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Von Prof. Dr. Thomas Mayer, Kuratoriumsvorsitzender von “Prometheus” und Gründungsdirektor des “Flossbach von Storch Research Institute”. Dies ist ein exklusiver Auszug aus seinem Buch „Die neue Kunst, Geld anzulegen“, das am Montag im Finanzbuchverlag erschienen ist.

Wie hängt die Geldwirtschaft mit der Realwirtschaft zusammen? Zur Produktion von Konsumgütern sind Kapitalgüter notwendig. Sollen mehr Konsumgüter hergestellt werden, so braucht man dazu mehr oder bessere Kapitalgüter. Damit aber Kapitalgüter hergestellt werden können, muss man zunächst auf einen Teil der Konsumgüterproduktion verzichten. Man muss also sparen. Der ursprüngliche Zins setzt den Verzicht auf Konsumgüter in der Gegenwart in Beziehung zu der durch diesen Verzicht möglichen größeren Menge an Konsumgütern in der Zukunft. Dieser Zins muss positiv sein. Denn wäre er negativ, dann würde man ein gleiches Gut lieber morgen als heute haben wollen. Wäre er null, dann wäre es einem egal, ob man das Gut heute oder morgen erhalten würde. Beide Verhaltensweisen widersprechen aber dem Begriff des wirtschaftlichen Handelns, das darauf gerichtet ist, ein Ziel auf dem kürzesten Weg und zu den geringsten Kosten zu erreichen.

Bei der im ursprünglichen Zins gemessenen Zeitpräferenz geht man davon aus, dass der Konsument den Zeitpunkt wählen kann, zu dem er ein Gut konsumieren kann. Hat er diese Wahl und handelt er wirtschaftlich, so wird er aus den oben gegebenen Gründen immer lieber früher als später konsumieren. Nicht immer kann er aber über den Zeitpunkt des Konsums frei disponieren. Eine Weihnachtsgans möchte man eben zu Weihnachten auf dem Tisch sehen und nicht im Hochsommer. Ebenso möchte man manche Gütern während des Erwerbslebens konsumieren und andere während des Ruhestands. Verschiebt der Konsument den Konsum eines solchen zeitgebundenen Guts, bei dem er nicht über den Zeitpunkt des Konsums frei entscheiden kann, dann hat das nichts mit seiner Zeitpräferenz zu tun. Vielmehr handelt es sich um die Substitution zweier verschiedener Güter (ein Gänsebraten im Sommer ist eben nicht gleich einem Gänsebraten an Weihnachten).

Der ursprüngliche Zins kann nicht beobachtet werden. Niemand, auch nicht die Zentralbank, verfügt über die nötigen Informationen, um ihn zu bestimmen. Daher tappt die Zentralbank bei der Manipulation des Kreditzinses im Dunkeln. Hat sie Glück, entspricht der Kreditzins dem ursprünglichen Zins. Dann werden genauso viele Kredite vergeben, wie Ersparnisse vorhanden sind, um die Kapitalgüterproduktion zu finanzieren, welche die geplante Steigerung der Konsumgüterproduktion zulässt. Dies ist jedoch in etwa so wahrscheinlich, wie wenn ein Schütze mit verbundenen Augen ins Schwarze trifft. Setzt die Zentralbank den Kreditzins jedoch fälschlich unter den ursprünglichen Zins, dann werden mehr Kredite zur Kapitalgüterproduktion vergeben, als am Ende durch die Ersparnis gedeckt sind. Es kommt zunächst zum „Boom“ in der Kapitalgüterproduktion. Aber da nicht alle Kapitalgüter bis zu ihrer Fertigstellung durch entsprechende Ersparnisse finanziert werden können, kann ein Teil nicht vollendet werden. Dem Boom folgt daher der „Bust“. Im Bust entstehen die finanziellen Schieflagen, wie wir sie während der Finanzkrise von 2007–08 gesehen haben.

