Photo: Joshua Rawson-Harris from Unsplash (CC 0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Doktorand der Volkswirtschaftslehre.

Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung ist die weltweite Einkommensungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. Das ist kein Zufall: Die Einbeziehung von Menschen in armen Ländern in die internationale Arbeitsteilung trägt Früchte.

Einer aktuellen Umfrage in 34 Ländern zu Folge sorgen sich mehr Befragte um Einkommensungleichheit als um die derzeitige Corona-Pandemie. Pessimismus in Hinblick auf Ungleichheit ist demnach am weitesten bei Menschen in Frankreich verbreitet, gefolgt von Spanien, Griechenland und Deutschland.

Wachsende globale Ungleichheit war bis in die 1970er/80er Jahre zu beobachten. Für die Entwicklung der jüngsten Vergangenheit passt das Bild zunehmender globaler Ungleichheit nicht. Die weltweite Einkommensungleichheit ging in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zurück.

Wem der Rückgang der globalen Ungleichheit am Herz liegt, sollte sich für bessere Rahmenbedingungen einsetzen, die Wachstum in armen Ländern befördern und globale Migration erleichtern.

Ungleichheit schwer zu messen

Finanzielle Ungleichheit zu erfassen ist nicht einfach. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob Vermögen oder Einkommen betrachtet werden sollen. Zudem ist es in reichen Ländern einfacher, entsprechende Daten zu erheben. Um Einkommen international zu vergleichen, kann auf verschiedene Erhebungsmethoden zurückgegriffen werden, etwa Haushaltsumfragen, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf oder Konsumangaben aus nationalen Statistiken. Je nach gewählter Methode ergeben sich unterschiedliche Niveaus, aber in der Regel ähnliche Trends.

Drei Entwicklungsphasen der Ungleichheit

Die Entwicklung der weltweiten Ungleichheit lässt sich grob in drei Phasen einteilen. Bis zum Beginn der industriellen Revolution lebten die allermeisten Menschen in extremer Armut, also von umgerechnet weniger als 1,9 Dollar am Tag. So lebten im Jahr 1800 fast 9 von 10 Menschen in extremer Armut. Die globale Einkommensverteilung war relativ gleich. Die Phase bis zur industriellen Revolution kann als „gleich und extrem arm“ zusammengefasst werden.

Gut 175 Jahre später hatte sich das Bild deutlich geändert. Die Situation 1975 kann im Vergleich zu 1800 als „ungleicher, aber weniger arm“ charakterisiert werden. Die globale Ungleichheit hatte deutlich zugenommen und die Verteilung ähnelte der zweihöckrigen Form eines Kamels. Nach wie vor gab es sehr viele Menschen, die unter der Armutsgrenze lebten. Doch im Gegensatz zur vorindustriellen Zeit gab es nun auch einen „Höcker“ jenseits der absoluten Armutsgrenze und der Anteil der Menschen in extremer Armut hatte sich auf die Hälfte der Weltbevölkerung reduziert.

Die aktuellen Daten aus dem Jahr 2019 zeigen dagegen eine Verteilung, die im Vergleich zu den beiden früheren Zeitpunkten als „gleicher und weniger arm“ beschrieben werden kann: Das Kamel ist passé. Die weltweite Einkommensverteilung ist nicht mehr geprägt durch einen „reichen Westen“ und den „armen Rest“, sondern von einer globalen Mittelklasse, die deutlich jenseits der Armutsgrenze zu finden ist. Vor allem durch das wirtschaftliche Wachstum in Asien sind die Einkommen heute gleicher verteilt. Der Großteil dieser Entwicklung entfällt auf die zwei bevölkerungsreichsten Länder der Welt, China und Indien. Es lebt nur noch einer von zehn Menschen in extremer Armut und die Ungleichheit ist deutlich weniger ausgeprägt.

Rückgang seit den 1970er/80er Jahren

Forschungsergebnisse von Hammar und Waldenström (2018) bestätigen den rückläufigen Trend der globalen Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten. Für ihre Untersuchung nutzen die Autoren detaillierte Lohndaten, nicht Durchschnittseinkommen einzelner Länder. So berücksichtigen sie nicht nur Niveauunterschiede zwischen Ländern, sondern auch Ungleichheit innerhalb der untersuchten Länder.

Die Nutzung der Lohndaten spiegelt Ungleichheit auch innerhalb der untersuchten Länder wider, impliziert aber die Vernachlässigung von Kapitaleinkommen. Sie unterschätzen folglich die tatsächliche Ungleichheit, finden aber ähnliche Trendentwicklungen wie Studien, die Kapitaleinkommen berücksichtigen.

Für die Messung der Ungleichheit nutzen Hammar und Waldenström den Gini-Index. Bei diesem Index zeigen niedrigere Werte einen Rückgang der Ungleichheit an. Den Ergebnissen zufolge ist der globale Gini-Index in den 2000er und 2010er Jahren um etwa 15 Punkte gefallen – von 65 auf 50.

Wachstum und internationaler Handel

Hammar und Waldenström finden zudem Hinweise darauf, dass die Einkommenskonvergenz vor allem durch Lohnanstiege in Sektoren stattfand, die traditionell handelbare Güter herstellen und weniger im Dienstleistungssektor. Dies kann als ein Hinweis auf die Bedeutung des Welthandels für die Reduzierung der globalen Ungleichheit interpretiert werden.

Mit Migration gegen globale Ungleichheit

Wie Hammar und Waldenström führt auch der auf globale Ungleichheit spezialisierte Ökonom Branko Milanovic den Rückgang der globalen Ungleichheit zu einem Großteil auf das wirtschaftliche Wachstum in Asien zurück.

Für die 1990er-2000er Jahre beobachtet er relativ hohes Einkommenswachstum in allen globalen Einkommensklassen, außer bei der unteren Mittelklasse industrialisierter Länder.

Zu einem weiteren Rückgang der globalen Ungleichheit kann neben wirtschaftlichem Wachstum auch Migration beitragen, wie Milanovic betont. Menschen in reichen Ländern profitieren von einem „Place Premium“: Das Einkommen wird maßgeblich dadurch bestimmt, in welchem Land Menschen leben. Migrieren Menschen von einem relativ armen Land in ein relativ reiches Land, steigt ihr Einkommen sprunghaft an. Das gilt für Deutsche, die in die Schweiz auswandern ebenso wie für Vietnamesen, die nach Deutschland ziehen.

Um die Akzeptanz von Zuwanderern unter der Bevölkerung relativ reicher Länder zu erhöhen, schlägt Milanovic vor, die Rechte der Migranten relativ zu Staatsbürgern einzuschränken. So könnten Migranten etwa steuerlich anders behandelt werden als Staatsbürger oder der Aufenthalt zur Erwerbszwecken könnte zunächst zeitlich befristet werden.

Gute Entwicklung kein Zufall

Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung ist die weltweite Einkommensungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. Das ist kein Zufall: Die Einbeziehung von Menschen in armen Ländern in die internationale Arbeitsteilung trägt Früchte. Wirtschaftliches Wachstum in armen Ländern hat zum Rückgang der globalen Ungleichheit maßgeblich beigetragen und somit ist vielen Menschen der Ausbruch aus der extremen Armut gelungen. Niedrigere Einwanderungsbarrieren könnten dazu führen, dass Migration zukünftig stärker zur Reduzierung extremer Armut und globaler Ungleichheit beiträgt.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Paolo Bendandi from Unsplash (CC 0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues, und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Es ist durchaus vorstellbar, dass die Rentenleistungen in den nächsten Jahrzehnten weitaus stärker gesenkt werden als heute projiziert – bis die staatliche Rentenversicherung nicht mehr als eine knapp definierte Rumpfversorgung darstellt. Was tun junge Menschen dagegen?

Das Altersvorsorgeverhalten junger Menschen wirkt widersprüchlich: Einerseits ist das Vertrauen in die staatliche, umlagefinanzierte Rente gering. Ausweislich aktueller Umfragen erwartet rund die Hälfte junger Befragter keine nennenswerte Rente aus dieser Quelle zu erhalten. Andererseits reichen die privaten Vorsorgebemühungen nicht aus, um die erwartete Rentenlücke zu schließen.

Während junge Menschen den absehbaren Bedeutungsverlust der umlagefinanzierten Rente allen politischen Stabilisierungsversprechen zum Trotz klar erkennen, herrscht über die Konsequenzen offenbar Unklarheit. Nicht die Stabilisierung der an Attraktivität einbüßenden Umlagefinanzierung, sondern die Chancen eines auf individuellen Beteiligungsvermögen fußenden Rentensystems sollten ins Zentrum der politischen Diskussion rücken.

Geringes Vertrauen in Umlagefinanzierung

Spätestens seit der Wiedervereinigung steht die Stabilisierung der umlagefinanzierten Rente an der Spitze der politischen Agenda. Durch Anhebung des Renteneintrittsalters, Erhöhung der Beiträge und Senkung der Leistungen relativ zum Lohniveau soll den jüngeren Generationen vermittelt werden, dass die Rente „sicher ist“.

