand die Zelle zeigen können, in der sie Jahrelang eingesperrt waren, weil sie einen Witz über Walter Ulbricht weitererzählt hatten. Widerstand – davon können die Menschen in Russland berichten oder in den sozialistischen Vorzeigestaaten Kuba und Venezuela.

In Venezuela wäre das Haus längst geräumt

Mit Widerstand hat das Treiben der Linksextremen rund um die Rigaer Straße nichts zu tun. Widerstand kann gegen ein Unrechtsregime nötig, vielleicht sogar geboten sein. Die Zeiten, in denen die Rigaer Straße auf dem Gebiet einer Diktatur liegt, sind allerdings seit 26 Jahren zum Glück vorüber. Das sollte auch den Hausbesetzern klar sein: Gerade erst haben sie vom Landgericht Berlin Recht bekommen mit ihrer Beschwerde gegen den letzten Versuch einer Zwangsräumung. Ein solcher Vorgang wäre vollkommen undenkbar in einem Unrechtsstaat. Seit Ende der 90er Jahre widersetzen sich Bewohner des Hauses einer Räumung. Welche venezolanische Polizei, welche Stasi-Einheit oder gar welcher kubanische oder nordkoreanische Funktionär hätte wohl einem solchen Treiben über anderthalb Jahrzehnte so geduldig zugesehen?

Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist die mit Abstand langmütigste und toleranteste Staatsform, die man sich denken kann. In keinem der von vielen dieser Linksradikalen so hochgejubelten sozialistischen Staat der Welt wäre ein solcher „Widerstand“ so lange geduldet worden – heute nicht und früher erst recht nicht. Dass die Besetzer und ihre Mitstreiter weder brutal niedergeknüppelt noch wochenlang ohne Prozess eingesperrt werden, liegt daran, dass wir in unserer Gesellschaft eine Kultur friedlicher Konfliktlösungen etabliert haben – mit Demokratie, Rechtsstaat und Offener Gesellschaft. Ein ganz wichtiges Fundament dieser Kultur ist jene Marktwirtschaft, die der Hauptfeind der Hausbesetzer ist.

Marktwirtschaft, Demokratie und Rechtsstaat bedingen sich

Die Marktwirtschaft als System hat sich erst im Laufe der letzten vier- bis fünfhundert Jahre etabliert. Die Vorstellung, dass man in größerer Dimension Handel treiben könne, ohne von politischen Autoritäten dabei gesteuert oder zumindest kontrolliert zu werden, hatte es natürlich schwer, sich gegenüber diesen Autoritäten durchzusetzen. Durchgesetzt hat sie sich aber ganz offensichtlich und zum Glück dann doch. Fast immer mit Kompromissen und Zugeständnissen – doch selbst die Autokraten Chinas haben inzwischen eingesehen, dass dieses System freiwilliger Kooperation einer Planwirtschaft offenbar überlegen ist. Mit der Einführung der Marktwirtschaft geht aber mehr einher als nur ökonomische Effizienz.

Grundsätzlich sind gewalttätige Konflikte für das Funktionieren des Marktes immer schädlich – Friedfertigkeit und gewaltfreie Konfliktlösung erhöhen signifikant die Profitmöglichkeiten aller Marktteilnehmer. Schon aus praktischen Gründen ist ein demokratisches System mit der Marktwirtschaft kompatibler als mit einer Planwirtschaft, der Gewalt oft als einziges Mittel bleibt, um den Plan durchzuführen. Auch der Rechtsstaat und die Marktwirtschaft bedingen einander: Marktprozesse profitieren in hohem Maße von Rechtssicherheit. Das Interesse, das die Marktakteure an dieser Rechtssicherheit haben, ist eine Lebensgarantie für den Rechtsstaat.

