Beiträge

Photo: Navin75 from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,

vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass Sie am 11. Oktober 2011 in einem von der NSA abgehörten Telefongespräch Ihre Sorge geäußert haben, dass selbst ein zusätzlicher Schuldenschnitt die Probleme in Griechenland nicht lösen könnte. Einen Tag zuvor hatte ich die notwendigen 3500 Unterschriften für einen Mitgliederentscheid in der FDP gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus und weitere Hilfen für Griechenland beim damaligen Generalsekretär der FDP, Christian Lindner, abgegeben. Insofern hat uns beide zum gleichen Zeitpunkt die Sorge umgetrieben, dass die von Ihnen angestoßene Griechenland-Rettung nicht funktionieren wird.

Wie Sie wissen, habe ich am 7. Mai 2010 beim 1. Griechenland-Paket im Deutschen Bundestag erklärt, dass Griechenland nicht in der Lage sein werde, mit seiner Wirtschaft die Mittel zu erwirtschaften, die zur Schuldenreduzierung notwendig seien, solange Griechenland Mitglied der Eurozone sei. Notwendig wäre dafür ein Produktivitätsfortschritt der griechischen Wirtschaft von 30 Prozent, der in dieser kurzen Zeit nicht erreicht werden könne.

Der von Ihnen befürchtete Schuldenschnitt kam in zweifacher Ausführung im Frühjahr und Herbst 2012. Trotz des größten Schuldenerlasses in der Nachkriegsgeschichte hat Griechenland heute mehr Schulden als vor der Krise. Doch anders als zum Zeitpunkt Ihres nun bekanntgewordenen Telefonats sind die Gläubiger nicht mehr private Investoren, sondern fast ausschließlich staatliche Geldgeber. Es ist das eingetreten, was die Linken uns immer vorwerfen: Die Gewinne werden privatisiert und die Verluste sozialisiert.

Doch das ist vergossene Milch. Was können Sie in dieser Situation jetzt und heute tun? Meine Empfehlung ist: Sorgen Sie dafür, dass das Recht in Europa wieder zur Geltung kommt. Die griechische Regierung darf innerhalb des Euros kein weiteres Hilfspaket bekommen, da die Schuldentragfähigkeit bislang nicht gegeben war und sie auch künftig nicht gegeben ist.

Bedenken Sie bitte, dass die neue griechische Regierung unter Alexis Tsipras seit dem 27. Januar 2015 im Amt ist. Seitdem hat diese Regierung faktisch nichts unternommen, um die Einnahmen zu erhöhen sowie die Ausgaben zu reduzieren. Nach wie vor werden die Reeder in Griechenland nicht besteuert, fast 70 Milliarden Steuerforderungen werden nicht eingetrieben, und nach wie vor hat Griechenland einen der größten Militäretats pro Kopf der Bevölkerung in der Welt. Ich glaube inzwischen, dass dahinter nicht die Unfähigkeit der dortigen Regierung steckt, sondern eine Strategie, die zum Ziel hat, dass die Regierung Tsipras schon längst die Zeit nach dem Euro plant. Nur sie wollen nicht selbst den Euro aufgeben müssen, sondern sie wollen Sie, Wolfgang Schäuble, Mario Draghi und Jean-Claude Juncker für die Übergangsprobleme verantwortlich machen. Diese Strategie hat im Januar schon zum Wahlsieg von Syriza geführt. Die Maßnahmen der Troika und der Staatengemeinschaft wirkten wie Doping für die radikalen Kräfte in Griechenland.

Die Staatengemeinschaft sollte der Wahrheit ins Gesicht schauen und mit Griechenland über den Ausstieg aus dem Euro verhandeln. Der Ausstieg als Gegenleistung für einen Schuldenschnitt und anschließende Aufbauhilfen. Das wäre für beide Seiten ein akzeptabler Kompromiss. Es wäre in gegenseitigem Interesse. Heute infiziert Griechenland mit der ständigen Rechtsbeugung alle anderen Krisenstaaten in Europa. Gleichzeitig zwingt die Staatengemeinschaft Griechenland einen immer stärkeren Souveränitätsverzicht auf. Das hält keine Demokratie auf Dauer aus.