Indes deutet wenig daraufhin, dass die Reformbemühungen fruchten: Viele junge Menschen erwarten nicht nur deutlich schlechtere Konditionen, sondern einen Totalausfall der Umlagefinanzierung. So gaben 54 % der Befragten in der Altersgruppe von 20-65 Jahren im Vorsorgereport der Deutschen Bank (November 2019) an, dass sie „über kurz oder lang“ den Zusammenbruch des Umlagesystems erwarten. Zu einem ähnlichen Ergebnis führte eine forsa-Studie im Februar 2019: Unter den 18-29jährigen halten demnach 82 % ihre Rente für „nicht sicher“. Laut einer aktuellen YouGov-Umfrage erwarten 40 % der 25- bis 34jährigen keine Rente aus der Umlagefinanzierung zu erhalten.

Angesichts des grundsätzlich stark ausgeprägten Vertrauens in staatliche Institutionen ist eine solch pessimistische Erwartungshaltung bemerkenswert. Das zentrale Ziel der jüngsten Reformen – das Vertrauen in das Umlagesystem zu stärken – wurde anscheinend verfehlt. Viele junge Menschen gehen nicht von einer schmerzhaften, aber letztlich erfolgsversprechenden Stabilisierung des Umlagesystems aus, sondern von dessen mittelfristigen Wegfall.

Zusammenbruch unwahrscheinlich, Skepsis gerechtfertigt

Ein „Zusammenbruch“ des Umlagesystems im Sinne einer überraschenden Aussetzung aller Leistungsansprüche ist gewiss unwahrscheinlich. Durchaus vorstellbar ist dagegen, dass die Leistungen in den nächsten Jahrzehnten weitaus stärker gesenkt werden als heute projiziert – bis die staatliche Rentenversicherung nicht mehr als eine knapp definierte Rumpfversorgung darstellt.

Die junge Generation hat guten Grund zum Pessimismus: Aufgrund der demographischen Alterung wird das Verhältnis von Arbeitnehmern zu Rentnern auf absehbare Zeit stetig sinken. Da die älteren Generationen einen wachsenden Anteil der Wählerschaft stellen, wird die Politik vor Reformen zulasten heutiger und baldiger Rentner eher zurückschrecken. Wachsen wird dagegen der Anreiz, die Leistungen für jene zu kürzen, deren Rente in ferner Zukunft liegt.

Häufig zitierte Rettungsanker für die Umlagefinanzierung versprechen bei näherer Betrachtung eher eine kurzfristige Linderung: Junge Einwanderer zahlen heute ein, erwerben jedoch gleichzeitig Rentenansprüche. Beamte und Privatversicherte können heute Geld in die Rentenkasse spülen, müssen aber morgen versorgt werden. Ersonnen für eine demographisch junge und wachsende Gesellschaft mit starken Produktivitätswachstum gelangt das Umlagesystem im alternden und langsam wachsenden Deutschland an logische Grenzen, die politisch höchstens hinausgeschoben, jedoch nicht beseitigt werden können, wenn die demografische Entwicklung nicht umgekehrt wird.

Private Vorsorge unzureichend

Aller politischen Reformrhetorik zum Trotz nehmen junge Menschen die Umlagefinanzierung als Auslaufmodell wahr. Angesichts dieser pessimistischen Einschätzung wirft das gering ausgeprägte und wenig renditeorientierte Anlageverhalten der betroffenen Generationen Fragen auf. 2018 sorgten nach Zahlen des Verbands MetallRente nur 48 % der 17- bis 27jährigen überhaupt fürs Alter vor – 2009 waren es noch 55 %.

Wenn sie tatsächlich den Zusammenbruch des Umlagesystems erwarten, müssten junge Menschen dann nicht, allen politischen Hürden zum Trotz, deutlich stärker vorsorgen?

Eine beliebte Erklärung für die gering ausgeprägte Privatvorsorge lautet, dass es schlicht an Informationen über Vorsorgeoptionen mangele. Umfragen verdeutlichen dagegen, dass die Möglichkeiten und Vorzüge privater Vorsorge durchaus bekannt sind. Nie war es einfacher, selbst geringe Mittel lohnend am internationalen Kapitalmarkt anzulegen und vom globalen Wirtschaftswachstum zu profitieren. Die Vorzüge kapitalgedeckter Altersvorsorgesysteme sind gut dokumentiert und haben in vielen anderen Ländern zum Aufbau zukunftsfester Vorsorgesysteme geführt.

Eine weitere Erklärung lautet, dass viele Menschen hinsichtlich langfristiger Vorsorgeentscheidungen zu kurzsichtig planen und das für ihren im Alter erwünschten Lebensstandard erforderliche Sparverhalten systematisch unterschätzen, beziehungsweise die dafür nötigen Konsumeinschnitte nicht hinnehmen wollen. Zwar wird diese sogenannte „Zeitinkosistenz“ oft zur Rechtfertigung vorgeschriebener Mindestsparquoten im Rahmen staatlicher oder privater Vorsorge herangezogen. Es ist jedoch unklar, ob systematische Kurzsichtigkeit bei derart wichtigen Entscheidungen eine maßgebliche Rolle spielt.

Steuerfinanzierung: Langfristig keine Alternative

Möglicherweise drückt die geringe Vorsorgebereitschaft junger Menschen aus, dass zwar der Umlagefinanzierung misstraut wird, nicht aber der Fähigkeit des Staates, geringe eigener Vorsorgebemühungen im Alter aus anderen Quellen zu ergänzen. In der repräsentativen Jugendstudie 2018 des Verbands MetallRente gaben 84 % der nicht privat vorsorgenden Jugendlichen an, dem Staat zuzutrauen, die Lücke im Alter aufzufüllen – „wenn er es wirklich will“.

Präzedenzfälle aus der Vergangenheit stützen diese Erwartung. So hat die Bundesrepublik sowohl nach dem Zweiten Weltkrieg, als auch im Zuge der Wiedervereinigung die Versorgung einer kompletten Rentnergeneration übernommen, ohne dass zuvor entsprechende Einzahlungen stattgefunden hätten.

Eine beliebte Forderung lautet etwa, die Umlagefinanzierung schlicht durch eine Steuerfinanzierung zu ersetzen. Schon heute wird etwa ein Viertel des Rentenaufkommens durch sogenannte Bundeszuschüsse finanziert. Attraktiv ist die Vorstellung einer gänzlich steuerfinanzierten Rente indes nicht, würde sie die derzeitige Abgabenlast bei tendenziell ähnlicher Inzidenz doch lediglich von den Sozialabgaben zur Lohn- und Mehrwertsteuer verlagern. Noch weniger realistisch ist eine Finanzierung über Nischensteuern wie Finanztransaktion-, Erbschaft- oder „Reichen“-Steuern, die bei entsprechendem Aufkommensniveau problematische Anreizeffekte hätten.

Kapitaldeckung fokussieren

Langfristig wird die umlagefinanzierte Rente zu einer Rumpfversorgung schrumpfen. Während junge Menschen diesen Trend als unausweichlich akzeptiert haben, fällt es ihnen schwer, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. 2018 erwarben nur 28 % der jugendlichen Teilnehmer an der Jugendstudie des Verbands MetallRente zwecks Altersvorsorge Aktien – konservative Anlageformen wie das Sparbuch sind noch immer weitaus beliebter.

Grund dafür ist nicht zuletzt ein politischer Diskurs, der am uneinlösbaren Versprechen einer stabilen Umlagefinanzierung festhält – und die Alternative einer kapitalgedeckten Altersvorsorge eher als notwendiges Übel, denn als Chance präsentiert. Der Übergang in ein Vorsorgesystem, das deutlich stärker auf individuellem Kapitalstockaufbau mittels Aktien und anderer Beteiligungstitel basiert, wird umso leichter fallen, je früher die Politik entsprechende Rahmenbedingungen schafft.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Tim Reckmann from Flickr (CC BY 2.0)

Von Fabian Kurz, Doktorand der Volkswirtschaftslehre.

International gehen freie Presse und Rechtsstaatlichkeit auch heute noch Hand in Hand. Länder mit einem hohen Grad an Pressefreiheit sind typischerweise Länder mit einem ausgeprägten Rechtsstaat. Das zeigt der Blick auf die Geschichte wie auf die Gegenwart.

Reporter ohne Grenzen berichtet, dass 2019 weltweit 50 Journalisten getötet und deutlich mehr inhaftiert wurden. Besonders gefährdet sind Journalisten in Ländern, in denen rechtsstaatliche Strukturen vergeblich zu suchen sind. Instabile Länder wie Afghanistan oder das unter dem Bürgerkrieg leidende Syrien, aber auch Hochburgen des Drogenkriegs wie Mexiko sind für Journalisten gefährliche Pflaster.

In Zeiten von Kriegen, Bürgerkriegen und Revolutionen ist die Arbeit von Journalisten nicht nur gefährlich, sondern die freie Berichterstattung insgesamt in Gefahr. Umso interessanter ist die Lage der Pressefreiheit während der griechischen Revolution im 19. Jahrhundert, die Aristides Hatzis in einem neuen IREF Working Paper beleuchtet.

