Photo: Mika Baumeister from Unsplash (CC 0)

Von Robert Benkens, Lehrer für Deutsch und Politik-Wirtschaft an der Liebfrauenschule Oldenburg.

„Die Zivilisation wird innerhalb von 15 oder 30 Jahren enden, wenn nicht sofort Maßnahmen gegen die Probleme der Menschheit ergriffen werden“, schrieb 1970 der Biologe und Nobelpreisträger George Wald von der Harvard University. Ähnlich klangen Paul Ehrlich in seinem Buch „Die Bevölkerungsbombe“ von 1968 oder Dennis Meadows, der 1972 über „Die Grenzen des Wachstums“ schrieb. Die ARD bringt Öko-Science-Fiction zur besten Sendezeit. Extinction Rebellion glaubt, dass bald sechs Milliarden Menschen an Hunger zugrunde gehen werden.

Und nun die Fakten. Im Jahre 1820 lebten 94 Prozent der Menschheit in Armut, heute sind es acht Prozent. Allein in den letzten 30 Jahren hat sich die Zahl halbiert. Mit mehr Wohlstand sanken die Geburtenraten, Menschen zogen in die Städte, die nur ein Prozent der Landfläche ausmachen. Sie konnten Geld in Bildung, Sanitäranlagen und Medizin investieren. 1820 konnten zwölf von 100 Menschen lesen, heute sind es 85.

Der Anteil derer, die Zugang zu sauberem Wasser haben, ist in den vergangenen 30 Jahren von 58 Prozent auf rund 75 Prozent gestiegen, gleichzeitig sterben immer weniger Menschen an Luftverschmutzung. Die Kindersterblichkeit ist von erschreckend hohen 43 Prozent auf vier Prozent gefallen, die Lebenserwartung hat sich innerhalb von 100 Jahren in Deutschland nahezu verdoppelt. Die Erde wird grüner, die Blattfläche hat um fünf Prozent zugenommen, was allen Amazonas-Wäldern entspricht. Auch Hunger, Kinderarbeit und die Zahl der Opfer von Kriegen und Naturkatastrophen sind deutlich gesunken. Und das alles bei einem rasanten Anstieg der Weltbevölkerung.

Alle kennen Greenpeace – aber keiner Human Progress

Warum stehen diese Trends nicht im Mittelpunkt der Lehrpläne und Medienberichte? Alle kennen Greenpeace – aber keiner Onlineplattformen wie Human Progress oder Wikiprogress. Wenn Jugendliche denken, die Welt werde immer schlechter, verfallen sie in Resignation oder glauben, dass „unser Wirtschaftsmodell“ überwunden werden müsse. Zitat Greta Thunberg: „Wie könnt Ihr es wagen zu glauben, dass man das lösen kann, indem man so weitermacht wie bislang – und mit ein paar technischen Lösungsansätzen?“

Dieses Postwachstumsdenken steht für ein gesellschaftliches Klima, in dem der Aufstieg des Westens als ein Verhängnis empfunden wird. Dabei hat die westliche Zivilisation ein Maß an Wohlstand und Freiheit in der Welt begründet, das seinesgleichen sucht – während in den meisten nicht-westlichen Gesellschaften Armut und Unterdrückung herrschen. Erst der Übergang von regionaler Selbstversorgung zu globaler Arbeitsteilung, von der Plan- zur Marktwirtschaft sowie der Ausbruch aus Energiearmut und Nullwachstum haben die produktiven Grundlagen für Freizeit und Kultur, steigende Löhne, Arbeits- und Umweltstandards gelegt und zivilisatorische Errungenschaften wie öffentliche Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen finanzierbar gemacht. Davor lebten die Menschen keineswegs „im Einklang mit der Natur“, sie starben im Einklang mit ihr – wie der schwedische Forscher Hans Rosling einst bemerkte.

Heute wollen viele Intellektuelle jedoch das Wachstum herunterfahren. Dabei hat die Corona-Krise uns eine leise Ahnung davon vermittelt, was das heißt: Allein der erste Shutdown hat laut Weltbank 150 Millionen Menschen zurück in die Armut gestürzt. Auch im Kampf gegen Malaria oder Tuberkulose gab es Rückschläge.

Klimaschutz muss man sich leisten können

Zweifellos führt Wirtschaftswachstum oft zu Raubbau an der Natur. Aber es befreit auch aus ihren Zwängen und legt Grundlagen für ihre Erholung. Wenn Menschen ein gewisses Wohlstandsniveau erreichen, haben sie genügend Zeit und Geld, sich um ihre Umwelt zu kümmern. Klimaschutz muss man sich leisten können. Menschen in unterentwickelten Ländern leben in und von der Natur und damit in ständiger Konkurrenz zu ihr. Statt auf Kunstdünger, Pflanzenschutz, Traktoren oder Gas müssen sie auf Brandrodungen und Holz zurückgreifen, um ihre Äcker zu bestellen, Häuser und Feuerstellen zu heizen. Das führt zu massivem Druck auf Wälder und Wildtiere, während Wälder im Westen, aber auch in China und Indien dank flächeneffizienter Landwirtschaft und strengem Naturschutz wieder wachsen.

Der MIT-Ökonom Andrew McAfee schreibt in „More from Less“ eindrucksvoll, wie wirtschaftlicher Fortschritt Umweltschutz ermöglicht. Statt aber Unternehmer- und Forschergeist für bahnbrechende Technologien wie Clean Meat, Carbon Capture, Aqua oder Vertical Farming zu wecken, wird Schülerinnen und Schülern nicht nur am „Earth Overshoot Day“ erklärt, dass wir drei Erden bräuchten, würden alle so leben wie sie. Auf Grundlage einseitiger Modelle werden wie schon bei früheren Untergangsprognosen aktuelle Probleme in die Zukunft extrapoliert, ohne das Entdeckungspotenzial des Menschen zu berücksichtigen.