Nur wenn Risiko und Verantwortung wieder eine Einheit werden, nur wenn Regierungen und Staaten auf der einen Seite und Banken und andere Investoren auf der anderen Seite für ihr Handeln haften, nur dann hat der Euro als Gemeinschaftswährung eine Chance.

Mit freundlichen Grüßen
Frank Schäffler

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 4. Juli 2015.

Photo: Tommy Hemmert Olesen from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Sind Tsipras und Varoufakis verrückt oder steckt hinter ihrem Vorgehen doch eine Strategie? Ersteres überwiegt derzeit in der Berichterstattung. Sie seien unberechenbar, unfähig und undankbar, wird überall gerufen. Die beiden Griechen hätten gar keine Strategie, sondern würden nur pokern und die Wirklichkeit würde sie jeden Tag aufs Neue einholen. Doch vielleicht steckt dahinter doch eine Strategie, die in zwei Phasen abläuft.

Die erste Phase vollzog sich direkt nach dem Wahlsieg Anfang des Jahres. Varoufakis und Tsipras bereisten die Hauptstädte Europas, um zu sondieren, ob eine Mehrheit im Euro-Club für eine große Schuldenkonferenz möglich sei. Beide wollten die unter der Last ihrer Schulden ächzenden Länder Italien, Spanien und Portugal für ihr Anliegen gewinnen. Der Versuch, den Euro-Club auseinander zu dividieren, misslang sehr schnell. Sowohl in Rom und Madrid als auch in Lissabon holte sich Tsipras eine Abfuhr.

Seitdem verfolgen sie die zweite Phase ihrer Strategie, die zum Austritt Griechenlands aus der Eurozone führen soll. Schon seit die Regierung Anfang des Jahres ins Amt kam, wurde eigentlich nichts getan, um die Einnahmen des griechischen Staates zu erhöhen und die Ausgaben zu senken. Teilweise ist sogar das Gegenteil erfolgt, indem bereits entlassenes Personal wieder eingestellt wurde. Anders als die Vorgängerregierungen hat die aktuelle nicht einmal den Schein gewahrt, sondern hat einfach nichts gemacht. In dieser Phase ging es nur darum, Zeit zu gewinnen. Dabei wurden Zugeständnisse gemacht und wieder zurückgezogen, Vereinbarungen getroffen und wieder gebrochen, um anschließend in unzähligen Sondersitzungen weiter zu beraten. Bis dahin hat sich die griechische Regierung mit kurzlaufenden Anleihen über Wasser gehalten, so genannten T-Bills, die von den nationalen Banken gekauft wurden, die wiederum dieses Geld über Ela-Kredite von ihrer Notenbank erhalten haben.

Letzte Woche wurde nun bekannt, dass Angela Merkel in letzter Minute Tsipras ein 3. Hilfspaket, eine faktische Umschuldung und ein Investitionsprogramm in Höhe von 35 Milliarden Euro angeboten habe. Und dennoch verfolgte Tsipras das Ziel, den IWF-Kredit am 30.6. nicht zurückzuzahlen und seine Volksabstimmung durchzuführen.

Warum, muss man sich fragen. Wenn es eine Umschuldung durch eine Zinsreduktion und vielleicht sogar eine Verlängerung der Kredite gegeben hätte, wäre dies einem Schuldenschnitt gleichgekommen. Ein Investitionsprogramm von 35 Milliarden wäre ein erneuter Marshall-Plan für Griechenland gewesen. Und ein drittes Hilfspaket wurde ohne die Erfüllung des zweiten plötzlich doch möglich. Faktisch hat Merkel all das angeboten, was die griechische Regierung in anderen Worten über Monate verlangt hat. Eigentlich hat Tsipras das Chicken Game auf ganzer Linie gewonnen. Wieso schlägt er dennoch nicht ein?