Die Zivilisation des Vertrauens

Und schließlich kann die Marktwirtschaft auch zu Friedfertigkeit und Toleranz erziehen und ein Motor der Offenen Gesellschaft sein. Die Marktwirtschaft ermöglicht es uns, aus der kleinen Gruppe unserer unmittelbaren familiären Umgebung herauszukommen. Nicht mehr die gemeinsame Arbeit der kleinen Gruppe garantiert unser Überleben, sondern der Austausch mit zunächst fremden Personen. Diese Tauschprozesse aber erzeugen ein ganz neues Vertrauen: aus dem Fremden, der meine Ressourcen bedroht, wird ein Partner. Diese Zivilisation des Vertrauens steht im krassen Gegensatz zu dem Misstrauen, das zwischen den Horden vor vielen Jahrtausenden herrschte; das die Epoche des Feudalismus und der Leibeigenschaft prägte; das im Absolutismus und Nationalismus der Neuzeit präsent war; und das bis in die jüngste Vergangenheit die Länder unter kommunistischer Herrschaft heimsuchte.

Die Verachtung, die die Hausbesetzer diesem „System“ entgegenbringen, ist beschämend. Sie verdanken es einzig diesem System, dass sie Gerichte anrufen können, Brandstifter einen ordentlichen Prozess erhalten und eine freie Presse ihnen eine Bühne bietet, die eigentlich die Freiwillige Feuerwehr oder ehrenamtliche Flüchtlingshelfer verdient hätten. Was für eine Ironie: All das verdanken sie nicht zuletzt der Marktwirtschaft.

Photo: mcpdigital from pixabay (CC 0)

Im Jahr 2008 machte ein Buch Furore, das einen “echten dritten Weg” versprach zwischen Regulierungswut und Laissez-faire. Der Titel: “Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness”. Diese sehr umfassende Verheißung stammt von dem Harvard-Juristen Cass Sunstein und dem in Chicago lehrenden Ökonomen Richard Thaler. Nudging sollte die Technik sein, mit der das moderne Staatswesen des 21. Jahrhunderts optimiert werden kann.

Wer möchte nicht seine Gesundheit, seinen Wohlstand und sein Glücksempfinden verbessern?

Grundlage ihrer Nudge-Theorie sind im Grunde genommen zwei Banalitäten: Erstens, wir tun nicht immer das, was wir gerne tun würden: vom regelmäßigen Schwimmen bis zu mehr Sorgfalt bei unserer individuellen Finanzplanung, vom Energiesparen bis zur gesunden Ernährung. Kurz: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Zweitens, es gibt aber auch ganz gute Möglichkeiten, dieses Problem zu umgehen, nämlich, indem wir uns selbst überlisten: zum Beispiel, indem man sich morgens mit einer Freundin zum Joggen verabredet oder einfach, indem man Neujahrsvorsätze fasst. Der Trick besteht darin, dass wir die Umstände für uns so verändern, dass wir eine bestimmte Entscheidung eher treffen.

Sunstein und Thaler empfehlen nun der Politik, sich diese Phänomene menschlichen Verhaltens zunutze zu machen. Indem man einige kleine Schrauben anders setzt oder den Rahmen leicht verschiebt – so ihr Argument –, kann man große Teile der Bevölkerung dazu bewegen, sich im Blick auf Bereiche wie Gesundheit, Umwelt und Vorsorge richtig zu verhalten. Die Ziele, die mit der Methode des Nudging erreicht werden sollen, sind im Verständnis von Sunstein, Thaler und ihren Mitstreitern solche, die ohnehin breiten gesellschaftlichen Zuspruch finden und Nutzen für die Gesamtheit stiften. Wer möchte nicht seine Gesundheit, seinen Wohlstand und sein Glücksempfinden verbessern? Ist es nicht besser, Krankheitskosten zu senken, die Umwelt zu schonen und jedem eine solide Alterssicherung zu ermöglichen?

Nudging als freiheitliche Alternative zur Verbotskultur?

Diese Ziele sollen dank Nudging nun nicht mehr mit Gesetzen und Verboten erreicht werden, sondern auf Samtpfoten. Darum bezeichnen die Erfinder des Nudging ihr Konzept auch als “libertären Paternalismus”, weil es zwar versucht, Menschen zum richtigen Verhalten zu bringen, aber niemals explizit eine abweichende Entscheidung verbietet. An die Stelle des Veggie Days könnte dann zum Beispiel eine bundesweite Kantinen-Initiative treten: Brokkoli und Fenchel sind dann so zu platzieren, dass wir lieber dort zugreifen als bei Currywurst oder Tortellini alla Panna. Nudging präsentiert sich mithin als freiheitliche Alternative zur Verbotskultur.