Pressefreiheit heute

Einen systematischen Überblick über den aktuellen Stand der Pressefreiheit erlaubt der World Press Freedom Index 2020 von Reporter ohne Grenzen. Der Index umfasst 180 Länder. Es fließen verschiedene Faktoren ein, wie die Vielfältigkeit der Medien, deren Unabhängigkeit, die Qualität gesetzlicher Rahmenbedingungen oder die Sicherheit von Journalisten.

Sieben der zehn Länder mit dem größten Grad an Pressefreiheit kommen aus Europa. Deutschland verpasst die Top 10 nur knapp und belegt Platz 11. Am schlechtesten schneidet Nordkorea ab. Griechenland belegt den 65. Platz, zwischen Argentinien und Japan. Tendenziell hat sich die griechische Platzierung in den vergangenen Jahren verbessert.

Griechenland in den 1820er Jahren: Revolution, freie Presse

Im März 1821 erhob sich die griechische Bevölkerung gegen die Herrschaft der Osmanen. Aristides Hatzis untersucht in einem neuen IREF Policy Paper die Rolle der Presse während dieser revolutionären Zeit. Im Zentrum steht eine Reihe von Zeitungen, die ab 1824 den öffentlichen Diskurs in Griechenland prägten. Diese Zeitungen wurden alle von britischen Intellektuellen gegründet und herausgegeben. Dabei verfolgten die Zeitungsgründer unterschiedliche Schwerpunkte. Während die einen, allen voran der britische Dichter Lord Byron, vor allem die Anerkennung der griechischen Revolution durch andere Länder Europas voranbringen wollten, stellten andere die Verbreitung liberaler Ideen in Griechenland in den Vordergrund. Dies gelang ihnen auch tatsächlich, wie Hatzis schreibt. Bemerkenswert ist, dass unter den widrigen Umständen einer Revolution die Zeitungen weitestgehend frei agieren konnten.

Die unterschiedlichen Ziele der Zeitungsgründer führten allerdings auch zur ersten Zensur im modernen Griechenland. Die Anhänger, die vornehmlich die internationale Anerkennung Griechenlands erreichen wollten, sahen in dem Treiben ihrer liberaleren Konkurrenz eine Gefahr für die Anerkennung Griechenlands durch die Monarchien Europas. So erreichten sie eine Konfiszierung einer Ausgabe der liberaleren Konkurrenz.

Griechische Zeitungen blieben Hatzis zu Folge über die Zeit der Revolution hinaus kritisch gegenüber jeder Art von Autorität, ausufernder Macht der Monarchie, Premierministern und Regierungen. Sie waren mitentscheidend für die Entstehung moderner staatlicher Strukturen in Griechenland. Auch wenn diese Episode eine Erfolgsgeschichte sowohl für die Pressefreiheit als auch für die Verbreitung liberaler Ideen in Griechenland war, so konnte sie den radikalen Nationalismus im 19. Jahrhundert in Griechenland nicht verhindern, wie Hatzis ausführt.

Freie Presse und demokratischer Rechtsstaat heute

International gehen freie Presse und Rechtsstaatlichkeit auch heute noch Hand in Hand. Länder mit einem hohen Grad an Pressefreiheit sind typischerweise Länder mit einem ausgeprägten Rechtsstaat. Länder, in denen gemäß des World Press Freedom Index die Presse frei berichten kann, haben einen ebenso ausgeprägten Rechtsstaat, wie Daten des Rule of Law Index des World Justice Projects zeigen. In welche Richtung die Kausalität wirkt, ist nicht ganz klar, aber es spricht einiges dafür, dass eine freie Presse politische Macht beschränkt und zum Erhalt des Rechtsstaats beiträgt.

Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit sind eng mit einander verwoben – heute wie früher. Hatzis’ Ergebnisse zur Pressefreiheit während der griechischen Revolution im 19. Jahrhundert sind insofern erstaunlich, als dass sich trotz der widrigen Umstände der Revolutionszeit eine weitgehend freie Presse etablieren konnte.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Hubertl from Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Von Karl von Habsburg, Präsident der Paneuropa-Union Österreich.

Anlässlich seines 60. Geburtstags am 11. Januar hat Karl von Habsburg eine Rede zur Zukunft Europas gehalten, die wir Ihnen hier sehr gerne zugänglich machen.

Ein runder Geburtstag sollte nicht nur ein Grund zum Feiern sein, sondern auch Gelegenheit für eine kritische Betrachtung bieten. Mein Vater hat seine Geburtstage immer auch zum Anlass genommen, um einen kritischen Blick auf die Politik zu werfen, und dabei den Versuch zu unternehmen, die europäische Tagespolitik in einen größeren Kontext zu stellen. In dieser Tradition fange ich natürlich auch gerne mit einem Zitat von ihm an:

„Wer nicht weiß woher er kommt, der weiß auch nicht, wohin er geht, weil er nicht weiß, wo er steht.“ Viele von Ihnen kennen dieses Zitat. Ich nehme dieses Zitat mit Absicht als Einleitung für diese Rede, die unter dem Titel „Rede zur Zukunft Europas“ steht. Denn die heute entscheidende Frage lautet: Können wir die Zukunft Europas gestalten, wenn wir nicht wissen, was die Grundlagen und was die Erfolgsrezepte Europas sind? Und damit meine ich Europa als Ganzes und die Europäische Union im Speziellen. Denn die Europäische Union ist die Keimzelle der so wichtigen europäischen Einigung.

In Europa wurden im vorigen Jahrhundert einige Versuche unternommen, den Himmel auf Erden zu erschaffen: Nationalismus, Nationalsozialismus, Kommunismus, all diese Ideologien sind gescheitert. Sie haben Millionen von Menschen in den gewaltsamen Tod getrieben und massive wirtschaftliche Schäden verursacht. Ideologien sind vermeintliche Heilslehren, die kein Heil bringen können, weil sie sich der Vernunft entziehen. Gerade in Zeiten, in denen die Menschen durch Krisen bedroht sind, werden sie offensichtlich anfällig für solche Heilslehren. In Europa – aber nicht nur hier – halten wir den Frieden und den Wohlstand, den wir seit Ende des Zweiten Weltkriegs innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dann der Europäischen Gemeinschaft und jetzt der Europäischen Union erleben dürfen, für selbstverständlich, oder wollen, dass Frieden und Wohlstand für selbstverständlich gehalten werden.

Krisen haben wir von vornherein ausgeschlossen. Und wenn sie doch kommen – denn ohne Krisen kommt die friedlichste Zeit nicht aus –, dann haben wir auf jenen Wohlfahrtsstaat vertraut, der sich spätestens ab den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, im Westen des Kontinents beginnend, in Europa etabliert hat. Mit einem kritischen Rückblick auf die Zeit, in der ich aufgewachsen bin, möchte ich sagen, wir haben diesen Wohlfahrtsstaat im Schatten des Kalten Krieges entwickelt.

Dass wir diesen Wohlfahrtstaat im Schatten des Kalten Krieges entwickeln konnten, verdanken wir mindestens zwei Umständen. Das eine ist der militärische Schutzschirm, den die westliche Supermacht USA mit der Nato über den westlichen Teil Europas gespannt hat. Österreich, wenn auch nicht Mitglied der Nato, konnte hier auch profitieren. Der zweite Umstand ist jene Politik, die unter dem Begriff „Wirtschaftswunder“ heute noch bekannt ist. Es war eine Politik, für die nicht Planwirtschaft, sondern Marktwirtschaft im Mittelpunkt stand. Der Staat hat Ordnungspolitik betrieben, nicht Interventionspolitik. In Deutschland stand dafür Ludwig Erhard, in Österreich der Raab-Kamitz-Kurs. Eine solide Währungspolitik der deutschen Bundesbank hat mit dazu beigetragen, dass sich ein solider Mittelstand etablieren konnte, der durch Leistung, Sparen und Investieren, sowohl im privaten als auch im unternehmerischen Sinn, dazu beigetragen hat, dass es der nächsten Generation besser ging. Ich sage das in Dankbarkeit und Respekt, erstens weil auch ich dieser Generation angehöre und weil wir zweitens daraus viel lernen können.

Allerdings, und das muss deutlich gesagt werden, sind die Politik des Wirtschaftswunders, also Ordnungspolitik auf der einen Seite, und der Wohlfahrtsstaat auf der anderen Seite, gegensätzliche Konzepte. Die Politik des Wirtschaftswunders basiert auf Eigeninitiative und Leistung. Der Wohlfahrtsstaat ist ein Konzept, um die Bürger – noch dazu mit ihrem eigenen Geld – vom Staat abhängig zu machen.

Die Entwicklung dieses Wohlfahrtsstaates im Schatten des Kalten Krieges hat auch die außenpolitische Kraft der europäischen Länder erlahmen lassen. Eine Entwicklung, die wir sowohl während der Kriege am Balkan in Folge der Auflösung Jugoslawiens beobachten mussten, aber auch bei der Aggression Russlands gegen die Ukraine. Es war für die europäischen Politiker recht bequem, die wirklich wichtigen außenpolitischen Entscheidungen, inklusive der Sicherheitspolitik, den USA zu überlassen.