WELT-Autor Axel Bojanowski spricht von der „Noble Cause Corruption“ – Journalisten würden nur über Trends berichten, die in ihr Weltbild passen. Exemplarisch: Obwohl Medien von „beispiellosen Bränden“ schrieben, waren die Brände in Kalifornien vor der Ankunft der Europäer um ein Zigfaches größer. In Australien wüteten noch in den 1960er- und 1970er-Jahren Brände, die um das Sechsfache größer waren, und insgesamt ist die verbrannte Fläche weltweit laut Nasa seit 2000 sogar um 25 Prozent gesunken.

Es geht um Verhältnismäßigkeit

Das heißt ausdrücklich nicht, dass wir uns zurücklehnen können. Aber ähnlich wie bei Corona geht es um die Verhältnismäßigkeit. Ein „Business as usual“ könnte große Schäden anrichten, aber ein globaler Shutdown würde sofort einen Rückfall in die Armut bedeuten. Wenn man für technologische Lösungen eintritt, drückt man sich nicht um die Klimafrage, sondern schafft Grundlagen für eine realistische Lösung. Stattdessen zu lehren, der Klimawandel sei das Ende der Menschheit, und nur die erneuerbaren Energien, Wachstumsverzicht und regionaler Öko-Landbau könnten uns davor retten, ist grob verkürzt.

Wenn Schüler lernen, dass der Klimawandel ein Problem ist, dass Durchschnittstemperaturen und Meeresspiegel steigen, sollte ergänzt werden, dass laut Weltklimarat IPCC keine signifikanten Steigerungen bei Wirbelstürmen oder Dürren zu verzeichnen sind, dass die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen bis 2050 mit weiter steigenden Ernten rechnet und die Zahl der Opfer von Extremwetter um über 90 Prozent gesunken ist.

Wenn Schüler sehen, wie übermäßiger Fleischkonsum Regenwälder bedroht und sie deshalb auf Öko-Landbau setzen, sollten sie auch wissen, dass dieser wegen der Ertragsverluste nie die Weltbevölkerung ernähren könnte und dass er aufgrund des höheren Flächenverbrauchs eine schwächere Ökobilanz bei Artenvielfalt, Wasserverschmutzung und Emissionen hat. Schließlich gibt es dank Biotechnologie Lösungen für Probleme der intensiven Landwirtschaft, da sie den Bedarf an Fläche, Dünger und Pestiziden weiter reduzieren kann.

Schüler sollten erfahren können, dass Deutschland wie kein zweites Land Milliarden in Solar- und Windanlagen pumpt, aber dennoch zu den größten CO2-Emittenten gehört, während Großbritannien mit dem verpönten Fracking viel größere Reduktionserfolge verzeichnet, ebenso Frankreich mit einer Energiequelle, aus der Deutschland aussteigt, obwohl diese laut der Plattform „Our World in Data“ zu den sichersten Arten der Energieerzeugung gehört.

Wenn uns in Dokumentationen miserable Arbeitsbedingungen in vielen Sweatshops Bangladeschs eindrücklich vor Augen geführt werden, um Handlungsdruck auf Konzerne zu erzeugen, sollte auch aufgezeigt werden, dass die Armut in diesen Ländern deutlich zurückgegangen ist, während die Lebenserwartung stieg und sich die Bildungsmöglichkeiten verbesserten.

Seit Jahrzehnten ist es fünf vor zwölf

Wenn junge Aktivisten für den Schutz von Klima und Umwelt auf die Straße gehen und dabei „Burn Capitalism, Not Coal!“ skandieren, könnten sie im Unterricht aufgeklärt werden, dass die Menschen in der DDR nicht nur ärmer und unfreier waren, sondern dass auch die Emissionen deutlich höher waren und Flüsse und Luft verdreckten, während all dies in der kapitalistischen Bundesrepublik immer besser wurde.

„Die Welt wird in zwölf Jahren untergehen, wenn wir den Klimawandel nicht angehen“, sagte die Abgeordnete im US-Kongress Alexandria Ocasio-Cortez vor zwei Jahren. Seit Jahrzehnten ist es fünf vor zwölf – egal ob bei der „Überbevölkerung“, dem „Ressourcenende“, der „Massenverarmung“ oder dem „Waldsterben“. Viele Prognosen haben sich dabei als falsch oder übertrieben herausgestellt. Dabei ist nicht das Aufzeigen sozialer oder ökologischer Missstände das Problem, es ist die moralisierende Belehrung, dass wir zur Lösung „zurück zur Natur“ müssten und weg vom „Fortschrittsglauben“. Solche Verzichtsappelle werden angesichts von Milliarden Menschen, die auch ein gutes Leben wollen, wenig bewirken.

Im Gegenteil: Der wirtschaftliche Fortschritt ermöglicht ihnen nicht nur ein längeres und besseres Leben, sondern auch, dass der Wald zurückkommt, Gewässer und Luft sauberer werden und Emissionen wieder sinken – weil die Menschen Zeit haben, sich um die Natur zu sorgen und Kapital in die Entwicklung einer effizienten Land- und Energiewirtschaft zu investieren, in klimaschonende Innovationen, Anpassung an den Klimawandel oder auch in Pandemiebekämpfung. Bis für Pocken und Polio Impfungen gefunden wurden, dauerte es 3300 Jahre, bei Röteln waren es 350 Jahre, bei Ebola fünf, und bei Corona dauerte es weniger als ein Jahr. Es ist Zeit für rationalen Optimismus – nicht nur in den Schulen.