Es gibt auf vielen Ebenen sehr gute Einwände gegen diese Art, vorgeblich gesellschaftlich gewünschte oder möglicherweise nützlichere Ergebnisse zu produzieren. Dazu gehören Fragen des Demokratie- und Rechtsstaatsverständnisses, Fragen der Transparenz und Kontrollierbarkeit sowie insbesondere auch die Frage nach menschlicher Autonomie und dem grundlegenden Verständnis von Eigenverantwortung. An dieser Stelle soll vor allem auf ein Problem eingegangen werden: Worin liegt die Gefahr dieses scheinbar harmlosen Mittels? Die Antwort lässt sich knapp zusammenfassen: Sie liegt in einem einzigen Buchstaben.

Ein Mittel, das Frau Aigner ebenso zur Verfügung stehen kann wie Herrn Ramelow

In der Theorie hört sich Nudging zunächst einmal harmlos an, sanft und vernünftig. Es ist ein gewaltfreies Modell, das scheinbar gut geeignet ist für eine Welt, in der Individualität einen immer größeren Raum einnimmt. Zwischen diesen theoretischen Überlegungen und der praktischen Umsetzung ist allerdings ein Zwischenschritt erforderlich, der sehr gefährlich sein kann. Denn es muss Menschen geben, die bestimmen, auf welchen Gebieten Nudging eingesetzt wird; die entscheiden, in welche Richtung “genudged” werden soll; die feststellen können, welche Ergebnisse richtig, also erwünscht sind. Das sind Politiker und Bürokraten. Nun ist es freilich ohnehin schon in vielen Fällen kaum möglich, eine objektiv richtige Entscheidung zu treffen. Die einen argumentieren etwa, man solle komplett auf Fleisch oder gar alle tierischen Produkte verzichten. Die anderen raten davon ab, Laktose zu konsumieren. Wieder andere schwören darauf, keinerlei Kohlenhydrate zu sich zu nehmen. Und hier geht es nur um einige diätetische Differenzen …

Über die unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze hinaus birgt aber die Notwendigkeit zu entscheiden, was richtig sein soll, noch eine wesentlich größere Gefahr: Wir wissen, dass Politiker und Bürokraten keine selbstlosen, allgütigen und allwissenden Gestalten sind. Insbesondere Politiker haben in der Regel eine Agenda. Wer aber für eine bestimmte politische Richtung einsteht, wird auch eine hypothetische Objektivität gegebenenfalls sehr rasch aufgeben zugunsten einer Perspektive, die mit seinen eigenen Überzeugungen und Ansichten konform geht. Um es etwas schematisch zu illustrieren: Während ein Politiker der Grünen sich des Instruments vielleicht bedienen wird, um den Fleischkonsum zu reduzieren, könnte es einer AfD-Politikerin dabei helfen, ein traditionelles Familienbild stark zu machen. Es ist ein Mittel, das Frau Aigner ebenso zur Verfügung stehen kann wie Herrn Ramelow.

Hier kommt der Buchstabe ins Spiel. In der Theorie geht Nudging davon aus: Wir tun nicht immer das, was wir eigentlich tun wollen. Der Politiker denkt: Wir tun nicht immer das, was wir eigentlich tun sollen. Während Nudging in der Theorie dazu dient, uns dabei zu helfen, unsere tatsächlichen Präferenzen besser zu verfolgen, wird es in der politischen Praxis schnell zu einem Mittel, die Präferenzen anderer besser umzusetzen. Die Technik wird mit einer Agenda ausgestattet.