William S. Schlamm, damals einer der führenden konservativen Publizisten im deutschsprachigen Raum, fasste diese negative Entwicklung in einem „Nachruf auf den Staat“ zusammen. Dieser Nachruf erschien bereits 1978 in der von Schlamm herausgegebenen „Zeitbühne“. Schlamm schreibt: „Als er ein Wohlfahrtsstaat wurde, hat der Staat abgedankt. Denn man kann wohl nicht länger über die Tatsache hinwegsehen, dass kein westlicher Staat noch Politik im klassischen Sinne betreibt – also ein Staat ist. Politik im klassischen Sinne ist die Anwendung legislativer und exekutiver Mittel zur Durchsetzung einer Konzeption – eines deklarierten, fassbaren und in den meisten Fällen außenpolitischen Ziels. Im Westen wurde Staatspolitik zum letzten Male von Charles de Gaulle betrieben; und auch er wurde von seinen Nachfolgern Pompidou und Giscard d`Estaing aufs läppischste widerrufen. In allen anderen Ländern des Westens gab es während der letzten zwanzig Jahre nicht eine einzige Regierung, die Politik im klassischen Sinn betrieben oder auch nur verstanden hätte.“ Schlamm kritisiert dann den Wohlfahrtsstaat als eine politische Gemeinschaft, „deren gesamte staatliche Potenz so völlig in Fürsorgemaßnahmen für das behagliche Publikum verbraucht wurde, dass für Staatspolitik nichts übrig blieb.“

Dieser Wohlfahrtsstaat braucht einen immer größeren Staatsapparat, um die vergemeinschafteten Mittel zu verwalten. Damit verbraucht er aber immer größere Mittel aus dem Steuertopf, um die eigene Bürokratie zu erhalten. Das Ergebnis ist dann das, was der leider fast in Vergessenheit geratene Ökonom Felix Somary in seinen „20 Sozialgesetzen der verkehrten Proportionen“ beschreibt. Im Gesetz Nummer 4 sagt er: „Je mehr Funktionen ein Staat übernimmt, desto schwerer ist seine Verwaltung zu kontrollieren.“ Und er ergänzt im Gesetz Nummer 5: „Je größer und je vielseitiger der Staat, desto einflussloser das Volk.“ Dieser Staat wird also immer mehr zu einer nach innen gerichteten Bürokratie. Um es mit William S. Schlamm zuzuspitzen: „Für die Innenpolitik braucht man gute Buchhalter, für die Außenpolitik Staatsmänner.“

Es ist nicht die Aufgabe von Buchhaltern, um in diesem Beispiel zu bleiben, Geopolitik zu betreiben. Es ist aber Aufgabe einer europäischen Politik, Geopolitik für Europa zu betreiben. Betreibt Europa nicht selbst Geopolitik, betreiben sie andere mit Europa. Und wenn hier der Begriff Europa verwendet wird, dann ist damit auch Europa gemeint, nicht einzelne Nationalstaaten in Europa. In der heutigen politischen Realität hat keines der einzelnen EU-Länder die Kraft, diese Herausforderung alleine zu bewältigen.

Der schon zitierte Krisenseismograph Felix Somary ist auch ein Zeuge dafür, dass die Annahme, im Wohlfahrtsstaat gäbe es keine Krisen mehr, eben nur eine Illusion ist. Eines der sicheren Zeichen für eine Krise ist seiner Analyse nach, eine Politik des billigen Geldes. Dass praktisch alle großen Zentralbanken, im Dienste der Politiker, eine solche Politik des billigen Geldes betreiben, ist nicht zu leugnen. „Je mehr die Ökonomie eine Erhöhung des Zinsfußes verlangt, desto mehr senkt ihn die Politik,“ fasst es Somary in den 20 Sozialgesetzen der verkehrten Proportionen zusammen.

Das Problem dabei ist, dass die Politik heute Krisen nicht mehr meistert, sondern eine neue Krise die alte Krise aus den Medien und damit aus der öffentlichen Debatte verdrängt. Die sogenannte Eurokrise, um ein bekanntes Beispiel zu nennen, ist nach wie vor nicht gelöst. Geschweige denn die Überschuldung der Staaten. Die Corona-Pandemie hat nur alles andere aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt.

Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal auf einem Punkt zurückkommen, den ich am Anfang kurz erwähnt habe, aber noch nicht näher erläutert habe: die Grundlagen Europas, deren wir uns bewusst sein sollten, wenn wir die Zukunft Europas gestalten wollen.

Meistens wird dabei auf die Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Bezug genommen, auf den Schuman-Plan. Allerdings gab es schon kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges eine ganz konkrete Idee für die europäische Einigung, nämlich die Paneuropa-Idee von Richard Coudenhove-Kalergi. Der hat vor fast 100 Jahren die Lage Europas analysiert und aus dieser Lage Schlussfolgerungen gezogen.

1918, das Ende des Ersten Weltkrieges, war eine historische Zäsur für Europa und für die Weltpolitik. Bis dahin gab es eine europäische Ordnung. Nicht in dem Sinne, dass Europa eine politische Einheit gewesen wäre, aber Weltpolitik war gleichbedeutend mit der Politik europäischer Mächte. So lange sie sich in Kongressen zusammenreden konnten, um die Ordnung zu wahren oder eine neue Ordnung zu schaffen, waren die Konflikte zumindest gedrosselt. So konnte Europa in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg einen unglaublichen wirtschaftlichen Aufstieg verzeichnen, der auch durch einen internationalen Handel und eine internationale Arbeitsteilung, also das, was wir heute Globalisierung nennen, befördert wurde. 1918 trat ein, was 1914 keiner der damals führenden Politiker, egal in welchem der beteiligten Länder, je in seine Überlegungen miteinbezogen hatte.

In Mitteleuropa wurde ein über Jahrhunderte gewachsener Kulturraum zerstückelt. Der Nationalismus übernahm das Ruder. 1918 brachte auch das Ende der Idee von übernationalen Staaten. Es wurde aber nicht nur ein Kulturraum zerstückelt, sondern auch ein Wirtschaftsraum. Jeder einzelne Staat versuchte, seine Probleme durch Abschottungspolitik, durch Protektionismus und Nationalismus zu lösen, machte sie aber in Wirklichkeit nur schlimmer.

Was waren nun die Lehren aus der Zäsur von 1918 für Richard Coudenhove-Kalergi? Das in Kleinstaaten zersplitterte Europa würde zum Spielball außereuropäischer Mächte werden – er nannte Russland und die USA –, die Politik des Protektionismus würde den Schaden nur erhöhen, so seine klare Analyse. Deshalb müsse Europa zu einem Zusammenschluss finden, da es ansonsten in einen weiteren verheerenden Krieg stürzen würde. Und wir wissen heute wie klar seine Vision damals in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts war, und was darauf folgte.

Sein Ansatz von damals war geopolitischer Natur. Es ging ihm um die Neufassung einer europäischen Ordnung. Nicht im Sinne eines – wohl auch damals schon – unrealistischen Zurück zur alten Ordnung, sondern im Sinne einer Struktur, die Europa als weltpolitische Handlungseinheit wiederherstellen, und es nicht zu einem Spielball außereuropäischer Mächte machen würde.

Deshalb stand im Zentrum seiner Überlegungen erstens eine europäische Außenpolitik – um auf der Bühne der Weltpolitik nicht von anderen beherrscht zu werden –, zweitens eine europäische Sicherheitspolitik – um in dieser Frage nicht von anderen abhängig und damit dominiert zu werden, oder in einen neuerlichen innereuropäischen Krieg gezogen zu werden –, sowie drittens der Abbau sämtlicher innereuropäischer Zollschranken. Heute würde man das als freien Binnenmarkt bezeichnen, also Europa als eine Zone des Freihandels. Dazu kam damals schon die Überlegung einer gemeinsamen Währung, die in Coudenhoves-Konzept auf dem damals noch existierenden Goldstandard beruhte, und ein europäisches Bundesgericht, also das was wir heute als Europäischen Gerichtshof haben.

Die Freiheit der Bürger, Eigenverantwortung, und ein Staat, der sich auf das Setzen der Rahmenbedingungen im Sinne eines Rechtsstaates beschränkt, waren eine weitere Basis seiner damaligen Überlegungen für die europäische Einigung.

Die europäische Sicherheitspolitik stand als Grundlage auch am Beginn der realen europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wird wohl viel zu wenig darüber nachgedacht, dass es zu den Grundprinzipien der Gründerväter der Europäischen Union gehörte, einen großen Sicherheitsraum zu schaffen, der einen neuerlichen Krieg unter den europäischen Ländern unmöglich machen sollte. Die damalige Teilung Europas durch den Eisernen Vorhang hat es notwendig gemacht, diesen Sicherheitsraum vorerst auf den freien Westen des Kontinents zu beschränken. Den Gründervätern war damals auch bewusst, dass man in der damaligen Situation diesen Sicherheitsraum militärisch und politisch nicht direkt schaffen konnte. Dazu war die politische Lage nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht reif. Deswegen wussten sie, dass es notwendig sein würde, diesen Raum auf einer wirtschaftlichen Ebene zu schaffen, mit dem Ziel, die politischen und auch die sicherheitspolitischen Institutionen folgen zu lassen.