Erstmals erschienen in der Welt.

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Von Dr. Benedikt Koehler, Schriftsteller, bis zu seinem Ruhestand im Bankenbereich tätig.

Der zweihundertste Todestag Napoleons am 5. Mai 2021 bietet Anlass, darüber nachzudenken, was aus seinem Anspruch wurde, Europa in einem Imperium zu vereinen. 1804 krönte sich Napoleon Bonaparte zum Kaiser, 1806 löste er das Heilige Römische Reich auf, 1810 heiratete er die Tochter des österreichischen Kaisers, um das alte Reich in sein neues zu integrieren. Er starb 1821, aber seine Träume vom Imperium lebten weiter. In den letzten 200 Jahren hat Europa viele weitere Kaiser kommen und gehen sehen, und erst 1945 wurden die Träume von Imperien in Europa endgültig diskreditiert.

Unabsehbares Leid hätte vermieden werden können, wenn die Europäer die Vorschläge beherzigt hätten, die der dänische Schriftsteller Konrad von Schmidt-Phiseldeck (1770-1832) im Todesjahr Napoleons veröffentlichte. Sein Buch „Der europäische Bund“ liest sich wie eine Blaupause für die Europäische Union.

Schmidt-Phiseldecks vorheriges Buch „Europa und Amerika“ wies darauf hin, dass die Amerikanische Revolution bessere Ergebnisse gezeitigt hatte als die Französische Revolution. Amerika war „mächtig durch die Fülle seiner Freiheiten, dennoch vereint unter einem gemeinsamen Band“, und die amerikanische Gesellschaft hatte ein „mehr materielles Gefühl und ausschließliche Aufmerksamkeit auf den Erwerb von weltlichem Reichtum, was einen unruhigen und unsteten Lebenslauf bewirkt“. Die Amerikaner würden die Vorherrschaft über Europa erlangen, weil „Europa, wenn es in seiner jetzigen Form weiterbesteht, nicht ohne Amerika auskommen kann, während Amerika andererseits keinen Bedarf nach Europa hat“. In Europa verschwendeten Kriege Ressourcen. In Amerika schuf die Expansion Wohlstand.

In dem Buch „Der europäische Bund“ forderte er seine kontinentalen Leser auf, sich ihrer Verehrung für Napoleon zu entledigen und sich an Adam Smith zu orientieren. Das Erbe von zwei Jahrzehnten napoleonischer Kriege war ein Kontinent, der in wachstumsschwachen Volkswirtschaften gefangen war. Folglich sollten die Europäer es so einfach machen, innerhalb Europas Arbeit zu finden, wie es für Amerikaner innerhalb der Vereinigten Staaten war. Mit anderen Worten: Europa sollte ein gemeinsamer Markt werden. Die Werke von Adam Smith boten die richtigen Rezepte: Staatsverschuldung begrenzen, Zölle verbieten und Freizügigkeit ermöglichen. Um all dies zu verwirklichen, war ein institutioneller Rahmen erforderlich. Zu diesen Institutionen gehörten eine europäische Versammlung, ein europäischer Gerichtshof und eine gemeinsame Staatsbürgerschaft. Aber Schmidt-Phiseldecks Ratschläge waren seiner Zeit zu weit voraus, um von den Eliten beachtet zu werden, die eher dem Zauber Napoleons folgten als Adam Smith zuzuhören.

Die postnapoleonische Staatskunst in Europa konzentrierte sich darauf, eine weitere Französische Revolution zu verhindern, und hätte im Idealfall gerne die Uhren zurück in die Welt des ancien régime gedreht. Doch das Zeitalter der Dynastien war vorbei, das Zeitalter der Nationen war gekommen – die Träume vom Imperium lebten jedoch weiter. Frankreich rief 1851 Napoleon III. als Kaiser des Zweiten Reiche aus, Deutschland 1871 Wilhelm I. als Kaiser des Deutschen Reiches, Großbritannien 1876 Königin Victoria als Kaiserin von Indien und Oberhaupt des British Empire. Der Werdegang dieser Reiche ähnelte dem von Napoleon. Sie blühten auf, wurden kriegerisch, bis sie schließlich durch Krieg untergingen: Der Deutsch-Französische Krieg von 1871 beendete das Zweite Reich, der Erste Weltkrieg das Deutsche Reich, der Zweite Weltkrieg das Britische Empire.

Der Zweite Weltkrieg verwandelte die Träume von Imperien in Europa in einen Albtraum. Schmidt-Phiseldecks Vorhersage, dass Imperien in Kriegen endeten, die Siegern und Besiegten gleichermaßen ungeheure Verluste zufügten, war eingetreten. Nach 1945 gaben die Europäer endlich die Vorstellung von einer europäischen „Ordnung“ auf, die an die Grenzen dessen ging, was die einzelnen Nationen ertragen konnten, und 1956 machten die Römischen Verträge den Weg frei für den Aufbau der Europäischen Union. Im Jahr 2021 ist vieles von der Vision Schmidt-Phiseldecks Wirklichkeit geworden: ein gemeinsamer Markt, ein gemeinsamer Gerichtshof und eine gemeinsame Staatsbürgerschaft. Frieden und Wohlstand kamen nach Europa, indem wir von der Amerikanischen statt von der Französischen Revolution lernten, einen gemeinsamen Markt statt eines gemeinsamen Imperiums aufbauten und Adam Smith statt Napoleon folgten.

Erstmals erschienen bei The Article.