Nudging kann den Geist unserer staatlichen Ordnung bedrohen

Am Ende läuft vieles auf die grundsätzliche Frage hinaus: Wer entscheidet eigentlich, was das Richtige ist? Gewiss, es gibt immer gesellschaftliche Stimmungen, die eine relativ breite Zustimmung finden. Die Stimmung in den letzten zwei, drei Jahrzehnten etwa lässt sich unter Stichworten wie Nachhaltigkeit, Ökologie und Fitness zusammenfassen. Doch auch wenn sich ein großer Teil der Bevölkerung diese Ziele zu eigen macht, ergibt sich daraus noch nicht, dass es legitim wäre, die Ziele für alle zu setzen. Zwar argumentieren die Freunde des Nudging, dass genau das schließlich nicht geschehe. Man wolle ja nur etwas vorschlagen und ein wenig attraktiver machen. Klar ist jedoch: Eigentlich sollten sich alle Menschen ihrem Vorschlag anschließen. Insofern werden immer noch Ziele gesetzt. Es wird immer noch auf allen möglichen Gebieten unseres Lebens bestimmt, was gut und was schlecht ist. Nur die Mittel zur Durchsetzung haben sich geändert.

Nudging kann am Ende, wie auch andere Formen des Paternalismus, den Geist unserer staatlichen Ordnung bedrohen. Im Grundgesetz findet sich unmittelbar nach der Bestimmung zum Schutz der Menschenwürde die Formulierung: “Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.” Diese Bestimmung begründet unser Land als freiheitlichen Staat. Wenn politische Akteure der Ansicht sind, dass bestimmte Formen der freien Entfaltung der Persönlichkeit zu korrigieren sind, und wenn sie nach Mitteln suchen, diese Entfaltung sanft in die richtige Richtung zu lenken, dann stellen sie prinzipiell jene Autonomie infrage, die uns zu mündigen Bürgern macht.

Vor gut sechseinhalb Jahrzehnten rief Ludwig Erhard den Delegierten des 1. CDU-Bundesparteitags in Erinnerung, “dass die freie Konsumwahl zu den in den Sternen geschriebenen Grundrechten eines Volkes und jedes einzelnen Menschen gehört und dass es demgegenüber ein Verbrechen an der Würde und an der Seele des Menschen bedeutet, ihn durch staatliche Willkür zum Normalverbraucher erniedrigen zu wollen”.

Erstmals erschienen auf dem Blog der Ludwig-Erhard-Stiftung.

Photo: British High Commission from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Es hat etwas von Sonnenkönig, wenn EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sich im Vorfeld des britischen Referendums über deren Verbleib in der EU äußerte. „Wer geht, geht“. Die Befürworter dürften nicht darauf spekulieren, „nach einem Brexit auf Zeit zu spielen und eine möglichst gute Vereinbarung mit den EU-Partnern herauszuhandeln.“ Ungewollt gab Martin Schulz den Brexit-Befürwortern noch Argumente an die Hand. War doch der Souveränitätsverlust Großbritanniens eines der Hauptargumente der EU-Gegner. Jetzt ist es passiert. Die Briten haben mehrheitlich für den Brexit gestimmt.

Und nun fällt Martin Schulz seine Aussage vor die eigenen Füße. So redet eigentlich keiner, der den Geist eines friedlichen Europas aufgesogen hat. So redet vielleicht ein absolutistischer Herrscher in der Zeit des Merkantilismus, wo es darum ging, dem anderen etwas wegzunehmen und möglichst viel selbst zu behalten. Es zeigt die Kleingeistigkeit der Brüsseler Nomenklatura. Sie hat insgesamt den Wink Großbritanniens nie verstanden. Eigentlich ist der Brexit eine Chance für die Europäische Union. Zwingt sie diese doch zum Nachdenken über den eingeschlagenen Weg. Es kann eigentlich von niemandem mehr bezweifelt werden, dass sich die EU in einer schweren, schwelenden Krise befindet. Doch Reformen sind Mangelware.