Die Vorstellung, dass Abweichungen des realen Kreditzinses vom ursprünglichen Zins zu Kredit- und Investitionszyklen führen können, stammt von dem schwedischen Ökonomen Knut Wicksell. Er nannte den ursprünglichen Zins den „natürlichen“ Zins, bei dem langfristig Gleichgewicht von realer Ersparnis und Investition herrschte. Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek entwickelten Wicksells Theorie weiter, indem sie darauf hinwiesen, dass in der Boomphase des Investitionszyklus über den Kreditmarkt Kapital in die Finanzierung ineffizienter Investitionen geleitet wird. Dadurch entstehen nicht nur Über-, sondern auch Fehlkapazitäten, die im Abschwung des Investitionszyklus liquidiert werden müssen. Wird die Liquidierung der Fehlkapazitäten von der Politik verhindert, um die in diesen Bereichen engagierten Investoren und tätigen Beschäftigten zu schützen, dann kann die Wirtschaft nicht gesunden.

Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass sich die Politik in den von Finanzkrisen ausgelösten Rezessionen oder Depressionen dem öffentlichen Druck, den Abschwung zu mildern, nicht entziehen kann. Sie gab diesem Druck schon in der Großen Depression der 1930er Jahre nach, auch wenn die Möglichkeiten des Staates zur Einflussnahme auf die Wirtschaft zu dieser Zeit noch weit geringer waren als heute.

Nach dem Platzen der „Blasenökonomie“ in Japan Anfang der 1990er Jahre stemmte sich die Politik so stark gegen den wirtschaftlichen Abschwung, dass sie einen Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts verhindern konnte. Der Preis dafür war aber die Konservierung von im Boom aufgebauten Fehlkapazitäten, wodurch eine kraftvolle und nachhaltige Erholung der Wirtschaft verhindert wurde.

Auch während der jüngsten Finanzkrise nach der Pleite von Lehman Brothers im Jahr 2008 gelang es der Geld- und Fiskalpolitik, mit massiven Eingriffen den wirtschaftlichen Abschwung abzumildern. Jedoch wurde dadurch auch ein schneller Abbau der während des Kreditbooms aufgebauten Überschuldung und Fehlkapazitäten verhindert, so dass die Erholung der Wirtschaft nach der Krise ebenfalls schwach ausfiel. Außerdem wurde sie immer wieder von Rückschlägen begleitet, die dann auftraten, wenn sich neue Wellen im Abbau der Überschuldung aufbauten. So fiel die Eurozone 2012–13 zurück in die Rezession, als der Pleitegeier unter den südlichen Staaten der Zone umging. Erst das Versprechen der Europäischen Zentralbank, im Notfall die Schulden zu monetisieren, konnte den Abschwung anhalten. Im Jahr 2015 begann China zu straucheln, als nachlassendes Wirtschaftswachstum die Solvenz überschuldeter Unternehmen und Gebietskörperschaften bedrohte. Und wieder wurde die Entschuldung durch Bankrotte mit billigem, neuem Kredit verhindert.

Photo: Thomas Quine from Flickr (CC BY 2.0)

Die skandinavischen Länder üben auf viele Menschen in Deutschland eine Faszination aus. Die weite Landschaft, die Seen, der lange kalte Winter und der intensive kurze Sommer haben viele Bürger hierzulande zu Schweden-Fans gemacht. Auch politisch ist für viele Schweden ein Vorbild. Der schwedische Wohlfahrtsstaat galt in den 1970er und 1980er Jahren als Vorbild und als der gemäßigte „dritte Weg“ zwischen Kapitalismus angelsächsischer Prägung und dem Sozialismus der Sowjetunion. Der vor 30 Jahren ermordete Ministerpräsident Olaf Palme stand wie kein anderer für dieses Modell.

Mit der Bankenkrise Anfang der 1990er Jahre trat ein Umdenken ein. Schweden war eines der ersten Länder in Europa, das eine schwere Bankenkrise zu bewältigen hatte. Wie in anderen Ländern später auch, führte das Platzen einer Immobilienblase dazu, dass der schwedische Staat und seine Notenbank mit Garantien die betroffenen Banken und die Einleger schützen musste. Der Preis dafür war nicht nur ein Zurückschrauben des Wohlfahrtsstaates alter Prägung, sondern auch umfangreiche Fusionen im Bankensektor. Heute beherrschen nur vier große Banken den schwedischen Markt.