Eine logische Erklärung ist, dass er etwas ganz anderes will. Er will eine Situation schaffen, in der Griechenland aus dem Euro austreten kann, ohne dass dies ihm und seiner Partei angelastet wird. Tsipras und Varoufakis wissen, dass ein solcher Plan in der griechischen Bevölkerung nicht beliebt wäre, und der restliche Euro-Club ebenfalls kein Interesse daran hat. Gilt doch das Merkelsche Dogma: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“.

Wie häufig in der Geschichte kommt es auf die Frage an, wem am Ende die Schuld gegeben wird. Dreht die EZB die Ela-Kredite zu, schließen die Banken und kommen Kapitalverkehrskontrollen – wer ist dann daran schuld? Ist es die linke Regierung oder sind es Merkel und Schäuble? Es geht also um die Frage, welche Geschichte später erzählt wird. Ein Austritt aus dem Euro, bei dem die Syriza-Regierung der Troika, Merkel und Schäuble die Schuld geben kann, ist vielleicht die einzige Chance für das politische Überleben von Tsipras und Varoufakis. Und genau darum geht es. In ihren Augen ist der Euro ein Korsett, der nach deutschem Vorbild geschaffen wurde und das für Griechenland ungeeignet ist. Tsipras ist Sozialist, Varoufakis ist ebenfalls ein sozialistischer Ökonom, der sicherlich näher bei Keynes als bei Milton Friedman ist. Wenn das so ist, wollen Sie den Zugriff auf die Geldpolitik der eigenen Notenbank gewinnen, um hierüber eine eigene Konjunkturpolitik zu betreiben. Sie wollen nicht von Draghi und Weidmann abhängig sein, sondern darauf selbst direkt Einfluss nehmen. Das setzt aber natürlich voraus, dass Griechenland ausscheidet.

Deshalb wird der Vorschlag einer Parallelwährung des deutschen Ökonomen Thomas Mayer aktuell. Mayer hat sein Konzept vor einigen Wochen bereits Tsipras und Varoufakis in Athen vorgestellt. Es sieht vor, dass die griechische Regierung ihre Beamten und Angestellten mit Schuldscheinen bezahlt, die dann handelbar werden und aus denen sich eine Parallelwährung entwickelt.

Das Konzept ist nicht deshalb aktuell, weil dadurch ein gleitender Übergang vom Euro zu einer neuen Währung möglich wird. Denn die Abwertung dieses Geuros würde ebenso schnell verlaufen, wie ein direkter Übergang zu einer neuen Währung. Hier gilt das alte Gesetz: Das schlechte Geld verdrängt das gute. Die Euros werden gehortet und die Geuros werden so schnell wie möglich ausgegeben. Aber das Parallelwährungskonzept von Thomas Mayer hat für Tsipras und Varoufakis den Vorteil, dass sie nicht selbst den Bruch mit dem Euro-Club erklären müssen, sondern die EZB und die Staatengemeinschaft immer mehr Maßnahmen ergreifen müssen, die dazu führen, dass Griechenland aus dem Euro hinausgedrängt wird. Damit können Tsipras und Varoufakis der EZB, Schäuble und Merkel von Tag zu Tag mehr die Schuld in die Schuhe schieben.

Der Nachteil an diesem Plan ist, dass ich persönlich immer angenommen habe, dass Tsipras den aufgeweichten Vorschlägen von Merkel am Ende zustimmen wird. Deshalb habe ich schon vor einigen Wochen angekündigt, dass ich „einen Besen fressen werde“, wenn die Insolvenz und der Austritt Griechenlands aus dem Euro stattfindet. Dass Tsipras ein ganz anderes Chicken Game spielt, konnte ich mir nicht vorstellen. Das ist für mich persönlich nur schwer zu verdauen!

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.