Die Lehre aus dem Verfassungsentwurf 2004, der an Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert ist, war, dass die Vertiefung der EU nicht mehr mit umfangreichen Vertragsänderungen erfolgen sollte, sondern lediglich im Rahmen der Interpretation des Lissabonner Vertrags. Dieser trat 2009 in Kraft und ist seitdem Grundlage jeglicher Erweiterungsmaßnahmen. Seitdem gab es keine substanziellen Vertragsänderungen mehr. Alles wurde seitdem so ausgelegt, als gäbe es der Lissabonner Vertrag her. Die Griechenland-Hilfen und die Bankenunion sind nur zwei Beispiel, wo die EU-Institutionen die EU-Verträge soweit bogen, dass auch das Gegenteil dessen, was in den Verträgen steht, beschlossen werden konnte. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass aus bislang guten Nachbarn Schuldner und Gläubiger gemacht wurden, die so eng mit einander verbunden sind, dass der nächste Zentralisierungsschritt darüber erzwungen werden kann. Soweit die Hoffnung und die Strategie der Eurokraten. Doch diese Vorgehensweise wird scheitern. Sie wird deshalb scheitern, weil sie keine Akzeptanz bei den Bürgern hat. Sie fühlen sich mehr und mehr hintergangen.

Die Krise der EU ist daher in erster Linie eine Akzeptanzkrise. Die Bürger in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union werden nicht mitgenommen. Die Prozesse werden nicht ausreichend rückgekoppelt und das vereinbarte Recht hat nicht einmal die Halbwertzeit von übermorgen. Die ursprüngliche Stärke der Union, die Freizügigkeit und der Binnenmarkt, werden durch neue Regulierungsbürokratien auf europäischer Ebene wieder in Frage gestellt. Diese neuen Bürokratien dienen zunehmend nicht der Marktöffnung, sondern sind Markteintrittsbarrieren für kleinere und mittlere Unternehmen. Sie fördern eine staatliche gelenkte Oligopole. Denn nur große Unternehmen können vielfach noch den regulatorischen Aufwand für den Binnenmarkt leisten.

Und die EU tritt zunehmend als Hegemon gegenüber den kleinen Staaten innerhalb und außerhalb der Europäischen Union auf. Schon heute haben kleine Staaten nur einen sehr geringen Einfluss auf die Ratspolitik. Sie werden am goldenen Zügel geführt und gelenkt. Nicht ein „Europa des Rechts“ sondern „Zuckerbrot und Peitsche“ sind die Ordnungsprinzipien der Europäischen Union. Länder außerhalb der EU, wie die Schweiz, werden unter Druck gesetzt, sämtliche Forderungen der EU bedingungslos zu übernehmen, ansonsten droht ihnen der Verlust des Zugangs zum EU-Binnenmarkt. Der wohlstandsfördernde Geist offener Grenzen und der friedensstiftende Wert, den der freie Warenverkehr stiftet, tritt gegenüber machtpolitischen Überlegungen zunehmend in den Hintergrund. Es geht nicht mehr darum, dass Unternehmen und Kunden sich auch grenzüberschreitend austauschen, wie sie es für gut und richtig empfinden, sondern eine Übermacht in Brüssel hebt oder senkt den Daumen.

Gleichzeitig wird hinter dieser Entwicklung auch der Hegemonialanspruch Deutschlands gesehen. Unterschwellig ist dies der eigentliche Spaltpilz Europas. Deutschlands ökonomische Stärke ist zwar anerkannt, wirkt aber auf viele Mitgliedsstaaten erdrückend. Der Euro wirkt für viele Staaten wie ein Korsett, das ihnen die Luft zum Atmen nimmt. Eigentlich müßte der Euro atmen, wenn er überleben will, ansonsten geht ihm über kurz oder lang die Luft aus. Es muss also geordnete Austrittsmöglichkeiten aus dem Euro für diejenigen geben, die es nicht schaffen oder nicht schaffen wollen.

Vor diesem Hintergrund ist der Brexit ein Geschenk. Er ermöglicht den Handelnden innezuhalten. Grundsätzlich die Diskussion über die Frage zu führen: Welche Europäische Union wollen wir eigentlich?