Schweden gilt auch als Vorreiter der Bargeldabschaffung. Dort kann man jeden Kaffee im Restaurant, jede Kugel Eis und sogar das Toilettenhäuschen mit seinem guten Namen bezahlen. Die Schweden seien viel fortschrittlicher und aufgeschlossener für moderne Entwicklungen, als die an antiquierten Münzen und Scheinen festhaltenden Deutschen, heißt es bei den lobbyierenden Kartenunternehmen.

Kürzlich berichtete der Deutschlandfunk in einer interessanten Reportage über die wachsende Kritik in Schweden am Zurückdrängen des Bargeldes. Darin wird ein anderes Bild über die Hintergründe und Widerstände gezeichnet. Die vier marktbeherrschenden Banken betreiben gemeinsam eine Politik, die das Bargeld diskriminiert. Für sie ist es billiger, ohne den hohen administrativen Aufwand, den der Bargeldverkehr für die Banken verursacht, zu arbeiten. Die Bürger können mangels Wettbewerb dieser Entwicklung nicht ausweichen. So betreiben die vier Banken gemeinsam eine Gesellschaft, die alle Bankautomaten in Schweden unterhält.

Häufig ist das maximale Abhebevolumen nur noch umgerechnet 100 Euro. Einige Banken nehmen gar kein Bargeld mehr an und Einzelhändler können ihr Bargeld nicht mehr am Bankautomaten oder in der Bankfiliale einzahlen. Einzelhändler werden dadurch gezwungen, auf unbare Zahlungsweise umzustellen. Gerade für ältere Menschen wird dies zum Problem, wenn sie keine Kreditkarte haben. Dann werden ihnen bei Überweisungen hohe Gebühren belastet. So kostet eine Überweisung schon mal umgerechnet 8 Euro.

Doch jetzt scheint sich der Widerstand zu formieren. Der größte schwedische Pensionärsverband hat vor einigen Wochen eine Protestnote „Bargeld wird gebraucht“ mit 140.000 Unterschriften an die Regierung überreicht. Auf Deutschland bezogen wären das immerhin 1,2 Millionen Unterschriften. Eine andere Initiative „Bargeld-Aufstand“ formiert sich ebenfalls zu Protest.

Die Schwedische Krone ist zwar alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel, dennoch wird sie im Alltag diskriminiert. Diese Tendenz ist auch in Deutschland vorherrschend. Am übernächsten Sonntag wird in Berlin gewählt. Die dortigen Bürgerämter sind überfordert, Meldedaten entgegenzunehmen. Wer dies freiwillig versucht, muss schon mal sechs Wochen auf einen Termin warten. Ob so überhaupt eine reguläre Wahl stattfinden kann, wenn die Meldedaten nicht aktuell sind? Hinzu kommt: will der Berliner die Gebühr für seinen neuen Personalausweis oder Reisepass bar bezahlen, ist dies nicht mehr möglich. Ein wenig freundliches Schild auf dem Tisch des Sachbearbeiters weist einen darauf hin: „Barzahlung nicht möglich“.

Auch wir steuern auf schwedische Verhältnisse zu. Der Staat und seine Institutionen diskriminieren das Bargeld im Alltag ebenfalls. Dabei ist die Rechtslage eindeutig. Das Bundesbankgesetz regelt in Paragraph 14, Satz 2 sehr klar: „Auf Euro lautende Banknoten sind das einzige unbeschränkte gesetzliche Zahlungsmittel.“ Doch Theorie und Praxis klaffen auch in Deutschland auseinander. Der n-tv-Journalist Raimund Brichta hat kürzlich versucht, seine Einkommensteuer beim Finanzamt bar zu bezahlen – ohne Erfolg. Jetzt strengt er dazu eine Klage an. Der Journalist Norbert Häring hat mit Unterstützung meines Prometheus-Instituts eine Klage erwirkt, die die Barzahlung des Rundfunkbeitrages erreichen will. Die Verpflichtung des Beitragszahlers auf unbare Zahlung in der jeweiligen Satzung des Senders beruht auf Landesrecht des einzelnen Bundeslandes. Das Bundesbankgesetz ist jedoch ein Bundesgesetz, das Vorrang hat und nicht durch Landesrecht gebrochen werden kann.

Warum das alles? Bargeld sichert die Privatautonomie jedes Einzelnen und schützt den Bürger vor den Negativzinsen, die EZB-Chef Mario Draghi braucht, um die Sparer kalt und klammheimlich zu enteignen. Wehret den Anfängen!