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In einem neuen IREF Working Paper argumentieren David Stadelmann und Gustavo Torrens gegen paternalistische Schlussfolgerungen aus der verhaltensökonomischen Forschung und zeigen Alternativen auf. Die Ergebnisse der Autoren können als Warnung vor allzu leichtfertigen Eingriffen des Staates in individuelle Entscheidungen verstanden werden.

Irren ist menschlich

Ökonominnen und Ökonomen untersuchen das Verhalten von Menschen seit Jahrzehnten in kontrollierten Laborexperimenten. Regelmäßig weisen die experimentellen Ergebnisse darauf hin, dass Menschen sich nicht vollständig rational verhalten. Der Vergleichspunkt für das beobachtete Verhalten ist in der Regel das Model des Homo Oeconomicus, der sich annahmegemäß unter anderem dadurch auszeichnet, dass er stets die eigenen Interessen verfolgt und alle verfügbaren Informationen in seine Entscheidungen einfließen lässt. Experimentelle Ergebnisse, die demonstrieren, dass Menschen sich nicht immer so verhalten, wie es das Bild vom rationalen Homo Oeconomicus erwarten lässt, werden nach Ansicht von Stadelmann und Torrens gerne als Argumente für staatlichen Paternalismus angeführt.

Delegieren statt Paternalismus

Darauf entgegnen Stadelmann und Torrens, dass sich staatlicher Paternalismus nicht immer als vorzuziehende Antwort auf das Unvermögen von Menschen, rationale Entscheidungen zu fällen, aufdrängt. Menschen nutzen freiwillige Mechanismen, um sich vor den Konsequenzen eigener systematischer Fehlentscheidungen zu schützen, wenn sie die Möglichkeit haben, so die beiden Autoren. Märkte stellten diese Mechanismen regelmäßig zur Verfügung – ganz ohne staatliches Eingreifen. Stadelmann und Torrens diskutieren zahlreiche Beispiele für Entscheidungen, die an andere Individuen delegiert werden können, die ihrerseits die Fähigkeiten oder technologischen Möglichkeiten haben, Menschen vor ihrem eigenen irrationalen Verhalten zu schützen.

Sie führen die Beauftragung von Anwälten als ein Beispiel an. Menschen greifen nicht nur mangels juristischen Wissens auf Anwälte zurück. Juristische Laien gehen auch davon aus, dass Anwälte im Interesse ihrer Mandanten handeln, wenn diese auf sich allein gestellt zu ihrem eigenen Nachteil einlenken würden.

Konsequent zu bleiben fällt vielen schwer, sonst gäbe es unter anderem die Vielzahl angebotener Diäten nicht. Zahlreiche Anbieter geben Kunden auf unterschiedliche Weise Hilfestellungen, ihr inkonsequentes Verhalten in Bezug auf Ernährung und Bewegung zu überwinden, wie Stadelmann und Torrens ausführen. Dieses Beispiel hat in Deutschland auch politische Relevanz. So gibt es seit Jahren eine öffentliche Diskussion, ob der Staat etwa durch Kennzeichnung von ungesunden Lebensmitteln der Ernährung der Bürger auf die Sprünge helfen sollte.

Stadelmann und Torrens präsentieren außerdem Beispiele aus dem Bereich der Süchte. Für Alkoholabhängige gibt es etwa Mittel, die bei Alkoholkonsum heftige Übelkeit auslösen. Raucherpflaster oder spezielle Kaugummis seien zudem Instrumente, die ganz ohne staatlichen Eingriff Menschen helfen.

One size fits all?

Die Beispiele von Stadelmann und Torrens zeigen: Menschen sind fehlbar. Sie sind sich dieser Tatsache jedoch häufig bewusst und bleiben entsprechend nicht untätig. Mit Unterstützung des Einfallsreichtums anderer können sie sich teilweise vor der eigenen Irrationalität schützen.

Die Lösungen sind dabei so vielfältig und individuell wie die Menschen selbst. Hier liegt nach Ansicht der Autoren des Working Papers die große Stärke von Marktlösungen im Vergleich zu staatlichem Paternalismus: individuelle Lösungen für individuelle Probleme. Staatliche Lösungen können nicht in gleichem Maße individuelle Gegebenheiten adressieren und geben Innovationen weniger Raum.

Wettbewerb fördern

Stadelmann und Torrens resümieren, dass Marktlösungen staatlichen Lösungen überlegen sind – nicht in allen Fällen, aber in vielen. Ganz ohne paternalistisch einzugreifen solle der Staat einen Beitrag leisten, indem er die Märkte für Delegationsdienstleistungen offenhält. Der Wettbewerb zwischen alternativen Lösungen für Probleme von Menschen – auch für solche, die aus weniger als perfekter Rationalität erwachsen – würde so befördert werden.

Erstmals erschienen bei IREF.

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Von Alexander Horn, Geschäftsführer von Novo Argumente und Unternehmensberater. Zuletzt erschien sein Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.

Die EU hat eine neue Handelsstrategie und gibt sich freihandelsliebend. Tatsächlich stehen wettbewerbsschwache EU-Unternehmen unter Bestandsschutz. Knallharter Protektionismus ist die Folge.

Die Corona-Krise könnte „zum Beschleuniger von Trends wie Protektionismus oder der Entstehung von konkurrierenden geoökonomischen Blöcken werden“, warnte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) vor einigen Monaten.[1] Allerdings hätten schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie „globale Handelskonflikte, neue Zölle und Handelsbarrieren zunehmend die Realität der außenwirtschaftlich orientierten Unternehmen in Deutschland bestimmt“. Hinzu komme nun, dass die Staaten durch die zahlreichen Corona-Rettungsmaßnahmen einen „wettbewerbsverzerrenden Subventionswettlauf“ gestartet haben und zu „wichtigen Wirtschaftsakteuren“ werden. Die Politik rufe nach „Industriestrategien, … Buy local Vorgaben … sowie nach staatlich gelenkter Rückverlagerung der Industrieproduktion“. Mit dieser Lagebeurteilung steht die Interessenvertretung der gewerblichen Wirtschaft nicht allein, denn viele Wirtschaftsvertreter, Ökonomen und Politiker warnen spätestens seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 vor diesen Trends.