Photo: Initiative D21 from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Angela Merkel hat es heute beim 70. Geburtstag der CDU gerade nochmals gesagt: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Sie hat in den letzten Tagen und Wochen lange zugewartet. Keiner sollte ihr vorwerfen, das Euro-Projekt würde an ihr oder Deutschland scheitern. Deshalb haben sie und Schäuble die Rollen intern verteilt. Schäuble, der harte Hund, sollte öffentlich Druck machen und sie wollte generös die Scherben, die Schäuble zurückgelassen hat, wieder einsammeln.

Das schien auch fast zu klappen. Erst letzte Woche hatte sie den Gipfel der Staats- und Regierungschefs am zurückliegenden Samstag als entscheidendes Datum genannt. Zwischenzeitlich wurde der griechischen Regierung nochmals eine halbjährige Verlängerung des Programms angeboten. Das war perfekt inszeniert. Die Königin im Schachspiel um den Euro wollte erst ganz am Schluss den entscheidenden Zug machen.

Doch er misslang. Tsipras reagierte mit einer Rochade und wechselte einfach den Platz, indem er eine Volksabstimmung für kommenden Sonntag ankündigte. Jetzt ziehen die EZB und die Staatengemeinschaft die Daumenschrauben weiter an. Bankferien, Kapitalverkehrskontrollen und das Einfrieren der Ela-Kredite sollen Tsipras und Co. weidwund schießen.

Die taktische Überlegung dahinter ist: wenn erstmal einige Tage lang die Bargeldversorgung zusammenbricht, werden die Griechen schon aufstehen und ihre Regierung in die Wüste schicken. Nach dem Motto: das Hemd ist uns näher als der Rock.

Dass Merkel ihren berühmten Satz heute nochmals wiederholt hat, zeigt, dass sie doch nicht so visionsfrei ist, wie man ihr gemeinhin unterstellt. Der Vorwurf lautet: Kohl und Schäuble seien überzeugte Europäer, die die politische Einigung Europas immer als ihre Vision verstanden hätten. Dagegen ginge es Merkel nur um die Macht im Jetzt.

Diese Analyse über Merkel ist zu kurz gesprungen. Auch für sie ist der Euro nicht nur ein Zahlungsmittel, eine Währung oder eine ökonomische Größe. Auch für sie ist der Euro ein politisches Projekt, die Krönung der europäischen Idee und der Garant für den Frieden in Europa. Darin unterscheidet sie sich weder von Schäuble noch von Kohl. Im Gegenteil, sie vollzieht diesen Kurs der Unumkehrbarkeit noch entschiedener und noch konsequenter.

Doch dieser Kurs hat seine Tücken und verursacht unweigerlich Kollateralschäden, die der Bundeskanzlerin noch schwer zu schaffen machen werden. Auf der einen Seite will sie das Heft über den von ihr und Francois Hollande dominierten Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs in der Hand behalten, auf der anderen Seite führt ihr Kurs aber zu einer immer größeren Verlagerung von Kompetenzen hin zur Europäischen Kommission und zum Parlament. Auf die Politik von Kommission und EU-Parlament hat sie jedoch nur mittelbar Einfluss.

Deshalb führt ihre Politik des „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ unweigerlich zu einer schleichenden Kompetenzverlagerung hin zu Juncker und Schulz und deren Institutionen. Doch beiden institutionellen Ebenen fehlt die Kongruenz von Entscheidung und Verantwortung. Deren Entscheidungen und ihre finanziellen Auswirkungen tragen nicht die EU-Kommission und das EU-Parlament, sondern die nationalen Regierungen und Parlamente.

Die Konsequenz der Merkelschen Politik ist ein immer größeres Auseinanderfallen dieser Entscheidungsebenen. Wenn jedoch Entscheidungen zentralistisch getroffen werden, aber dezentral verantwortet werden müssen, führt dies unweigerlich zu Widersprüchen.

Das Beispiel Griechenland ist das jüngste. Es mag einige Zeit noch funktionieren. Doch der Preis ist die mangelnde Akzeptanz in der Bevölkerung der übrigen Euro-Staaten. Sie werden radikalisiert und die politischen Ränder werden gestärkt. Der europäischen Idee, die Merkel eigentlich voranbringen will, wird dadurch ein Bärendienst erwiesen. Deshalb wäre der Weg des Austritts Griechenlands aus dem Euro-Club der ehrlichere und aufrichtigere – auch um der europäischen Idee noch eine Chance zu geben.