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.

Photo: James Vaughan from Flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Die Werbung steht mal wieder im Fokus der Kritik. Die Alternative zu vermeintlich oder tatsächlich manipulativer Werbung ist jedoch nicht „Mutter Staat“, die ihre Kinder von allen Bedrohungen und Verlockungen abschirmt. Die Alternative ist der selbstbestimmte Bürger.

Wutbürger auf allen Seiten des politischen Spektrums

Im April dachte der Justizminister laut über ein Verbot sexistischer Werbung nach. In den vergangenen Tagen beschäftigt eine schlüpfrige Werbekampagne der Firma „true fruits Smoothies“ nicht mehr nur den Werberat und die Mitglieder der Wirtschaftsredaktionen, sondern inzwischen auch massenweise Feuilletonisten und Wortwitzkünstler. Und in der letzten Woche ließ sich das „Forum Rauchfrei“ eine Anzeige in der FAZ sportliche 33.000 € kosten, um ein „umgehendes Verbot der Außenwerbung für Tabakprodukte“ zu fordern. Hand in Hand, so könnte die Erzählung lauten, kämpfen Zivilgesellschaft und Politik gegen die übermächtige Interessenmacht der Industrie und ihrer Vermarkter. Die Realität sieht wohl anders aus.

Wutbürger finden sich mitnichten nur auf Pegida-Demonstrationen oder in den Wahlkabinen in Pforzheim und Greifswald. Es gibt sie in den verschiedensten Färbungen und Variationen. Den Wutbürger macht wesentlich aus, dass er sich einer Macht gegenübersieht, die ihn verkauft und verraten hat. Er kann sich kaum gegen sie wehren, weil sie größer und mächtiger ist als er. Aber er will es sich nicht mehr länger gefallen lassen. Darum erhebt er seine Stimme und wirft sich dem Gegner entgegen wie einst David dem Goliath. Im Falle der politisch nach rechts tendierenden Wutbürger sind die Gegner dann „die Eliten“ oder „die Meinungsmacher“. Der auf die linke Seite neigende Wutbürger sieht sich im Kampf gegen Großkonzerne und neoliberale Ausbeuter. Mehr Unterschied ist nicht.

Man muss sexistische Werbung nicht gut finden

Im Wut-Weltbild der Gegner des Neoliberalismus sind die „Gewinnmaximierer“ der Feind Nummer eins. Menschen, die nur nach ihrem eigenen Vorteil streben und das Wohl ihrer Mitmenschen auf dem Altar des Profits opfern. Die Begeisterung über die eigene moralische Erhabenheit in Verbindung mit fanatischem Eifer führt freilich oft dazu, dass Zusammenhänge falsch dargestellt, Ursache-Wirkungs-Ketten verkehrt und Verantwortlichkeiten durcheinandergenbracht werden. Wer das intensiv genug betreibt, wird im Laufe der Zeit immun gegen Argumente.

Nehmen wir sexistische Werbung. Es muss kein Ausweis von Spießigkeit sein, wenn man es als unangemessen empfindet, dass gewisse Zeitschriften auf jedem dritten Cover nackte Menschen abbilden, egal ob es beim Heft-Thema um Altersvorsorge, den Brexit oder das Dritte Reich geht. Man muss nicht prüde und verklemmt sein, um der Meinung zu sein, dass 10jährige Kinder nicht am laufenden Band mit unbekleideten Damen und Herren auf XXL-Plakaten konfrontiert werden müssen. Und man kann sogar der Organisation „Pinkstinks“, die Minister Maas bei seinem Vorschlag beraten hat, zustimmen, wenn sie beklagt, dass „Produkte, Werbe- und Medieninhalte … Kindern eine limitierende Geschlechterrolle zuweisen“.