 Zölle unbedeutend

Vor diesem Hintergrund hat die EU-Kommission nun die europäische Handelsstrategie der nächsten Jahre festgelegt. Protektionismus wird eine klare Absage erteilt. Der EU-Handelskommissar Vladis Dombrovskis betont im Gegenteil, die EU bräuchte einen „offenen, regelbasierten Handel, um in der Zeit nach der Pandemie einen Beitrag zur Ankurbelung von Wachstum und Beschäftigung zu leisten.“ [2] Protektionismus sei die Sache anderer Staaten. Daher enthalte die neue Handelsstrategie geeignete „Instrumente zur Abwehr unlauterer Handelspraktiken“, mit denen man einen Kurs im Zeichen von „Offenheit, Nachhaltigkeit und Durchsetzungsfähigkeit“ verfolge. Die EU sei, so zeigt ein Factsheet zur Strategie, eine „offene Wirtschaft“, deren durchschnittliches Zollniveau – ähnlich wie das anderer entwickelter Länder – bei nur 5,1 Prozent liege. China oder Indien beispielsweise hätten ein deutlich höheres Zollniveau und zudem würden diese Länder, gedeckt durch WTO-Regularien, oft noch viel höhere Zölle erheben.[3]

Die Bewertung protektionistischer Trends erfolgt traditionell im Wesentlichen auf Grundlage des Zollniveaus und von Handelsbarrieren. Da es in Jahrzehnten gelang, das globale handelsgewichtete Zollniveau auf nur noch etwa fünf Prozent zu drücken und dieses Niveau auch nach der Finanzkrise 2008 in etwa gehalten wurde, scheint der globale Trend in Richtung offener Märkte wenig beeinträchtigt.[4] Die EU kann sich so als Vorreiter eines freien Welthandels präsentieren. Umgekehrt gilt der vom ehemaligen US-Präsidenten Trump angezettelte Handelsstreit als Paradebeispiel für Protektionismus, denn er hat das Zollniveau zwischen den USA und China deutlich erhöht.[5] Durch die Fokussierung auf Zölle und Handelsbeschränkungen wird die Dynamik protektionistischer Trends wie auch der Umfang längst etablierter Maßnahmen, die inländische Unternehmen beschützen, jedoch krass unterschätzt. Besonders eklatant ist die Diskrepanz zwischen freihändlerischer Rhetorik und protektionistischer Praxis in den entwickelten Volkswirtschaften, vor allem in der EU.

Viel zu lange schon hielten die G20-Länder die „diplomatische Fiktion aufrecht“, Protektionismus sei gebändigt, schreibt die auf das Monitoring des Welthandels spezialisierte Organisation Global Trade Alert (GTA). Die Regierungen, so die Autoren einer GTA-Studie, „haben ihre Aktivitäten nur auf andere Politikfelder verschoben“.[6] Importzölle waren 2016 nur noch für weniger als zehn Prozent der Handelsverzerrungen verantwortlich, so GTA, denn „staatliche Finanzhilfen, nicht Importbeschränkungen“, sind das Haupt-Tätigkeitsfeld zur Protektion der heimischen Wirtschaft.[7]

Der zunehmende Protektionismus hat sich in einer veränderten Form sogenannter „nicht-tarifärer Handelshemmnisse“ durchgesetzt. Er beruht vor allem auf Maßnahmen, die direkt die inländische Wirtschaft betreffen, also „hinter der Grenze“ wirken. Dazu gehören technische und Produkt-Standards, Klima-, Umweltschutz- sowie Gesundheits- und Sicherheitsregulierung, der Schutz vor ausländischen Übernahmen, Steuern oder Abgaben für ausländische Unternehmen und vor allem Subventionen (also Finanzhilfen und Steuererleichterungen) für inländische Unternehmen.

Globalistischer Protektionismus

Diese moderne Form des Protektionismus wird in Europa nicht in der Sprache des merkantilistischen Nationalismus gehüllt, der sich Trump bedient hatte. Die Europäer erreichen das gleiche Resultat, indem sie ihren Protektionismus globalistisch begründen, also auf übergeordnete Prinzipien und Normen setzen, die von supranationalen Institutionen wie der WTO etwa im Rahmen von Handelsregulierung durchgesetzt werden. Als Vehikel hierfür dient den Europäern die EU. Typisch für die unkritische Haltung gegenüber diesem globalistisch verbrämten Protektionismus ist die Auffassung des DIHK. So sieht dessen Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben eine große Rolle der EU darin, „faire und gleiche Bedingungen, also ein internationales Level Playing Field“ zu schaffen. Unter diesem Label forciert die EU jedoch ihre protektionistische Ausrichtung. Das geschieht, indem mit immer neuen Regeln und Standards „faire und gleiche Bedingungen“ im Binnenmarkt etabliert werden, die jedoch ausländischen Wettbewerbern den Marktzugang erschweren. In anderen Fällen werden inländische Subventionen mit der Herstellung „gleicher Wettbewerbsbedingungen“ begründet.