Der Kerngedanke der europäischen Einigung ist die Schaffung einer gemeinsamen Zone der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Dieser Kerngedanke gilt natürlich für ganz Europa, beruht also auf dem Grundsatz, dass jedes europäische Land das Recht haben muss, an dieser europäischen Einigung teilzunehmen. Die Kriterien dafür sind definiert.

Dass die europäische Einigung in ihrer Anfangsphase nur auf den Westen Europas beschränkt war, war der damaligen geopolitischen Lage in Europa geschuldet. Daraus allerdings irgendeine Art Vorrecht der sechs Gründerländer der damaligen Gemeinschaft für Kohle und Stahl abzuleiten, wäre vollkommen abwegig. Man kann den Slowaken, Ukrainern oder Kosovaren nicht vorwerfen, dass sie damals durch einen Eisernen Vorhang von der europäischen Kultur abgeschnitten waren.

Es war also nur logisch, nach dem Fall des Eisernen Vorhanges im Jahr 1989 eine Politik der Erweiterung zu verfolgen, für die man sogar das Schlagwort von der „Wiedervereinigung Europas“ verwendete. Es schien damals so etwas wie eine strategische Orientierung der Politik zu geben.

Über die Parteigrenzen und Staatsgrenzen hinweg – sieht man von einigen Kleinparteien ab – gab es den breiten Konsens, im Sinne eines gesamteuropäischen Ansatzes, jene Länder in die EU zu integrieren, die bisher dazu keine Möglichkeit hatten. Das waren neben den drei neutralen Ländern Finnland, Österreich und Schweden vor allem die mitteleuropäischen Staaten des ehemaligen Ostblocks und ein Teil der Länder des ehemaligen Jugoslawiens. Dabei folgte man einem Ansatz, der schon bei der Aufnahme von Spanien und Portugal galt: Durch die Integration sollten die demokratischen Institutionen gefestigt werden, die Rückkehr zu autoritären Regimen oder totalitären Diktaturen sollte verhindert werden.

Heute geht es um die Integration der sechs Länder Südosteuropas, die noch nicht Mitglied der EU sind. Zurecht hält die EU-Kommission in ihren jüngsten Berichten zur Erweiterung fest, dass die Aufnahme von Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien in die EU eine „geostrategische Investition in Frieden, Sicherheit und Wirtschaftswachstum in ganz Europa ist“. Die geostrategische Bedeutung der Region ist jedem klar, der die Geschichte kennt. Es gibt in der Politik auch kein Vakuum. Wenn Europa sich aus der Region zurückzieht, dann bleibt anderen Mächten umso mehr Spielraum, um ihre Interessen in Südosteuropa zu vertreten. Neben Akteuren wie Russland und Türkei, die schon aus der Geschichte mit der Region und der Politik der Region verbunden sind, ist es heute vor allem China, aber auch beispielsweise Saudi-Arabien mit seinem Wahabismus, das massiven Einfluss ausübt. Die Interessen dieser Akteure decken sich nicht mit den sicherheitspolitischen Interessen Europas.

Seine sicherheitspolitischen Interessen muss Europa selbst formulieren und vertreten.

Und wenn ich Russland und China nenne, dann ist auch klar, dass es da in erster Linie um geopolitische Interessen geht. Das sollten auch jene Mitgliedsländer der EU bedenken, die aus meist kleinlichen nationalen oder gar nationalistischen Interessen heraus Blockaden gegen diese Erweiterung aufbauen.

Wir müssen aber auch in Richtung Osten blicken, wo ein Land wie die Ukraine mit dem Euromaidan oder der Revolution der Würde, wie es auch genannt wird, klar gemacht hat, dass die Bürger dieses Landes ihre Zukunft in Europa und nicht unter russischer Dominanz sehen. Zweifellos gibt es in all diesen Ländern nach wie vor große Probleme, beispielsweise in den Bereichen der Rechtsstaatlichkeit und der Korruption, aber es sind europäische Länder. Wer die europäische Einigung ernst nimmt, muss es für jedes europäische Land möglich machen, der Europäischen Union beizutreten. Deshalb trete ich auch dafür ein, die jetzige Nachbarschaftspolitik gegenüber der Ukraine in eine konkrete Beitrittsperspektivenpolitik zu ändern.

Auch wenn die europäische Perspektive in der Demokratiebewegung in Belarus keine echte Rolle spielt, so gehört es zu unserer Pflicht, diese Demokratiebewegung zu unterstützen, wo es nur geht. Wenn Europa, wenn die EU die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie so betont, dann müssen diese Prinzipien auch gegenüber Belarus gelten.

Aus all dem Gesagten gilt es natürlich Schlussfolgerungen zu ziehen und konkrete Anleitungen für die Politik zu entwickeln. Bevor ich dazu komme, möchte ich aber noch auf zwei Punkte eingehen, die ich ebenfalls als Grundprinzipien Europas bezeichnen möchte, und über die derzeit auch immer wieder heiß diskutiert und gestritten wird.

Das sind die Themen Rechtsstaatlichkeit und Freiheit.

Gehen wir zurück in die griechische Mythologie. Europa war eine wunderschöne phoenizische Prinzessin. Zeus, der griechische Göttervater, verwandelte sich in einen wohlriechenden Stier, um Europa nach Kreta zu entführen. Dort hatten sie gemeinsam einige Kinder. Zwei davon gingen als die gerechtesten Herrscher in die Geschichte Kretas ein, weil sie das Recht respektiert haben.

So gesehen steht die Rechtsstaatlichkeit tatsächlich am Beginn der europäischen Idee.

Dass sie nicht immer selbstverständlich war, ist uns aber aus der Geschichte Europas bekannt. Die sogenannte päpstliche Revolution des 11. bis 13. Jahrhunderts war ein historischer Prozess, der einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung rechtsstaatlicher Prinzipien leistete. Erst der Absolutismus brachte wieder einen Rückschritt. Für die absoluten Herrscher waren nur ihre Untertanen gleich vor dem Gesetz. Mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit sind aber auch die Herrscher selbst ans Recht gebunden. In der neueren Zeit ist für mich der Wiener Kongress so etwas wie die Zäsur, ab der sich in Europa das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt hat. Mit dieser Rechtsstaatlichkeit wurde Europa ein stabiles Fundament gegeben, das damit eine spätere sehr positive Entwicklung ermöglicht hat.

Auf diesem Fundament beruhen weitere Grundpfeiler wie das Privateigentum, die persönliche Haftung für Misserfolg aber auch Erfolge, damit das private Unternehmertum, das auf Innovation setzen muss, um erfolgreich zu sein. Die Rechtssicherheit ist natürlich eine Grundvoraussetzung für Privateigentum, und Privateigentum ist eine Grundvoraussetzung für Wohlstand und für die Schaffung eines Mittelstandes. Der Wohlstand, den Europa damit erwirtschaftet hat, ist sicher auf dieses Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zurückzuführen. Dass sich diese Prinzipien in einer Kultur entwickeln konnten, die ganz eindeutig christlich geprägt ist, ist kein Zufall.

Diese Betonung des Rechts ist deshalb so wichtig, weil gerade in Europa immer wieder Rufe nach einem Primat der Politik laut werden. Die Politik müsse alles regeln. Je mehr sie das tut, umso tiefer aber wird der Konflikt mit dem Recht. Dieser Konflikt wird immer schärfer, weil immer seltener rechtsstaatliche Grundsätze regieren – also die Herrschaft des Rechts -, sondern Machtverhältnisse. Dieser Konflikt wirkt sich langfristig zum Schaden Europas aus.

Ein weiteres Wesenselement der europäischen Identität ist die Freiheit. Um es mit Richard Coudenhove-Kalergi zu sagen: „Das europäische Ideal ist Freiheit – die europäische Geschichte ein einziges langsames Ringen um persönliche, geistige, nationale und soziale Freiheit. Europa wird bestehen, solange es diesen Kampf fortsetzt; sobald es dieses Ideal preisgibt und seiner Mission untreu wird, verliert es seine Seele, seinen Sinn, sein Dasein. Dann hat es seine historische Rolle ausgespielt.“

Die europäische Einigung, die europäische Politik aber sollte nicht das Ziel haben, die historische Rolle Europas auszuspielen, sondern sie zu nutzen!

Freiheit ist nicht selbstverständlich. Freiheit muss immer wieder neu erkämpft werden. Freiheit ist untrennbar mit Verantwortung verbunden. Und diese Verantwortung für die Freiheit können wir nicht an den Staat delegieren.