Gesetz erlassen – Problem beseitigt

Aber man sollte genauer hinsehen. Der Slogan „sex sells“ beruht eben auch auf sehr deutlicher empirischer Evidenz. Das liegt nicht nur an den Verkäufern, sondern auch an den Käufern. Offenbar ist der Einsatz von erotischer Bebilderung ein erfolgreiches Mittel, um Käufer anzulocken. Die sehr niedrige Hemmschwelle beim Gebrauch von nackter Haut hat zudem auch damit zu tun, dass die Käufer geprägt sind von einer Gesellschaft, in der es nur noch wenige Tabus auf dem Gebiet der Sexualität gibt. In den Marketing- und Werbe-Agenturen sitzen mitnichten lauter Machos, die konsequent den Masterplan verfolgen, die komplette Verdinglichung von Frauen zu erreichen. Es sitzen dort vielmehr Kinder ihrer tabulosen Zeit, die versuchen, einen möglichst breiten Geschmack zu treffen und sich deshalb an den Wünschen unserer Mitbürger orientieren. Und so platt das auch klingen mag: Wenn sie es nicht machen würden, würden es andere machen.

Werbung zu verbieten, die mit Nacktheit, Sexualität oder festgeschriebenen Rollenbildern operiert, löst keine Probleme. Ja, es kann sogar den Effekt haben, dass man die Augen vor tatsächlichen Problemen und vor allem vor deren Ursachen verschließt. Die Logik „Gesetz erlassen – Problem beseitigt“ gleicht der Vorstellung kleiner Kinder, dass sie nicht gesehen werden, wenn sie sich die Hände vor die Augen halten. Einem herablassenden Frauenbild kann man nur mit langfristiger Bewusstseinsveränderung entgegenwirken. Eine solche Veränderung kann Jahrzehnte dauern – da „wirkt“ ein Gesetz natürlich schneller. Aber es bleibt bei einer rein äußerlichen Veränderung. Jenseits der Frage, ob ein Gesetz ein wirksames Mittel sein kann, ist natürlich vor allem auch die Frage bedeutsam, ob es ein legitimes Mittel sein kann. Dürfen wir Gesetze nutzen, um unserem mitunter durchaus berechtigen Unmut über Sexismus Luft zu machen?

Aus der Herrschaft des Rechts in eine Herrschaft der Gesetze?

In unserer und anderen Gesellschaften hat es tiefgreifende Veränderungen gegeben in den letzten Jahrzehnten: von der Frauenemanzipation bis zur bewussteren Ernährung, von einer Verbesserung der Aufstiegschancen bis zum friedlichen Miteinander von Menschen unterschiedlichster Herkunft. Dass es zu diesen Veränderungen gekommen ist, liegt an Frauen und Männern, die dafür geworben haben; die ihre Ideale hochgehalten haben, zum Teil gegen massiven Widerstand; die Beharrungsvermögen und ein dickes Fell mitgebracht haben. Wenn in diesen Bereichen mit Gesetzen gearbeitet wurde (z. B. Frauenquote, Nichtraucherschutz, Antidiskriminierung), dann kamen diese oft lange nachdem die Veränderung bereits stattgefunden hatte und hatten kaum noch Einfluss auf das Verhalten, geschweige denn die Einstellung der Menschen.

Die Wutbürger, die heute für Werbeverbote kämpfen, sollten dringend abrüsten. Eine freie und offene Gesellschaft muss auf anderem Wege verändert werden. Aufklärung, öffentlicher Diskurs, Überzeugungsarbeit – das sind die einzigen Mittel, deren man sich in einer freiheitlichen Demokratie bedienen darf, wenn man dem Grundgedanken des selbstbestimmten, mündigen Bürgers treu bleiben möchte. Andernfalls drohen wir, aus der Herrschaft des Rechts in eine Herrschaft der Gesetze zu rutschen – aus der Gerechtigkeit in die Willkür. Und es kann übrigens auch sehr gut sein, dass die meisten Menschen in unserem Land nicht so einfältig, willenlos und manipulierbar sind, wie die Werbeverbots-Wutbürger meinen …

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Sechs Millionen Deutsche machten im vergangenen Jahr Urlaub in Polen. Zwei Millionen Polen und Polnisch-Stämmige leben dauerhaft in Deutschlands. Polen ist unser siebtwichtigster Handelspartner. Aber nur wenige wissen um die leuchtende Vergangenheit des Landes.