So lässt der französische Industrie- und Binnenmarktkommissar der EU, Thierry Breton, kaum eine Gelegenheit aus, um deutlich zu machen, dass nicht der Wettbewerb geschützt werden müsse, sondern europäische Unternehmen vor diesem. So gehe es nicht um niedrige Preise für die Verbraucher, sondern um den Schutz der Unternehmen, was er als Forderungen nach mehr „Beschäftigung, Fortschritt und Souveränität“ verklausuliert.[8] Über Twitter erklärte er, die von der EU aufgenommenen Schulden für das 750 Milliarden Euro schwere Wiederaufbauprogramm sollten durch zusätzliche Steuern an den Außengrenzen des Binnenmarktes finanziert werden.[9] Die EU plant die Einführung einer Digitalsteuer, die vor allem amerikanische Tech-Giganten wie Apple oder Google treffen soll.[10] Eine neue CO2-Abgabe soll nun auf Importe von Ländern mit weniger scharfen Klimaschutzzielen erhoben werden.[11] „Wir sehen in der EU unter deutsch-französischer Führung einen Paradigmenwechsel. Wir sehen einen zunehmenden Protektionismus, der den Wettbewerb schwächt“, warnt Lars Feld, der wegen seiner wirtschaftsliberalen Ansichten bei der Bundesregierung in Ungnade gefallen war und den Vorsitz im Sachverständigenrat aufgeben musste.[12]

Die EU ihrerseits nutzt das wirtschaftliche Gewicht des Binnenmarkts inzwischen sogar, um anderen Staaten und Regionen die Bedingungen zu diktieren, unter denen diese in ihren heimischen Ländern produzieren müssen. Typisch hierfür ist das von der Bundesregierung nun auf den Weg gebrachte Lieferkettengesetz, dessen Verschärfung die EU-Kommission schon für dieses Jahr anstrebt. Hiesige Unternehmen sollen für die Unterschreitung europäischer Umwelt- und Sozialstandards innerhalb ihrer ausländischen Lieferketten haften. Das läuft darauf hinaus, wettbewerbliche Vorteile weniger entwickelter Länder zu eliminieren. Bereits in der EU produzierende Unternehmen werden so begünstigt und stärker internationalisierte Unternehmen zur Regionalisierung ihrer Wertschöpfungsketten gedrängt.

Protektionistische Abwärtsspirale

Der Protektionismus Europas ist jedoch längst nicht mehr nur eine Option. Er ist für viele Unternehmen existenziell geworden, denn sie sind aufgrund der jahrzehntelangen Erosion ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf wirtschaftliche Rahmenbedingungen angewiesen, die ihnen das Überleben ermöglichen. Viel zu lange hat man mit Hilfe wirtschaftspolitischer Stabilisierungsmaßnahmen darauf hingearbeitet, Krisen zu dämpfen und dadurch inländische Unternehmen zu schützen. Die dauerhafte Bewahrung auch wenig profitabler Unternehmen hat zu einer schleichenden Zombifizierung der Wirtschaft geführt. Im Kern resultiert dies daraus, dass unprofitable Unternehmen nicht durch ordnungspolitische Rahmensetzungen zur Restrukturierung oder zur Aufgabe gezwungen sind. Da deren Kapital erhalten bleibt, bläht sich die gesamtwirtschaftliche Kapitalbasis künstlich auf und schmälert die Profitabilität auch der besser aufgestellten Wettbewerber. In ganz Europa sind daher die Investitionen der Unternehmen im Verhältnis zur ihrer Wertschöpfung schon seit Jahrzehnten rückläufig. Das hat, mangels kapitalintensiver Einführung produktivitätssteigernder Technologien, zu einer Erosion der Wettbewerbsfähigkeit geführt.

Die seit den 1970er Jahren wirtschaftspolitisch dominierende Stabilitätsorientierung hat die Wirtschaft so umfassend geschwächt, dass immer durchgreifendere Maßnahmen erforderlich sind, um etablierte Unternehmen zu schützen. Allein in Deutschland fließen jährlich mehr als 200 Milliarden Euro wirtschaftliche Subventionen, das sind etwa 2500 Euro pro Kopf der Bevölkerung.[13] Diese Wirtschaftspolitik wirkt gegenüber ausländischen Wettbewerbern zwangsläufig protektionistisch. Die EU steckt daher in einer selbstgestellten Protektionismus-Falle: Um die immer weniger wettbewerbliche europäische Wirtschaft vor einer tiefen Krise zu bewahren, müssen protektionistische Maßnahmen in Form von Regulierung, Finanzhilfen, Subventionen, Steuersenkungen, Konjunktur- und Rettungsprogrammen oder etwa die Niedrigzinspolitik kontinuierlich ausgebaut werden.

Die Leidtragenden dieses EU-Protektionismus sind die Erwerbstätigen in Europa. Seit der Finanzkrise 2008 erreichen die vor allzu hartem globalem Wettbewerb geschützten Unternehmen nur noch marginale Arbeitsproduktivitätssteigerungen. Da Reallöhne von der Produktivitätsentwicklung abhängen, steigen sie seit den 1990er Jahren in den entwickelten Volkswirtschaften und auch in Deutschland kaum noch.[14] Zudem sind in Europa viele Jobs in alten Industrien weggefallen und zu wenig neue Jobs entstanden, weil die Unternehmen anderswo investieren.

Es gibt zu wenige Kritiker, die diesen Zusammenhang herstellen. So gelingt es der EU und der Bundesregierung mit Leichtigkeit, eine glaubwürdig erscheinende freihändlerische Perspektive zu formulieren und dabei so tun, als ob die Bedrohung von Jobs und Wohlstand von unfairen Handelspraktiken anderer Länder ausginge. Diese Probleme sind jedoch hausgemacht, denn die Wirtschaftspolitik zielt immer konsequenter auf Erhalt und nicht die notwendige Restrukturierung wettbewerbsschwacher Unternehmen.