Der Verfassungsentwurf 2004 ist mit Recht gescheitert. Er war zu kompliziert und unverständlich. Der Beschluss Großbritanniens, Verhandlungen über den Ausstieg aus der EU zu beginnen, sollte die EU insgesamt veranlassen jetzt innezuhalten. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, über die Europäischen Verträge neu nachzudenken. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt einen Konvent für Europa einzuberufen, der die Verträge auf eine neue demokratische und rechtsstaatliche Basis stellt. Und vielleicht auch mit dem Dogma Schluss macht, immer von einer „ever closer union“ zu sprechen. Oftmals ist weniger mehr.

Vielleicht sollten sich die Staats- und Regierungschefs in der EU an diesem Tag an Margret Thatcher orientieren. Sie hat zur Rolle Großbritannien in Europa einmal gesagt: „Großbritannien träumt nicht von einer behaglichen, isolierten Existenz am Rande der Europäischen Gemeinschaft. Unsere Bestimmung liegt in Europa, als Teil der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft ist kein Selbstzweck. Genauso wenig ist sie eine Einrichtung, die beständig verändert werden darf nach dem Diktat eines abstrakten intellektuellen Konzepts. Sie darf sich auch nicht verknöchern durch unaufhörliche Regulierungen. Die Europäische Gemeinschaft ist ein zweckmäßiges Mittel, mit dessen Hilfe Europa Wohlstand und Sicherheit seiner Bewohner auch in Zukunft garantieren kann.“

Photo: Thomas from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Wenn heute das Bundesverfassungsgericht abschließend über die Klage zum Anleihenkaufprogramm OMT der Europäischen Zentralbank beschließt, dann tut sie dies in bewegten Zeiten. Denn zahlreiche Institutionen, die über viele Jahrzehnte hohes und höchstes Ansehen genossen, kämpfen inzwischen um ihre Glaubwürdigkeit. Das ist in einem demokratischen Rechtsstaat bedenklich. Denn der Rechtsstaat setzt Vertrauen voraus, damit sich Bürger ebenfalls genötigt sehen, sich an Recht und Gesetz zu halten. Das sichert das friedliche Zusammenleben und schützt den Einzelnen vor Willkür. Das Schleifen von Regeln ist vielleicht kurzfristig opportun, um ein Problem vom Tisch zu wischen, es zerstört aber am Ende alles.

Deshalb ist es wichtig, dass das Verfassungsgericht seine Leitlinien, welche es beim Vorlagebeschluss für den Europäischen Gerichtshof im März 2014 aufgestellt hat, jetzt auch folgt. Im Jahr 2012 hat die EZB mit dem so genannten OMT-Beschluss angekündigt, unter bestimmten Voraussetzungen unbegrenzt Staatsanleihen aufkaufen zu wollen. Das Verfassungsgericht deutete in seinem Beschluss eine Überschreitung der Kompetenzen der EZB an, sollte die EZB die Ankäufe nicht auf ein Volumen begrenzen. Der EuGH sah diese Bedenken nicht, sondern wischte kürzlich diese beiseite. Sein Urteil war bereits eine schallende Ohrfeige für das Bundesverfassungsgericht. Doch jetzt ist das Karlsruher Gericht wieder am Zuge und müßte jetzt eigentlich der Bundesbank einen möglichen Vollzug untersagen.

Die andere Institution, die Vertrauen genießt, ist die Europäische Zentralbank. Doch hier muss man betonen, dass sie Vertrauen genoß. Inzwischen hat sie dieses Vertrauen, das durch die Bundesbank über viele Jahrzehnte aufgebaut wurde und seit der Euro-Einführung auf die EZB übertragen wurden, verspielt. Die EZB unter Mario Draghi hat inzwischen ihr höchstes Gut verspielt. Denn außer Vertrauen hat unsere Währung und ihre Zentralbank kein weiteres Asset. Die Währung ist an keinen realen Wert mehr gekoppelt, sondern sie basiert lediglich auf dem Recht und seiner Verläßlichkeit. Lange Zeit wurde unterstellt, dass die Beugung des Rechts notwendig sei, um Schlimmeres zu verhindern. Doch die Wirkung dieser Rechtsbrüche sehen wir heute.