Erstmals erschienen bei der Huffington Post.

Photo: European People’s Party from Flickr (CC BY 2.0)

Jean-Claude Juncker ist ein Meister der Inszenierung. Und er beherrscht die Körpersprache wie kein anderer. Wenn er Ungarns Präsidenten Victor Orbán mit „Hallo Diktator“ und erhobenem Unterarm mit gestreckter Handfläche öffentlich begrüßt, dann soll diese wohl scherzhaft gemeinte Gestik sagen: „Victor, mach Dich nicht wichtiger als Du bist. Hier in Brüssel bin ich der Chef.“ Und wenn er dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras seinerzeit bei seinem Antrittsbesuch in Brüssel die Hand gibt und die andere Hand oben auf die Hand des Griechen legt, dann sagt er damit: „Ich kümmere mich um Dich in Deiner schwierigen Situation. Aber eins sollte Dir von Anfang an klar sein: Ich bin der Stärkere von uns beiden“. Und wenn er jüngst in dieser Woche Tsipras eine kleine Ohrfeige zur Begrüßung gibt, sagt er der ganzen Weltöffentlichkeit: „Du kleiner, frecher Kommunist, ich habe Dich durchschaut. Jetzt ist aber Schluss mit Deinen Unverschämtheiten“.

Wenn seine besondere Freundin Angela Merkel gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Francois Hollande eigene Vorschläge vorlegt, die eine engere Zusammenarbeit in der Euro-Gruppe ohne eine Änderung der europäischen Verträge anstreben, dann kann Juncker das natürlich nicht auf sich sitzen lassen, denn er ist der Präsident der EU. Er bestimmt die Richtlinien der europäischen Politik und nicht Merkel oder Hollande.

Und deshalb holt er in dieser Woche, wo die Medien rauf und runter über die Folgen eines Grexits berichten und die Aktienmärkte nervös zucken, zum Gegenschlag aus. „In enger Zusammenarbeit“ mit Donald Tusk, Jeroen Dijsselbloem, Mario Draghi und Martin Schulz legt er einen 10-Jahresplan zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion Europas vor.

Keiner sollte das ab und an körperliche Schwanken Junckers mit einer geringen geistigen Zielstrebigkeit verwechseln. Er will, aus einem kleinen Land kommend, nicht nur Präsident einer Kommission ohne Land sein, sondern Jean-Claude Juncker will Präsident eines europäischen Superstaates sein. Er will nicht dauernd am Katzentisch der Staats- und Regierungschefs sitzen müssen, sondern vorne – ganz vorne. Er will die Richtlinien der Politik bestimmen, sonst keiner. Dies ist im Kern auch der Duktus des 10-Jahres-Planes der 5 Präsidenten. Sie wollen die Gunst der Krise wieder einmal nutzen, um einen größeren Schluck aus der Zentralismus-Pulle zu nehmen, damit das Ziel der Politischen Union unumkehrbar wird. Spätestens bis 2025 soll die Union ein Hort der Stabilität und des Wohlstandes sein, steht es jetzt geschrieben.

Schon einmal ist dies auf europäischer Ebene versucht worden. Im März 2000 verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der EU in Lissabon ein Programm, das zum Ziel hatte, die EU innerhalb von zehn Jahren, also bis 2010, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Es kam dann doch anders…

Doch vielleicht klappt es ja dieses Mal? Wirtschaftsunion, Finanzunion und Fiskalunion sollen die Grundlage für die Politische Union schaffen. Dafür müsse nationale Souveränität aufgeben und „in zunehmendem Maß gemeinsame Entscheidungen über Teile ihrer jeweiligen nationalen Haushalts- und Wirtschaftspolitik“ akzeptiert werden. Am Ende stehe dann ein Hort der Stabilität und Wohlstandes für alle Bürgerinnen und Bürger der EU-Mitgliedsstaaten, die eine gemeinsame Währung miteinander teilen.