So wetzt der mächtigste Handelspolitiker Europas und gleichzeitig der Vertreter des mächtigsten Handelsblocks der Welt, EU-Kommissar Vladis Dombrovskis, die Säbel. Er provoziert keinen öffentlichen Aufschrei, wenn er die EU als Garant eines „offenen, regelbasierten Handels“ darstellt und anderen droht, dass die neue Handelsstrategie geeignete „Instrumente zur Abwehr unlauterer Handelspraktiken“ und zur „Durchsetzungsfähigkeit“ der EU biete. Leider formulieren wenige so klar wie der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Gabriel Felbermayr, dass die Hauptverantwortlichen für den weltweit zunehmenden Protektionismus keineswegs in der US-Regierung oder kommunistischen Führung Chinas zu suchen seien. Die EU, so Felbermayr, betreibe „zunehmend eine Wirtschaftspolitik, die zulasten von Drittstaaten“ gehe.[15] Hinzuzufügen wäre noch, dass sie auf dem Rücken und zum Nachteil der Erwerbstätigen in Europa betrieben wird.


[1] „Die Globalisierung nach Corona“, Deutscher Industrie- und Handelskammertag, August 2020, https://www.dihk.de/resource/blob/22580/7b8e5a5f09066d49605295f6afa3ac8c/going-international-2020-data.pdf

[2] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_644

[3] https://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2021/february/tradoc_159431.pdf

[4] https://www.bpb.de/politik/wirtschaft/freihandel/274498/die-wto-ist-nicht-tot

[5] https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2020/heft/5/beitrag/wto-die-hueterin-des-welthandels-in-der-krise.html

[6] Simon J. Evenett / Johannes Fritz: „Will Awe Trump Rules?“ in: „The 21st Global Trade Alert Report”, 2017, S. 6. https://www.globaltradealert.org/reports/42

[7] Ebd., S. 25.

[8] Werner Mussler: „Kampf um die Wettbewerbspolitik“ in:  F.A.Z., 09.03.2020, S. 17.

[9] Dorothea Siems: „In der ‚Protektionismus-Falle´ – auch Deutschland schadet dem Welthandel“, Welt online, 04.08.2020. (https://www.welt.de/wirtschaft/article212794329/In-der-Protektionismus-Falle-auch-Deutschland-schadet-dem-Welthandel.html)

[10] Matthias Bauer: „Digitalsteuer: Wirtschaftspopulismus unter dem Deckmantel fairer Besteuerung?“, INSM Ökonomenblog, 20.03.2018. (https://www.insm-oekonomenblog.de/18429-digitalsteuer-eu-kommission-wirtschaftspopulismus/)

[11] Susanne Dröge: „Die CO2-Grenzabgabe der EU – Klima- oder Fiskalpolitik?“, Stiftung Wissenschaft und Politik online, 03.08.2020. (https://www.swp-berlin.org/publikation/die-co2-grenzabgabe-der-eu-klima-oder-fiskalpolitik/#:~:text=Wenn%20es%20nach%20den%20Staats,Produktion%20der%20eingef%C3%BChrten%20G%C3%BCter%20anf%C3%A4llt)

[12] „Schutz vor Wettbewerb hilft nicht“ in: F.A.Z. 20.08.2020, S. 16.

[13] https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/kieler-beitraege-zur-wirtschaftspolitik/kieler-subventionsbericht-2020-subventionen-auf-dem-vormarsch-0/

[14] ILO, Global Wage Report 2018/19, S. 3.

[15] Dorothea Siems: „In der ‚Protektionismus-Falle´ – auch Deutschland schadet dem Welthandel“, Welt online, 04.08.2020. (https://www.welt.de/wirtschaft/article212794329/In-der-Protektionismus-Falle-auch-Deutschland-schadet-dem-Welthandel.html)

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Von Prof. Dr. Thomas Mayer, Kuratoriumsvorsitzender von Prometheus und Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute.

Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union nennt „Rechtsstaatlichkeit“ als einen der Werte, auf den sich die Union gründet. Damit schmückt sie sich gerne. Aber der Schmuck verblasst und die Heuchelei nimmt zu.

Im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat sind die Regierungen und die Verwaltung Recht und Gesetz unterworfen. Laut Friedrich von Hayek entwickelt sich das Recht über die Zeit aus dem Rechtsempfinden der Mitglieder der freiheitlichen Gesellschaft. Es wird vom Parlament in Gesetze gefasst, aus denen bei Streitfällen Gerichte Recht „finden“. Recht kann also nicht von Gesetzgebern aus politischer Zweckmäßigkeit „erfunden“ und Gesetze können nicht von Gerichten politisch zweckmäßig ausgelegt werden. Insbesondere dürfen vom Bundestag verabschiedete Gesetze dem Grundgesetz, die unserer Freiheitsordnung das Gerüst gibt, nicht widersprechen.

Doch die politischen Organe der Europäischen Union und die Mehrheit deutscher Politiker neigen immer stärker dazu, Recht und Gesetz politisch zweckmäßig auszulegen und anzuwenden, um sich den von Recht und Gesetz beabsichtigten Handlungsbeschränkungen zu entziehen. Dadurch verliert die Union schleichend ihre Rechtsstaatlichkeit. „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande?“ Leider scheinen viele Europapolitiker diese Warnung Augustinus von Hippo nicht zu kennen, oder nicht ernst zu nehmen.