Um den Begriff der Freiheit zu fassen, muss ich die englische Sprache zu Hilfe zu nehmen. Die kennt nämlich zwei Begriffe für das, was wir Freiheit nennen: Liberty und Freedom. Beide Begriffe bezeichnen etwas anderes. Jemand der die Begriffe sehr gut definiert hat war Murray Rothbard, einer der klassischen Vertreter der Austrian School of Economics. Er hat gesagt: „Living in Liberty allows each of us to fully enjoy our Freedom.“ Also: Nur wenn wir in einem äußeren System der Freiheit leben, können wir die innere Freiheit tatsächlich genießen und ausleben. Liberty im englischen Begriff bezeichnet das äußere Konstrukt der Freiheit, also das was uns den Freiraum tatsächlich schafft, während Freedom die innere Freiheit bedeutet. Also zum Beispiel die Freiheit, dass ich denken kann was ich will. Die innere Freiheit, die mir eigentlich keiner nehmen kann. Um diese innere Freiheit leben zu können, bedarf es eines äußeren Konstruktes. Es ist auch ganz klar, dass dieser Begriff der äußeren Freiheit, the Liberty, eine der wichtigsten Aufgaben der Politik überhaupt ist.

Der Schutz der Freiheit ist also die oberste Aufgabe der Politik. Es ist nicht Machterhalt und Machtausübung, wie uns das heutzutage so gerne vorgeführt wird, sondern Dienst an den ewigen Werten: Recht, Freiheit und Menschlichkeit. Ihre Sicherung ist das Wesen und die Rechtfertigung des Staates. „Die drei Begriffe – Individualismus, Freiheit, Rechtsordnung – sind Ausdruck derselben tieferen Realität, die wir als die geistig-kulturelle Substanz des Europäertums bezeichnen können“, um es mit einer Formulierung meines Vaters Otto von Habsburg zu sagen.

Sie kennen den schönen Ausspruch: Rom wurde nicht an einem Tag erbaut. Auch die europäische Einigung wird nicht an einem Tag vollendet, sie ist ein Prozess, der von Fortschritten und Rückschlägen gekennzeichnet ist. Wichtig ist dabei, dass wir die Grundlagen Europas nicht vergessen, sondern sie immer wieder in die politische Gestaltung einfließen lassen. Und genauso wichtig ist es, die richtigen Schritte zu setzen, um den konkreten Herausforderungen begegnen zu können.

Ich habe vorhin lange über Außen- und Sicherheitspolitik gesprochen, über die Notwendigkeit der EU-Erweiterung und über die geopolitischen Herausforderungen – die nicht weniger werden –, und die Schwächen, die die EU in diesem Bereich nach wie vor hat. Daraus leitet sich auch eine ganz konkrete Forderung ab:

Gerade in dieser Außen- und Sicherheitspolitischen Frage braucht es eine europäische Souveränität. Souveränität bedeutet im konkreten Fall die Fähigkeit zu handeln und zu gestalten. Europäische Politik würde hier vom Potenzial einen eindeutigen Mehrwert gegenüber einer reinen Nationalstaatspolitik bringen. Um es weiter zu präzisieren: Die Europäische Union braucht eine europäische Außenpolitik. Europäische Außenpolitik bedeutet nicht Koordinierung der Außenpolitik von 27 Mitgliedsländern durch den Hohen Vertreter für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (der gleichzeitig auch einer der Vizepräsidenten der Europäischen Kommission ist), und wo einzelne Länder beispielsweise bei wichtigen Fragen wie der Menschenrechtspolitik in China, eine europäische Stellungnahme blockieren können, sondern ein EU-Außenministerium mit einem Außenminister (oder einer Außenministerin) an der Spitze.

Dazu brauchen wir einen Kern einer europäischen Verfassung, in der genau diese außenpolitische Kompetenz für die Europäische Union festgeschrieben wird. Ein Punkt übrigens, der auch allen Anforderungen der Subsidiarität entsprechen würde.

Dass dieser Schritt nicht so einfach sein wird, muss uns allen klar sein. Es wird noch viel Überzeugungsarbeit brauchen, um Europa tatsächlich außenpolitisch aufstellen zu können. Und es wird notwendig sein, eines der größten Hindernisse für eine Einstimmigkeit in der Frage zu erzielen:

Dieses Hindernis ist die Schuldenfrage der öffentlichen Haushalte.

Vielleicht ist der Zusammenhang auf den ersten Blick nicht so klar. Aber wenn wir die immer wiederkehrenden Auseinandersetzungen um Budget, Fonds, oder zuletzt auch die Auseinandersetzungen um einen Rechtstaatlichkeitsmechanismus und Blockaden dazu betrachten, dann ist klar, dass die Frage der Haushalte immer wieder eingesetzt werden kann, um Fortschritte in Einzelbereichen zu blockieren. Man denke auch an das Gespött über die sogenannten frugalen Vier bei den Budgetverhandlungen im Vorjahr.

Auch jene Länder in der EU, die nicht der Eurozone angehören, sind über den Fiskalpakt und die Fragen des EU-Haushaltes mit den Entscheidungen über die finanzielle Zukunft der EU verbunden. Wenn es ums Geld geht, ist immer viel Sprengkraft vorhanden. Ein ungeregeltes Auseinanderbrechen der Eurozone würde wohl die Funktionsweise der gesamten EU massiv beeinträchtigen, wenn nicht sogar ihr Ende bedeuten. Eine Gefahr, die man aufgrund der geopolitischen Herausforderungen auf gar keinen Fall auf die leichte Schulter nehmen sollte.

Wir müssen deshalb ganz konkrete Schritte einer Entschuldung der Eurozone überlegen und vorbereiten.

Der Fiskalpakt, der zu einem Abbau der Schuldenlast hätte führen sollen, ist gescheitert. Trotz gesetzlich festgelegter Schuldenbremsen haben viele europäische Länder höhere Schulden gemacht. Mit der Coronakrise ist diese Lage noch schlimmer geworden. Die EZB konterkariert mit ihrer Politik den Abbau der Schulden. Das betrifft sowohl die Nullzinspolitik als auch den Ankauf von Staatsanleihen. Damit werden keine Anreize zum Abbau von Schulden gesetzt, im Gegenteil, eine höhere Verschuldung wird attraktiv.

Ein sich auf dem Markt frei bildender Zins aber ist notwendig, um eine freie Wirtschaft möglich zu machen. Kann sich der Zins nicht frei bilden, wird die Marktwirtschaft in immer mehr Bereichen der Wirtschaft ausgehebelt und verkommt zu einer politisch gelenkten Staatswirtschaft. Ein Szenario von dem vielleicht sozialistische, planwirtschaftliche Ideologen träumen, das aber garantiert nicht im Interesse eines Europas der Freiheit ist.

Drei Schritte sind aus meiner Sicht notwendig, um eine Entschuldung der Eurozone durchzuführen und danach wieder ein gesundes Wirtschaftssystem zuzulassen. Drei Schritte bedeuten, dass diese drei Schritte auch tatsächlich als Gesamtkonzept umgesetzt werden.

Erstens sollte die EZB die Staatschulden der Euroländer auf ihre Bilanz nehmen. Zweitens müsste sie den Bürgern der Eurozone eine sichere Bankeinlage durch Volldeckung mit Zentralbankgeld ermöglichen sowie einen digitalen Euro als Vollgeld schaffen. Und drittens muss durch die Zulassung von konkurrierenden Privatwährungen marktwirtschaftlicher Abwanderungsdruck erzeugt werden, der den Euro durch die praktische Möglichkeit aus ihm auszuwandern, stabilisiert.

Der erste Schritt wurde, wenn auch nicht in vollem Umfang, bereits von der EZB durch ihr Anleihekaufprogramm begonnen. In dem Augenblick, wo er in vollem Umfang umgesetzt wird, ist der größte Spaltpilz in der EU, die Staatsverschuldung, mit einem Schlag beseitigt. Die anderen beiden Schritte sind notwendig, um den Übergang zu einer marktwirtschaftlichen Geldordnung möglich zu machen. Banken können dann ohne Problem in Konkurs gehen, weil Bankeinlagen durch das Zentralbankgeld nicht untergehen. Der jeweilige Bankkunde muss nur der Abwicklungsbehörde mitteilen, auf welche andere Bank seine Einlage übertragen werden soll.

Wichtig in diesem Konzept ist die Umsetzung aller drei Punkte, wobei zu beachten ist, dass digitaler Euro nicht gleich digitaler Euro ist.

Ideen für einen digitalen Euro wurden auch schon in Publikationen von EZB-Mitarbeitern präsentiert und werden seit Oktober von der EZB intern getestet. Diese Konzepte zielen jedoch nicht auf die Transformation unseres fragilen Geld- und Banksystems hin zu einer marktwirtschaftlichen Geldordnung, sondern sollen im Gegenteil das bestehende fragile Geldsystem erhalten.

Die Digitalisierung wird hier nicht genutzt, um Probleme zu lösen, sondern um Probleme weiter zu verschleppen. Ein solches digitales Zentralbankgeld wäre de facto nichts anderes als der Einstieg in die Abschaffung von Bargeld. Bargeld allerdings ist gelebte Freiheit.