Doch was ist, wenn es nicht klappt? Was ist, wenn die EU als Wirtschaftsraum wie bereits nach dem 10-Jahresplan von Lissabon am Ende nicht zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt geworden ist? Kommt dann der neue 10-Jahres-Plan mit noch mehr Zentralisierung und Machtkonzentration in Brüssel? Vielleicht liegt in der Grundannahme Junckers schon der Fehler, warum es erneut nicht klappt wird. Denn nicht die großen Tanker sind meist erfolgreich, sondern die kleinen und wendigen Boote. Warum sind Länder wie Norwegen, die Schweiz oder Neuseeland vielfach spitze? Zumindest gefühlt liegt Neuseeland am Ende der Welt, die Schweiz hat keine Rohstoffe und die Hälfte des Jahres liegt Schnee und in Norwegen ist es im Winter den ganzen Tag dunkel. Eigentlich keine guten Voraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg. Warum gelingt es ihnen trotz politischer und ökonomischer Übermacht großer Regionen wie die USA oder die EU dennoch viel bessere ökonomische Ergebnisse zu liefern. Vielleicht liegt der Erfolg dieser Länder an ihrer geringen Größe und ihrer Überschaubarkeit. Vielleicht führen der Zentralismus, der Superstaat und der 10-Jahresplan nicht zu Wohlstand, sondern zu Fehlinvestitionen, Arbeitslosigkeit und Verarmung.

Es ist doch entlarvend und bezeichnend, dass im Junckerschen 10-Jahres-Plan nicht einmal die Worte Marktwirtschaft und Wettbewerb vorkommen. Deshalb will ich Juncker und seinen Mannen zurufen, was einer klügsten Köpfe des vergangenen Jahrhunderts, der überzeugte Liberale und Marktwirtschaftler Wilhelm Röpke, über Europa sagte: „Jedes Monolithische, starr Schablonenhafte ist ihm fremd und keine Feststellung ist hier zugleich wahrer wie unbestrittener als die, dass es das Wesen Europas ausmacht, eine Einheit in der Vielheit zu sein, weshalb denn alles Zentralistische Verrat und Vergewaltigung Europas ist, auch im wirtschaftlichen Bereiche.“

Photo: Susanne Nilsson from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Dr. Gérard Bökenkamp, Leiter von Open Europe Berlin

Großbritannien strebt eine Neuverhandlung des Verhältnisses des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union an. Open Europe Berlin sieht darin eine Chance für eine Reform der Europäischen Union als Ganzes, die allen Mitgliedstaaten zu Gute kommt. Stünde am Ende nur eine Art „Britenrabatt“ oder Sonderrechte für Großbritannien, um die Britischen Wähler vor dem Referendum zu besänftigen, wäre eine historische Chance vertan worden.

Deshalb hat unser Partner in Großbritannien Open Europe London eine Blaupause für eine Reform der EU vorgelegt, die mit der klaren Forderung an die Regierung Cameron verbunden ist, die europäische Integration insgesamt auf eine solidere Grundlage zu stellen. Die Reformagenda von Open Europe London identifiziert drei große Reformfelder.

Blueprint

Erstens: Die EU als flexible Gemeinschaft mit verschiedenen Währungen

Die Europäische Union soll dem Prinzip der Flexibilität folgen und die Rechte der Nicht-Eurostaaten achten. Flexibilität heißt in diesem Zusammenhang den Fakt zu akzeptieren, dass die EU die ganze Vielfalt Europas repräsentieren muss. Europa ist ein vielgestaltiger Kontinent, und darin liegt seine Stärke. Dazu gehört auch, dass sich innerhalb der Union Länder mit unterschiedlichen politischen Systemen und Traditionen wiederfinden müssen, die mit dem Integrationsprozess unterschiedliche Ziele verbinden.