Eine Ausnahmeerscheinung in finsteren Zeiten

Entgegen der üblichen Wahrnehmung war das Mittelalter gar nicht eine so finstere Zeit. Dagegen war die darauffolgende frühe Neuzeit in einer Weise düster, die sich oft durchaus mit den finsteren Zeiten des 20. Jahrhunderts messen kann. Die Epoche zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert war in Europa geprägt von blutigen Glaubenskämpfen, von der zunehmenden Konzentration von Macht im Absolutismus und vom rasanten Wachstum des starken Staates. Inmitten dieser erstickenden Atmosphäre war die „Adelsrepublik Polen“ ein einzigartiges Phänomen, in dem jene Werte gedeihen konnten, die erst heute, etliche hundert Jahre später, in ganz Europa unser Selbstverständnis prägen.

Das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen bildeten bereits ab 1385 eine Personalunion. 1569 wurden die bisher gemeinsam regierten beiden Reiche in einer Realunion zusammengeführt. Gleichzeitig gab es eine massive Verfassungs-Revision, die aus dem neu entstandenen Reich ein Staatswesen mit beispielloser Freiheit machte. Das erbliche Königtum wurde abgeschafft zugunsten eines Wahlkönigtums. Damit einher ging eine deutliche Schwächung der Stellung des Königs, der mehr ein oberster Beamter war als ein klassischer Herrscher. Diese Entwicklung war dem absolutistischen Trend im Rest Europas diametral entgegengesetzt. (Ausnahmen bildeten nur noch die Vereinigten Niederlande und, mit Abstrichen, ab der „Glorious Revolution“ von 1688 auch Großbritannien.)

Demokratie und Toleranz

Gewählt wurde der König vom Adel sowie von Vertretern der freien Städte. Der Adel war freilich in Polen nicht eine kleine Elitenkaste. Ihm gehörten etwa 15 % der Bevölkerung an. Zum Vergleich: In Großbritannien, dem selbsterklärten „Mutterland der Demokratie“ durften erst nach der großen Reform von 1832 vergleichbar viele Bürger wählen. Die Adligen fanden sich alle zwei Jahre für sechs Wochen zusammen im Sejm, einem der ältesten Parlamente der Welt. Ausgestattet mit umfangreichen Veto-Möglichkeiten bestimmten sie über Gesetzgebung und Fiskalfragen sowie über außenpolitische Angelegenheiten. In der Zeit zwischen den Sejm-Sitzungen wachten 16 gewählte Senatoren darüber, dass der König sich an die Beschlüsse des Parlaments hielt. Außerdem gab es ein verbrieftes Recht zum Widerstand, sollte der König gegen „Recht, Freiheit, Privilegien und Gebräuche“ verstoßen.

Seit dem „Warschauer Religionsfrieden“ von 1573 gab es in der Republik auch garantierte Religionsfreiheit. In einer Zeit höchster Intoleranz zwischen den großen Konfessionen, gegenüber freikirchlichen „Sekten“ und „Ketzern“ und natürlich gegenüber Juden lebten in Polen Angehörige unterschiedlichster Konfessionen und Religionen friedlich zusammen: Katholiken, Protestanten, Orthodoxe, Juden und Muslime. Für viele verfolgte Anhänger protestantischer Freikirchen war Polen der einzige Zufluchtsort in Europa. Neben den religiösen Traditionen konnten sich auch kulturelle Eigenheiten in dem Vielvölkerstaat halten: Polen, Litauer, Ukrainer, Weißrussen, Esten, Letten, Slowaken, Ungarn, Moldauer, Juden, Deutsche, Armenier und Tataren fanden sich in einem föderalistisch organisierten Gemeinwesen zusammen.

Friedliche Koexistenz, wenn Macht begrenzt ist

Inmitten der zentralstaatlich organisierten, absolutistischen und kriegslüsternen europäischen Monarchien hatte es die Freiheitsinsel Polen-Litauen zunehmend schwer. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde es aufgerieben zwischen den Großmächten in der Umgebung: Russland, Preußen, Österreich und Schweden bedrohten es von außen und durch Intrigen auch von innen. Auch der Versuch einer Verfassungsreform im Jahr 1791, die das Land modernisieren und noch weiter demokratisieren sollte, konnte den Untergang nicht abwenden. Nachdem bereits bei der ersten Polnischen Teilung 1772 bedeutende Teile des Landes von Russland, Preußen und Österreich annektiert worden waren, verschwand der Staat 1793 bis 1795 vollständig von der Landkarte. Die als „Goldene Freiheit“ bezeichnete Epoche war unwiderruflich vorbei.