Politische Zweckmäßigkeit bestimmt den Umgang mit europäischem Recht gegenwärtig auf den Gebieten der Geldpolitik und Fiskalpolitik. Artikel 123 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union verbietet der Europäischen Zentralbank den unmittelbaren Erwerb von Schuldtiteln der Mitgliedsstaaten des Euroraums. Die Absicht dieser rechtlich bindenden Vorschrift ist es, die monetäre Finanzierung von Staatsschulden der Euroländer zu verbieten. Nicht verboten ist der EZB, Staatsanleihen im Rahmen der Offenmarktpolitik zu geldpolitischen Zwecken im Sekundärmarkt zu handeln. Offenmarktgeschäfte können getätigt werden, um über Veränderungen der Marktzinsen die Kreditgeschäfte der Banken zur Erzielung von Preisstabilität zu beeinflussen. Sie sind aber nicht legitim, wenn dadurch die Neuverschuldung der Staaten finanziert, Staatsanleihen bis zur Fälligkeit gehalten und bei Rückzahlung durch Ankäufe neuer Anleihen ersetzt werden.

Genau dies aber unternimmt die EZB im Rahmen ihrer Ankaufprogramme für Staatsanleihen. Mit den Programmen signalisiert sie den Anleihehändlern der Banken, dass sie neu emittierte Anleihen im Sekundärmarkt aufkaufen wird. Damit umgeht sie das Verbot direkter Käufe im Primärmarkt. Sie hat im Jahr 2020 95,5 Prozent der von Eurostaaten neu emittierten Anleihen aufgekauft und versprochen, diese Anleihen über Jahre zu halten. Hat sie im Rahmen des Kaufprogramms für öffentliche Anleihen PSPP die Käufe auf die einzelnen Staaten noch nach den Anteilen dieser Staaten an ihrem Eigenkapital aufgeteilt, kauft sie im Rahmen des Pandemie Notfallprogramms PEPP die Anleihen mit dem Ziel, den jeweiligen Staaten günstige Konditionen für die Finanzierung ihrer Schuldenaufnahme zu schaffen.

Dazu hat sie letztes Jahr in Italien 17 Prozent und in Spanien 13 Prozent mehr Staatsanleihen aufgekauft als von diesen Staaten neu emittiert wurden. Inzwischen hält die EZB 21 Prozent der gesamten Schuld der Eurostaaten auf ihrer Bilanz. Von einem Plan, wie sie die gewaltigen Anleihebestände ohne schwere Marktverwerfungen jemals wieder verkaufen kann, ist nichts bekannt. Beim Deutschen Bundesverfassungsgericht sind mehrere Klagen gegen die Anleihekäufe der EZB anhängig. Es wird mit gesundem Menschverstand nicht mehr nachvollziehbare, juristische Verrenkungen der Richter brauchen, um die EZB vom Vorwurf der monetären Staatsfinanzierung freizusprechen.

Laut Artikel 310 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union muss die Union ihren Haushalt ausgleichen. Sie darf keine Rechtsakte erlassen, ohne sichergestellt zu haben, dass die damit verbundenen Ausgaben unter Einhaltung des mehrjährigen Finanzrahmens mit Eigenmitteln finanziert werden können. Und als ob dies nicht genug wäre, wiederholt Artikel 311: „Der Haushalt wird unbeschadet der sonstigen Einnahmen vollständig aus Eigenmitteln finanziert.“ Nun hat aber der Europäische Rat beschlossen, den EU-Wiederaufbaufonds durch die Aufnahme von Schulden der Union zu finanzieren.

Man sollte meinen, dass dies offensichtlich rechtswidrig ist. Doch steht in Artikel 311 auch, dass die Union das System der Eigenmittel ändern und neue Kategorien von Eigenmitteln einführen kann. Bisher gehören zu den Eigenmitteln Zolleinnahmen und die Mitgliedsbeiträge der EU-Staaten. Wie Roland Vaubel im Blog Wirtschaftliche Freiheit schreibt, scheint die EU nun dem „System der Eigenmittel“ eine neue Kategorie hinzufügen zu wollen, die Fremdfinanzierung zum System der Eigenmittel zählt, weil die Fremdfinanzierung ja später mal mit Eigenmitteln zurückgezahlt werden soll.

Diese Art der Gesetzesauslegung kommt dem „Double Think“ in George Orwells Roman „1984“ sehr nahe. Der Widerspruch zwischen Eigenmitteln und Fremdmitteln wird aufgelöst, indem Fremdmittel über scheinlogische Winkelzüge in Eigenmittel umgemünzt werden. Dennoch stimmte der Bundestag am 25. März mit großer Mehrheit der Ratifizierung des in bestem Orwellschem „Double Speak“ bezeichneten „Eigenmittelbeschluss“ des Europäischen Rats zu. Der Bundespräsident konnte nur durch einen am 26. März eilig ausgefertigten „Hängebeschluss“ des Bundesverfassungsgerichts von der Unterzeichnung und damit Inkraftsetzung des Ratifizierungsgesetzes abgehalten werden.

Allerdings geht kaum ein Beobachter davon aus, dass sich das Bundesverfassungsgericht trauen wird, der Europäischen Union die Schuldenaufnahme zu verwehren. Staaten wie Italien und Spanien, die von dem Wiederaufbaufonds hohe Transfers zu erwarten haben, könnten im Verbund mit Frankreich einen kalten Krieg innerhalb der EU gegen Deutschland organisieren. Wie beim zu erwartenden Freispruch der EZB vom Rechtsbruch durch Staatsfinanzierung kann deshalb nur mit Spannung erwartet werden, mit welchem „Double Think“ und „Double Speak“ die Richter der „Rechtsstaatlichkeit“ der Europäischen Union auch auf dem Feld der Fiskalpolitik Genüge tun werden.

Erstmals veröffentlicht bei Flossbach von Storch Research Institute.