Dazu gehört es auch zu akzeptieren, dass Mitglieder der EU der Eurozone nicht angehören wollen oder wegen mangelnder Leistungsfähigkeit auch nicht können. Die EU bleibt ein politischer Raum mit verschiedenen Währungen, in dem der Euro zwar die größte, aber nicht die einzige Währung ist. Das hat auch den Vorteil, dass bei einem möglichen Ausscheiden eines Euromitgliedstaates aus der Währungsunion dieses nicht gezwungen wäre, die EU zu verlassen.

Blueprint1

Zweitens: Binnenmarkt, Freihandel und Abbau von Subventionen

Der zweite große Bereich der Reform besteht in der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der EU und damit der langfristigen Sicherung des Wohlstandes der EU-Bürger. Der europäische Binnenmarkt soll weiter entwickelt werden.

Dazu gehört die Verbesserung der Freizügigkeit für Dienstleistungen in der EU, der Abbau von Barrieren in den Bereichen Energie und Digitales, und die Rückführung überflüssiger Regulierungen.Nach außen soll der Abbau von Handelsbarrieren vorangetrieben und weitere Freihandelsabkommen abgeschlossen werden.

Ebenso sollen die Ausgaben der EU und ihre Subventionspolitik einer Prüfung unterworfen werden. Subventionen sind oft teuer, ineffektiv und schaden oft mehr als dass sie nutzen. Das Gießkannenprinzip sollte deshalb abgeschafft und Hilfen auf die ärmsten Staaten in der EU begrenzt werden.

Blueprint2

Drittens: Die Stärkung der nationalen Parlamente

Open Europe hat verschiedene Bereiche identifiziert, in denen die Kompetenz der nationalen Parlamente gestärkt werden kann. In der Vergangenheit haben die Regierungen den Umweg über die EU oft genutzt, um die demokratische Auseinandersetzung zu umgehen und das Parlament vor vollendete Tatsachen zu stellen. Dieser Weg soll in Zukunft erschwert werden, in dem die Vetoposition der nationalen Parlamente gestärkt wird. Das wird schon im Vorfeld dazu führen, dass die nationalen Parlamente von ihren Regierungen besser einbezogen werden als das bisher der Fall ist.

Ein weiterer Punkt, in dem die Kompetenz der nationalen Parlamente gestärkt werden kann, ist die Regelungsbefugnis über den Zugang zum Sozialstaat. Die Freizügigkeit von EU-Bürgern würde nicht angetastet, aber der Zugang zu sozialen Leistungen würde durch nationale Gesetzgebung geregelt. In Fragen von Justiz und innerer Sicherheit sollte es den Staaten selber überlassen bleiben, wie weit ihre Kooperation in diesen Bereichen reicht.

Blueprint3

Ambitioniert, aber realisierbar

Die Reformagenda, die Open Europe London vorgeschlagen hat, hat den großen Vorzug, dass sie einerseits so weit geht, dass sie zu deutlichen Verbesserungen führt. Gleichzeitig ist sie immer noch so moderat, dass sie nicht auf unüberwindliche Hürden trifft. Anzuerkennen, dass die EU aus Staaten mit unterschiedlichen Zielen, Geschwindigkeiten und Währungen besteht, bedeutet schlicht und einfach politisch zu akzeptieren, was ohnehin Realität in Europa ist.

Es wird oft darauf hingewiesen, dass Vertragsänderungen in der EU der Zustimmung aller nationalen Parlamente bedürfen. Die vorgeschlagene Stärkung der Rolle der Parlamente bei der Annahme der EU-Gesetzgebung und in Fragen des Zugangs zum Sozialstaat dürfte schwerlich einen großen Widerstand in eben diesen Parlamenten rechtfertigen.

Mit den Vorschlägen für den Ausbau des Binnenmarktes, für die Deregulierung und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit liegt außerdem eine positive Agenda für Europa vor. Diese zeigt, dass die Zentralisierung nicht der einzige und keinesfalls der beste Weg ist, um die europäische Integration zu befördern.

Erstmals erschienen auf Open Europe Blog am 11. Juni 2015.