Die beispiellose Freiheit, die über 200 Jahre hinweg in Polen-Litauen herrschte, sollte uns heute viel stärker wieder ins Bewusstsein kommen. Gerade in einer Zeit, in der sich nach dem Brexit-Votum die Gewichte innerhalb der EU verschieben könnten. Und gerade in einer Zeit, in der in vielen Staaten des östlichen Europas die Traditionen der Toleranz und Offenheit einen schweren Stand haben. Die Geschichte der „Goldenen Freiheit“ kann uns Warnung und Inspiration zugleich sein: Die Warnung lautet, dass die Freiheit immer bedroht ist durch die Macht. Die Entwicklungen in Russland in den letzten Jahren und in der Türkei in der jüngsten Zeit darf Europa nicht ignorieren. Zugleich zeigt die Geschichte aber auch vorbildhaft, dass eine friedliche Koexistenz vieler unterschiedlicher Lebensentwürfe möglich ist – gerade dann, wenn Macht nicht zentralisiert und absolutistisch ist. Das sei insbesondere den Verantwortlichen in Brüssel ans Herz gelegt …

Der Philosoph Karl Popper, dessen Geburtstag sich gestern jährte, stellte schon 1958 in einem Vortrag zum Thema „Woran glaubt der Westen“ (und die Geschichte Polen-Litauens beweist: auch der Osten glaubt daran!) fest:

„Unser Stolz sollte es sein, dass wir nicht eine Idee haben, sondern viele Ideen; dass wir nicht einen Glauben haben, nicht eine Religion, sondern viele, gute und schlechte. Es ist ein Zeichen der überragenden Kraft des Westens, dass wir uns das leisten können. Die Einigung des Westens auf eine Idee, auf einen Glauben, auf eine Religion, wäre das Ende des Westens, unsere Kapitulation, unsere bedingungslose Unterwerfung unter die totalitäre Idee.“

Photo: Justin Ennis from Flickr (CC BY 2.0)

Von Franco Debenedetti, Unternehmer, ehemaliges Mitglied des italienischen Senats und Präsident unseres Partnerinstituts „Istituto Bruno Leoni„.

Die italienische Bankenkrise bedarf gerade eines deutlichen Zwischenrufs: Das Ausmaß der Artikel und Interviews, in Zeitungen und Blogs, die sich darüber auslassen, was zu tun und was zu lassen sei, ist zu einem Punkt gekommen, an dem es nötig ist, eine Einordnung vorzunehmen.

Die widersprüchlichen Argumente

Sie reduzieren sich letztlich darauf, dass man sich einerseits die „ever closer union“ ersehnt, die Fiskalunion und die Vereinigten Staaten von Europa, während man sich andererseits dafür ausspricht, die Maastricht-Kriterien aufzuweichen und die Vorschriften der Bankenunion nicht zu befolgen. Die EU hat keine Verfassung, sie hat keine eigene politische Geschichte – sie hat nur ihre Verträge. Auf der Website der EU liest man: „Die Europäische Union basiert auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Das bedeutet, dass jede Tätigkeit der EU auf Verträgen beruht“. Ohne Verträge gibt es keine EU. Es ist ein Widerspruch, wenn man mehr Europa will, aber gleichzeitig das Europa von 1992 untergräbt, den ersten großen Schritt nach vorn, und auch die zwanzig Jahre später als lang ersehnten zweiten Schritt begrüßte Bankenunion.

Die kontraproduktiven Argumente

Eine Lawine … Manche argumentieren, es gebe natürlich die Banca Monte dei Paschi di Siena – aber es gebe ja auch die Deutsche Bank. Es gebe unsere Staatshilfen, aber auch die der anderen. Es wird erklärt, dass unser Problem nur Ausdruck eines viel größeren Problems sei. Und dann endet man mit dem Vorwurf an die Obrigkeiten, die unsere Forderungen beurteilen werden, unaufmerksam oder parteiisch zu sein. Faule Kredite seien etwas Anderes als Derivate; frühere Kritikpunkte hätten mit der jetzigen Situation nichts zu tun. Wenn man immer auf die Fehler der anderen hinweist, kann es sein, dass man irgendwann dazu ermahnt wird, einmal wieder auf die eigenen zu Blicken: vernichtetes Kapital, subventioniertes Wachstum, verschlechterte Kredite – es gibt genug Schwachpunkte.