Ein solches Konzept würde vielleicht nach China passen, wo dann eine zentrale Behörde nach irgendwelchen social credit Punkten festlegt, wer was kaufen darf, oder überhaupt etwas kaufen darf oder nicht. Dieses totalitäre Konzept wird durch die Zulassung von konkurrierenden Privatwährungen, wie beispielsweise Kryprowährungen, verhindert.

Bereits im Vorjahr wurde von den europäischen Institutionen Kommission, Parlament und Rat eine Konferenz zur Zukunft Europas angekündigt. Sie soll die wichtigsten Zukunftsfragen für die europäische Einigung besprechen. Völlig unabhängig von solchen Konferenzen ist es immer wichtig, über die Zukunft Europas zu diskutieren, wenn nötig auch kontrovers, und auch mit Ideen und Ansätzen, die vielleicht nicht so auf den Tagesordnungen der Sitzungen der Institutionen stehen.

Auch wenn es momentan ein kleines, aber gefährliches Virus ist, das täglich die Schlagzeilen dominiert, so sollten wir uns mit den notwendigen Reformen beschäftigen.

Auch wenn wir diese Veranstaltung nur digital durchführen können, wenn wir nicht im Anschluss an diese Rede noch bei einem Glas Wein oder Wasser über die Inhalte debattieren können, die Welt um uns herum bleibt nicht stehen. Wenn wir als Europäer unser Schicksaal nicht selber in die Hand nehmen, dann werden es andere für uns tun.

Meine Priorität ist hier ganz klar. Wir müssen die Zukunft Europas selbst gestalten!

Erstmals veröffentlicht bei Paneuropa-Union Österreich.

Literatur

William S. Schlamm „Nachruf auf den Staat“, in „Zeitbühne“, Heft 3, März 1978

Felix Somary „Krise und Zukunft der Demokratie“, TvR Medienverlag 2010

Otto von Habsburg „Mut zur Pflicht“, Patmos Verlag 2011

Entschuldung nach der Corona-Krise – Teil 1

China, USA, Europa. Wer führt nach der Corona-Krise. Entschuldung nach der Corona-Krise – Teil 2

Digitales Zentralbankgeld. Verspielt die EZB gerade eine Chance?

Vermachtung von Sachlichkeit in der Geldpolitik

Währungsverfassungsfragen sind Freiheitsfragen. Mit Kryptowährungen zu einer marktwirtschaftlichen Geldordnung?

Photo: Lux First Cruise (CC BY-ND 2.0)

Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.

Es ist vielfach gerätselt worden, weshalb David Cameron vor der Unterhauswahl von 2015 das Versprechen abgab, im Falle seiner Wiederwahl innerhalb von zwei Jahren ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU abzuhalten. Die gängige Erklärung ist, dass er damit die europapolitischen Meinungsverschiedenheiten in seiner Partei ein für alle mal beenden wollte. Aber wäre ihm das auf diese Weise gelungen? Hätten die Brexiteers endlich Ruhe gegeben?

Plausibler ist eine andere Erklärung. Die Konservative Partei hatte in der vorangegangenen Unterhauswahl von 2010 die Mehrheit der Sitze verfehlt und eine Koalition mit den Liberaldemokraten eingehen müssen. Nicht im Parlament vertreten war mit einem Stimmenanteil von 3,1 Prozent die UK Independence Party (UKIP), die mit der Forderung nach einer Volksabstimmung in den Wahlkampf gezogen war. Aber nachträgliche Berechnungen zeigten, dass die Konservativen eine komfortable Mehrheit der Sitze errungen hätten, wenn die UKIP-Wähler – oder ein großer Teil von ihnen – stattdessen in den einzelnen Wahlkreisen für die konservativen Kandidaten gestimmt hätten. Camerons Ziel musste es daher sein, UKIP bei der nächsten Unterhauswahl den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er tat dies, indem er die UKIP-Forderung nach einer Volksabstimmung übernahm. Zudem konnte er hoffen, der EU in Verhandlungen vor der Volksabstimmung Zugeständnisse zugunsten Großbritanniens abzutrotzen. Beide Ziele erreichte er. Cameron gewann die Wahl von 2015. Seine Entscheidung, ein Referendum über den Verbleib in der EU anzukündigen und abzuhalten, war daher nicht mutwillig, wie manche behauptet haben, sondern – zumindest aus der Sicht eines konservativen Parteiführers – Teil einer ex ante klugen Strategie, zumal damals alle Welt mit einem Sieg der “Remainers” rechnete.

Erklärung des Brexit-Votums

Weshalb siegten in dem Referendum die “Leavers”? Die gängige Erklärung ist, dass die anderen EU-Staaten, insbesondere Bundeskanzlerin Merkel und die Osteuropäer, nicht bereit waren, den Briten eine autonome Einwanderungspolitik zuzugestehen. Dabei wird meist übersehen, dass  sich der britische Unmut über die EU schon über längere Zeit aufgebaut hatte. Denn die Briten waren seit den neunziger Jahren immer wieder in wichtigen Fragen im Rat und Parlament überstimmt worden. Meistens ging es dabei um europäische Arbeits- und Finanzmarktregulierungen, d.h., Eingriffe in die Vertragsfreiheit. Die Regulierungen der EU zwangen Großbritannien, die restriktiveren Regulierungen anderer Mitgliedstaaten, insbesondere Frankreichs, zu übernehmen. Frankreich hat nach einigen Erhebungen die restriktivsten Arbeitsmarktregulierungen in der EU.[1] In den neunziger Jahren wurden die folgenden EU-Arbeitsmarktregulierungen gegen britischen Widerstand beschlossen: die Richtlinie über die Arbeit auf Schiffen (1993), die Arbeitszeitrichtlinie (1993), die Richtlinie über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (1994) und die Richtlinie über die Arbeitsausrüstung (1995). Als Rechtsgrundlage diente der EU der neue Artikel 118a, der 1987 durch die Einheitliche Europäische Akte in den EWG-Vertrag eingefügt worden war und qualifizierte Mehrheitsentscheidungen über Vorschriften für die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zuließ. Die britische Regierung klagte gegen die Arbeitszeitrichtlinie wegen der nicht tragfähigen Rechtsgrundlage. Der Europäische Gerichtshof hielt aber an der Richtlinie fest.

Es folgten europäische Finanzmarktregulierungen, die ebenfalls gegen britischen Widerstand durchgesetzt wurden: 2003 die Richtlinie über Finanzdienstleistungen und 2010 die Verordnungen über die Errichtung der European Banking Authority (EBA), der European Securities Market Authority (ESMA) und einer EU-Regulierungsbehörde für die Versicherungswirtschaft. Als Rechtsgrundlage wählte die EU den Binnenmarktartikel von 1987 (Art. 100a EWGV, heute Art. 114 AEUV), obwohl dieser qualifizierte Mehrheitsentscheidungen nur für Maßnahmen erlaubt, die dazu dienen, “einen Raum, ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital … gewährleistet ist” (Art. 8a EWGV, heute Art. 26 AEUV), herzustellen. Da Unterschiede zwischen den nationalen Finanzmarktregulierungen durchaus mit der Freiheit des Kapitalverkehrs vereinbar sind, sah die britische Regierung keine Rechtsgrundlage für qualifizierte Mehrheitsentscheidungen über EU-Regulierungen der Finanzmärkte (Fahey 2011). Sie strengte eine Musterklage gegen die ESMA-Verordnung an, wurde aber vom Gerichtshof abgewiesen, obwohl ihr der finnische Generalanwalt (Jääskinen) recht gab. David Cameron drohte 2011 damit, den europäischen Fiskalpakt durch sein Veto zu verhindern, wenn Großbritannien nicht wieder die Kontrolle über die City erhalte. Die Eurostaaten vereinbarten aber daraufhin den Fiskalpakt außerhalb des EU-Rechtsrahmens in einem völkerrechtlichen Vertrag ohne Großbritannien.

Die European Banking Authority setzt Standards und kann, wenn sie den Krisenfall ausruft, den nationalen Regulierungsbehörden konkrete Anweisungen erteilen oder sogar einzelne Banken schließen (Art. 18 EBAV). Schon 2009, als Michel Barnier zum EU-Binnenmarktkommissar, zuständig für die Finanzmärkte, ernannt wurde, nahmen Präsident Sarkozy und seine Finanzministerin Christine Lagarde die City of London ins Visier[2], und der französische Finanzmarkt-Rapporteur im Europa-Parlament, Jean-Paul Gauzès, bekannte im Juli 2010 freimütig, es gehe darum, das höhere französische Regulierungsniveau per Mehrheitsentscheidung auf die gesamte EU zu übertragen.[3] In der Politischen Ökonomie wird diese Methode als “Strategy of Raising Rivals’ Costs” bezeichnet.[4] Sie dient der Mehrheit der regulierungsfreudigsten Länder dazu, ihre relative Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Weil dabei der Deregulierungswettbewerb entfällt, steigt das Regulierungsniveau auch in den zur Mehrheit gehörenden Staaten. Auch wenn sich ein Mitglied der Minderheit durch Austritt der Majorisierung entzieht, steigt nach dieser Theorie  das von der Mehrheit durchgesetzte gemeinsame Regulierungsniveau der verbliebenen Mitglieder, weil nun ein regulierungsfreudigeres Mitglied der Mehrheit den Ausschlag gibt. Das austretende Land wird ceteris paribus jeweils der freiheitlichste Mitgliedstaat sein. Tatsächlich hat kein EU-Staat einen weniger regulierten Arbeitsmarkt als Großbritannien.[5]

Nach dem Austritt Großbritanniens werden die in der EU verbliebenen Staaten jedoch einem Deregulierungswettbewerb ausgesetzt sein, der das präferierte Regulierungsniveau in jedem EU-Mitgliedstaat und daher auch das gemeinsame EU-Regulierungsniveau senkt.