Die EZB ist dabei, immer mehr und immer intensiver zu intervenieren. Jetzt kauft sie erstmalig in großem Stil auch Unternehmensanleihen auf, um die Finanzierungskosten von Unternehmen zu reduzieren. Sie hofft auf schnellere und bessere Finanzierungsmöglichkeiten, damit Unternehmen investieren. Doch tatsächlich führt dies zu einer Zweiteilung des Anleihenmarktes für Unternehmen. Große Unternehmen, die ein gutes Rating haben und Anleihen begeben können, profitieren. Kleine Unternehmen, die nur einen schlechten Zugang zum Anleihenmarkt haben, kommen aus zwei Richtungen unter Druck.

Erstens müssen sie sich über Banken refinanzieren, die aufgrund der Altlasten in ihren Bilanzen zurückhaltend sind, und daher höhere Zinsen verlangen oder gar keine Kredite an kleine und mittlere Unternehmen vergeben. Und zweitens bekommen die großen Unternehmen schneller und preiswerter frisches Geld und können damit die kleinen und mittleren Unternehmen mit dem Geld der EZB übernehmen. Staatlich gelenkte Oligopole und Monopole entstehen so. Gerade die oft kleinteilige deutsche Industrielandschaft ist davon besonders betroffen. Zu Beginn der 2000er Jahre sprach der damalige Arbeitsminister der SPD Frank Müntefering von Heuschrecken, die über die deutschen Unternehmen ziehen, sie aussaugen und dann wieder verschwinden. Diese Vergleiche wurden mit Recht kritisiert, sollte man Unternehmen doch nicht mit Tieren vergleichen, dennoch waren die 2000er Jahre nur ein zartes Lüftlein, wenn die Politik Draghis erstmal seine Wirkung entfaltet.

Mit der marktwirtschaftliche Ordnung, die Ludwig Erhard und sein Vordenker Walten Eucken im Sinn hatte, hat dies nichts zu tun. Sie wollten Institution, die Vertrauen durch einen Ordnungsrahmen schaffen, der bestimmte Unternehmer nicht lenkt und bevorteilt, sondern in dem jeder seines Glückes Schmied ist. Diesem Ordnungsrahmen wieder Glaubwürdigkeit einzuhauchen, kann das Verfassungsgericht mit seinem Urteil leisten. Man sollte nie die Hoffnung aufgeben.

Erstmals veröffentlicht in der Fuldaer Zeitung am 18. Juni 2016.

Photo: Dave Kellam from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Prof. Dr. Thomas Mayer, Kuratoriumsvorsitzender von “Prometheus” und Gründungsdirektor des “Flossbach von Storch Research Institute”.

In seinem Klassiker „Der Wohlstand der Nationen“ verglich Adam Smith die Briten mit einer „Nation von Krämern und Ladenbesitzern“. Daran hatte später Napoleon seinen Spaß. Heute poliert David Cameron das alte Klischee neu auf. Er hofft, eine „Notbremse“ für Sozialleistungen für Immigranten aus den EU-Ländern, eine Ausnahme bei der „immer engeren Integration“, die Einschränkung der Brüsseler Bürokratie und ein Vetorecht der Mehrheit nationaler Parlamente gegen EU-Bestimmungen könnten ein Votum der Briten für den EU-Austritt noch abwenden. Von seinen Gegnern erntet er dafür nur Hohn und Spott. Dabei böten die britischen Ansprüche eine solide Grundlage für eine dringend notwendige Neuorientierung der Union. Statt um Kleingeld zu feilschen, hätte Cameron zum Kampf für eine Reform der EU aufrufen sollen. Hier ist mein Vorschlag:

„Der liberale Rechtsstaat ist eine der größten Errungenschaften unserer Geschichte. Während sich der europäische Kontinent im siebzehnten Jahrhundert auf den Weg in den Absolutismus begab, hielten wir die Herrschaft des Rechts hoch. Für Ludwig IV. galt: „Der Staat bin ich“. Dem hielt unser Parlament damals entgegen, dass es sein Hauptanliegen sei, „die Freiheit des Volkes vor der Willkür der Regierung zu schützen“. John Locke stellte fest, dass auch nicht der Gesetzgeber willkürlich handeln darf. Auch er ist „verpflichtet, nach öffentlich verkündeten, stehenden Gesetzen …für Gerechtigkeit zu sorgen“. Regeln und Gesetze schützen die Mitglieder der Gesellschaft und ihr Eigentum gegen die Willkürherrschaft der Regierung, selbst wenn sich diese auf eine parlamentarische Mehrheit stützen kann. Das britische Konzept des liberalen Rechtsstaats war die Grundlage, auf der die amerikanischen Föderalisten die Vereinigten Staaten von Amerika errichteten.

Auch die Europäische Union bekennt sich zur liberalen Rechtsstaatlichkeit. Aber sie ist mit den Jahren auf Abwege geraten. Die Übertragung wesentlicher hoheitlicher Rechte ohne effektive parlamentarische Kontrolle hat zur Herrschaft der Bürokratie geführt. Für die Bürokratie heiligt der Zweck die Mittel, auch wenn dadurch das Recht umgangen wird. Wohin das führt, konnten wir in der Währungsunion und im Schengenraum sehen. Zur Rettung des Euro wurden das vertraglich vereinbarte Verbot gegenseitiger finanzieller Haftung und das Verbot monetärer Finanzierung von Staatshaushalten durchlöchert. Im Schengenraum wurden die vertraglichen Vereinbarungen zur Sicherung der gemeinschaftlichen Außengrenzen und Zuwanderung missachtet. Wo war das Europäische Parlament als das Recht gebeugt wurde? Hat es das Volk vor der Willkür der Regierenden geschützt, indem es auf der Herrschaft des Rechts bestanden hätte?

Unsere Vorgänger haben die Gefahren des Euro und des Schengenraums bei Zeiten erkannt. Großbritannien ist weder bei der Währungs- noch der Grenzgemeinschaft Mitglied. Wir lassen uns auch nicht in eine Sozial- oder Fiskalgemeinschaft drängen, in der sich einzelne Staaten aus ihrer finanziellen Verantwortung schleichen können. Wir wollen keinen europäischen Wohlfahrtsstaat und keine „Bankenunion“, in der wir für die Fehlentscheidungen in anderen Staaten haften. Wir wollen, dass diejenigen, die entscheiden, dafür auch die Verantwortung tragen, und wir wollen, dass das Recht über der Herrschaft der Regierungen und der Bürokratie steht.

Aber wir können uns über geografische Gegebenheiten nicht hinwegsetzen. Wir sind ein Teil Europas, das auf uns angewiesen ist, so wie wir auf Europa angewiesen sind. Die Europäische Union ist eine große Errungenschaft der europäischen Völker. Sie hat einem über Jahrhunderte zutiefst zerstrittenen Europa Frieden gebracht und damit Großbritannien Sicherheit und Wohlstand in einem friedlichen Europa ermöglicht. Wir müssen am Gelingen dieser Union interessiert sein, denn ihr Scheitern wäre auch für uns eine Katastrophe. Würden wir jetzt austreten, wo die EU von innerem Streit zerrissen ist und vom Weg der liberalen Rechtsstaatlichkeit abzukommen droht, wären wir für ihr Scheitern mit verantwortlich.

Statt der EU den Rücken zu kehren müssen wir mit all unserer Kraft darauf drängen, dass sie zu ihren Grundprinzipien der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt. Wir wollen freien Handel, freien Kapitalverkehr und die Freizügigkeit der Personen innerhalb eines rechtlichen Rahmens, der Verantwortlichkeiten klar definiert. Wir haben nichts gegen die europäische Währung, aber sie ist kein goldenes Kalb, um das die EU-Mitgliedstaaten tanzen müssen. Wir stehen mit unserer Absicht zu Reformen der EU nicht allein. Wir haben Verbündete und werden mehr dazugewinnen. Wir werden in der EU für eine bessere Union kämpfen und den Kampf gewinnen.“