Es ist kontraproduktiv, dem Brexit die Schuld zu geben: Ein Ereignis, das beweist, wie wichtig es ist, dass die Banken ausreichend Kapitalausstattung haben, um Schocks zu überstehen, kann nicht angeführt werden, um ein Auge zuzudrücken gegenüber denjenigen, die nicht ausreichend Kapital haben. Das gleiche gilt für die Umstellung von nachrangigen Anleihen in den Händen institutioneller Inverstoren in Aktien: Manch einer sagt, das könne man nicht machen, weil es den europäischen Markt für nachrangige Anleihen in Panik versetzen würde. Doch wenn das so wäre, dann würde das bedeuten, dass die Investoren nicht daran glauben, dass die Direktive je angewandt würde. Eine Einladung an die Obrigkeit, im Fall der Bank aus Siena unnachgiebig zu sein, um ganz Europa zu beweisen: wir meinen es ernst.

Die peinlichen Argumente

Manche erwarten ein Moratorium bei der Anwendung der Bail-in-Klauseln. Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie die Probleme, die damit verbunden sein können, erst erkannt haben als sie nicht mehr theoretisch, sondern real waren. Dasselbe gilt auch für die Rettungen mit öffentlichem Kapital aus Deutschland (jemand sagt auch aus Großbritannien, als ob es Teil der Bankenunion wäre). Ist es ein Zeichen von Vorausschau oder auch nur Klugheit, immer stolz behauptet zu haben, man brauche das nicht?

Die fehlenden Argumente

Allenthalben hört man Beschwerden, dass den Italienern die ökonomische Bildung fehle, aber keiner spricht aus, wer in seiner Pflicht scheitert, diese zu ermöglichen. Das fängt bei der ersten Lektion an: Was für den einen eine Unterstützung ist, ist für den anderen eine Ausgabe, die von jemandem finanziert werden muss – entweder heute mit Steuern oder morgen mit den Zinszahlungen auf neue Schulden. Es scheint, dass die vier Banken (von Marche, Ferrara, Etruria, Chieti), die Ende 2015 pleite gingen, für 500 Millionen verkauft werden können? Ihre Rettung hat 1500 Millionen gekostet. Die Differenz wird den Interbanken-Fonds mit Garantien bezahlen, mithin also die Einleger in Form von geringerer Güte der Garantien. Falls es dem Fond Atlante nicht gelingen sollte, die großzügig bewerteten Bankenkredite zurückzugewinnen, dann wäre das ein Geschenk an die Bankaktionäre. Bezahlt würde das von dem Geld, das aus den Banken und Rentenkassen genommen wurde. Und die letzte Lektion lautet: Im Nachhinein führen diese Rettungen notwendigerweise in eine Situation des „moral hazard“. Sie laden Banken und Banker ein, weiterzumachen wie bisher. Schließlich bezahlt die Rechnung am Ende doch ein anderer.

„La mala educaciòn“ – Die schlechte Erziehung

Wenn der Interessenkonflikt der Regierungen nicht ans Licht gebracht wird. Sie haben in zweifacher Hinsicht ein Interesse daran, zu intervenieren und die Banken zu retten. Einerseits stoßen sie auf Zuspruch, weil sie „ein Problem gelöst“ haben und sie legen sich die Instrumente bereit, um das in Zukunft wieder zu tun. Indem sie als Kapitalgeber der Banken fungieren, gewinnen sie andererseits Gewicht im Prozess der Kreditvergabe, wenn es um Gelegenheiten der „Problemlösung“ geht, die öffentliches Interesse auf sich ziehen: sei es bei der Rettung des Stahlherstellers Ilva, beim Breitbandausbau oder beim Fonds „Atlante“. Dass die ökonomischen Interessen der „Geretteten“ gegebenenfalls nicht mit ihrem politischen Votum über ihren „Retter“ Renzi übereinstimmen, ist auch ein Widerspruch. Von allen, die wir hier gesehen haben, aber vielleicht der harmloseste.

Erstmals erschienen in der Zeitung „Il Foglio quotidiano“ und veröffentlicht auf dem Blog von Franco Debenedetti, eigene Übersetzung.