Ein Musterbeispiel für die Strategy of Raising Rivals’ Costs war im übrigen die EU-Folgerechtsrichtlinie (2001). Sie verpflichtet den Kunsthandel (Galerien und Auktionshäuser), einen bestimmten Prozentsatz des Verkaufserlöses an die Künstler oder ihre Erben zu zahlen. Das Folgerecht wurde zuerst als “Droit de Suite” in Frankreich, dann in den meisten damaligen EU-Staaten eingeführt – aber nicht in Großbritannien mit seinen berühmten Londoner Auktionshäusern Sotheby’s, Christie’s und Phillips. Die Briten wehrten sich, aber Frankreich setzte die Richtlinie mit qualifizierter Mehrheit durch.

In britischen Zeitungen wurde ausführlich über diese Niederlagen berichtet[6], in deutschen meines Wissens nicht. Es gibt eben keine europäische Öffentlichkeit.

Wenn Großbritannien mit seiner geringen Regulierungsdichte nicht in Brüssel in eine systematische Minderheitsposition geraten wäre, hätte wahrscheinlich nicht eine Mehrheit der Briten für den Austritt gestimmt, denn die Entscheidung war knapp.

Dass die EU-Regulierungen überhaupt mit qualifizierter Mehrheit beschlossen wurden, rechtfertigen Kommission, Rat und Gerichtshof – wie erwähnt – mit zwei Artikeln, die 1987 im Rahmen des Binnenmarktprojekts mit britischer Zustimmung in den Vertrag eingefügt worden waren. Was sich die Briten damals nicht träumen ließen, war, dass diese Artikel so extensiv – nämlich aus den genannten Gründen offenkundig ultra vires – ausgelegt würden. Einer Regulierung der City durch die EU hätte Margaret Thatcher 1987 sicher nicht zustimmen wollen.

Die deutsche Bundesregierung mit ihrem großen Stimmgewicht hätte die Briten vor den französischen Regulierungsattacken schützen können, aber sie tat es nicht. Trotzdem beklagte sie gelegentlich den britischen Austrittswunsch.

Die Verhandlungen

Die Verhandlungen über den Austritt begannen mit einem Paukenschlag: Die 27 in der EU verbleibenden Staaten ernannten Michel Barnier – den Mann, der den Widerstand der City gebrochen hatte, d.h., den in London meistgehassten französischen Politiker – zu ihrem Verhandlungsführer. Für die Briten war das die größtmögliche Provokation. Auch im Folgenden taten die 27 alles, um den Austritt der Briten zu erschweren.

Daran beteiligte sich auch der EU-Gerichtshof. Art. 50  EUV, der das Austrittsverfahren regelt, legt in Absatz 2 fest: “Die Verträge finden auf den betroffenen Staat [d.h. Großbritannien] ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach [dem Austrittsgesuch] keine Anwendung mehr, es sei denn der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.” Die Richter erfanden noch eine weitere Ausnahme: es sei denn, der betroffene Staat zieht sein Austrittsgesuch zurück. Von einer solchen Möglichkeit ist jedoch in den Verträgen nirgends die Rede. Man wollte erreichen, dass die Briten ihr Austrittsgesuch zurückziehen würden.

Theresa May ist kritisiert worden, weil sie es unterlassen habe, vor Einreichung des Austrittsgesuchs die Verhandlungschancen auszuloten. Sie, die nach eigenem Bekunden gegen den Austritt gestimmt hatte, verstand das Votum der Bürger als bedingungslose Aufforderung zum Austritt. War es nicht so gemeint?

Wie ist es zu erklären, dass die 27 zusammenhielten und Barniers französische Verhandlungslinie vorbehaltlos unterstützten? Alle 27 hatten ein fiskalisches Interesse, den Austritt des britischen Nettozahlers zu verhindern. Aber auch nachdem das Austrittsabkommen längst beschlossene Sache war, weigerten sich Barnier und die 27, Großbritannien ein Freihandelsabkommen zuzugestehen, wie sie es mit Kanada geschlossen hatten. Denn sonst hätten die Binnenmarktmitglieder Norwegen und Island, vielleicht sogar die Schweiz, vergleichbare Konditionen fordern können. Manfred Weber (CSU), der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei im Europa-Parlament, gab sogar die Losung aus: “Der Brexit darf kein Erfolg werden”. In letzter Konsequenz war dies die Forderung nach einer destruktiven Verhandlungsstrategie: den Briten sollte der größtmögliche Schaden zugefügt werden. Man wollte ein Exempel statuieren, damit nicht noch andere Staaten austreten. Anscheinend hält man die Gefahr für groß. Ein Zeichen der Stärke ist das nicht.

Dass man sich schließlich doch auf einen “Deal” geeinigt hat, ist wahrscheinlich einer gut organisierten Interessengruppe zu verdanken: den französischen Fischern. Die Briten haben durchgesetzt, dass sie zukünftige Arbeitsmarktregulierungen der EU nicht übernehmen müssen und dass die City nicht mehr von EU-Institutionen reguliert werden kann. Auch die Folgerechtsabgabe für den Kunsthandel können sie wieder abschaffen. Der Gerichtshof der EU wird in Großbritannien nichts mehr zu sagen haben, und auch an den Schiedsverfahren zwischen Großbritannien und der EU wird er nicht beteiligt sein.

Literatur:

Adema, Joop, Yvonne Giesing, Anne Schönauer, Tanja Sitteneder (2018), “Minimum Wages Across Countries”, ifo Dice Report 4/2018, S. 55 – 63.

Boockmann, Bernhard, and Roland Vaubel (2009), “The Theory of Raising Rivals’ Costs and Evidence from the International Labor Organization”, The World Economy 32, 862-87.

Fahey, Elaine (2011), “Does the Emperor have financial crisis clothes?”, Modern Law Review 74: 581-95.

OECD (2015), Employment Protection Legislation, Organization for Economic Cooperation and Development, Paris.

Salop, Susan C., and David T. Scheffman (1983), “Raising Rivals’ Costs”, American Economic Review 73: 267-71.

Stigler, George J. (1970), “Director’s Law of Public Income Redistribution”, Journal of Law and Economics 13: 1-10.

Vaubel, Roland (2008), “The Political Economy of Labor Market Regulation by the European Union”, Review of International Organizations 3: 435-465.

Vaubel, Roland (2020), “Frankreich als Problem für Europa”, in: Hardy Bouillon, Carlos A. Gebauer (Hg.), Freiheit in Geschichte und Gegenwart, Lau-Verlag: Reinbek, 185-218 (eine kürzere Fassung ist am 03.05.19 unter demselben Titel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen).

[1] Vgl. Adema et al. (2018), Table 1, OECD (2015) und die Auswertung in Vaubel (2020), Tab. 5 und 6.

[2] Nach einem Bericht der Times vom 02.12.09 hatte Sarkozy gesagt: „Do you know what it means for me to see for the first time in 50 years a French European Commissioner in charge of the internal market, including financial services, including the City? I want to see the victory of the European model, which has nothing to do with the excesses of financial capitalism“.  Zwei Tage später zitierte die Financial Times Ministerin Lagarde: „We need a City that plays by different rules“.

[3] Gauzès: „Dans un pays comme la France, il y a une vraie tradition de surveillance des institutions financières. L’avantage d’une supervision européenne serait d’étendre les mêmes règles partout“ (Le Figaro, 07.07.2010).

[4] Die Idee scheint von George Stigler (1970) zu stammen, der dabei auf die amerikanische Mindestlohngesetzgebung Bezug nimmt. Der Begriff findet sich wohl zuerst in Salop und Scheffman (1983). Boockmann und Vaubel (2009) präsentieren ein formales Modell der Strategie und eine Übersicht der wichtigsten empirischen Analysen (von P.V. Fishback, E. Landes, H.P. Marvel, S. Oster, P.E. Teske et al.). Bernholz und Vaubel (2007) haben einen Konferenzband herausgegeben, der Fallstudien für verschiedene Bundesstaaten (USA, Kanada, Schweiz, Deutschland) enthält.

[5] Vgl. Vaubel (2008), Table 5, eine Übersicht über vier Indices der Arbeitsmarktregulierung (OECD, Botero et al., Gwartney/Lawson und Nickell/Nunziata). Nach diesen Indizes hat jedoch nicht Frankreich, sondern Portugal die restriktivsten Arbeitsmarktregulierungen.

[6] Vgl. Fußnote 2.

Erstmals erschienen auf dem Blog Ökonomenstimme.