Photo: A_Peach from Flickr (CC BY 2.0)

Von Prof. Dr. Thomas Mayer, Kuratoriumsvorsitzender von Prometheus und Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute.

Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union nennt „Rechtsstaatlichkeit“ als einen der Werte, auf den sich die Union gründet. Damit schmückt sie sich gerne. Aber der Schmuck verblasst und die Heuchelei nimmt zu.

Im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat sind die Regierungen und die Verwaltung Recht und Gesetz unterworfen. Laut Friedrich von Hayek entwickelt sich das Recht über die Zeit aus dem Rechtsempfinden der Mitglieder der freiheitlichen Gesellschaft. Es wird vom Parlament in Gesetze gefasst, aus denen bei Streitfällen Gerichte Recht „finden“. Recht kann also nicht von Gesetzgebern aus politischer Zweckmäßigkeit „erfunden“ und Gesetze können nicht von Gerichten politisch zweckmäßig ausgelegt werden. Insbesondere dürfen vom Bundestag verabschiedete Gesetze dem Grundgesetz, die unserer Freiheitsordnung das Gerüst gibt, nicht widersprechen.

Doch die politischen Organe der Europäischen Union und die Mehrheit deutscher Politiker neigen immer stärker dazu, Recht und Gesetz politisch zweckmäßig auszulegen und anzuwenden, um sich den von Recht und Gesetz beabsichtigten Handlungsbeschränkungen zu entziehen. Dadurch verliert die Union schleichend ihre Rechtsstaatlichkeit. „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande?“ Leider scheinen viele Europapolitiker diese Warnung Augustinus von Hippo nicht zu kennen, oder nicht ernst zu nehmen.

Politische Zweckmäßigkeit bestimmt den Umgang mit europäischem Recht gegenwärtig auf den Gebieten der Geldpolitik und Fiskalpolitik. Artikel 123 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union verbietet der Europäischen Zentralbank den unmittelbaren Erwerb von Schuldtiteln der Mitgliedsstaaten des Euroraums. Die Absicht dieser rechtlich bindenden Vorschrift ist es, die monetäre Finanzierung von Staatsschulden der Euroländer zu verbieten. Nicht verboten ist der EZB, Staatsanleihen im Rahmen der Offenmarktpolitik zu geldpolitischen Zwecken im Sekundärmarkt zu handeln. Offenmarktgeschäfte können getätigt werden, um über Veränderungen der Marktzinsen die Kreditgeschäfte der Banken zur Erzielung von Preisstabilität zu beeinflussen. Sie sind aber nicht legitim, wenn dadurch die Neuverschuldung der Staaten finanziert, Staatsanleihen bis zur Fälligkeit gehalten und bei Rückzahlung durch Ankäufe neuer Anleihen ersetzt werden.

Genau dies aber unternimmt die EZB im Rahmen ihrer Ankaufprogramme für Staatsanleihen. Mit den Programmen signalisiert sie den Anleihehändlern der Banken, dass sie neu emittierte Anleihen im Sekundärmarkt aufkaufen wird. Damit umgeht sie das Verbot direkter Käufe im Primärmarkt. Sie hat im Jahr 2020 95,5 Prozent der von Eurostaaten neu emittierten Anleihen aufgekauft und versprochen, diese Anleihen über Jahre zu halten. Hat sie im Rahmen des Kaufprogramms für öffentliche Anleihen PSPP die Käufe auf die einzelnen Staaten noch nach den Anteilen dieser Staaten an ihrem Eigenkapital aufgeteilt, kauft sie im Rahmen des Pandemie Notfallprogramms PEPP die Anleihen mit dem Ziel, den jeweiligen Staaten günstige Konditionen für die Finanzierung ihrer Schuldenaufnahme zu schaffen.

Dazu hat sie letztes Jahr in Italien 17 Prozent und in Spanien 13 Prozent mehr Staatsanleihen aufgekauft als von diesen Staaten neu emittiert wurden. Inzwischen hält die EZB 21 Prozent der gesamten Schuld der Eurostaaten auf ihrer Bilanz. Von einem Plan, wie sie die gewaltigen Anleihebestände ohne schwere Marktverwerfungen jemals wieder verkaufen kann, ist nichts bekannt. Beim Deutschen Bundesverfassungsgericht sind mehrere Klagen gegen die Anleihekäufe der EZB anhängig. Es wird mit gesundem Menschverstand nicht mehr nachvollziehbare, juristische Verrenkungen der Richter brauchen, um die EZB vom Vorwurf der monetären Staatsfinanzierung freizusprechen.

Laut Artikel 310 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union muss die Union ihren Haushalt ausgleichen. Sie darf keine Rechtsakte erlassen, ohne sichergestellt zu haben, dass die damit verbundenen Ausgaben unter Einhaltung des mehrjährigen Finanzrahmens mit Eigenmitteln finanziert werden können. Und als ob dies nicht genug wäre, wiederholt Artikel 311: „Der Haushalt wird unbeschadet der sonstigen Einnahmen vollständig aus Eigenmitteln finanziert.“ Nun hat aber der Europäische Rat beschlossen, den EU-Wiederaufbaufonds durch die Aufnahme von Schulden der Union zu finanzieren.

Man sollte meinen, dass dies offensichtlich rechtswidrig ist. Doch steht in Artikel 311 auch, dass die Union das System der Eigenmittel ändern und neue Kategorien von Eigenmitteln einführen kann. Bisher gehören zu den Eigenmitteln Zolleinnahmen und die Mitgliedsbeiträge der EU-Staaten. Wie Roland Vaubel im Blog Wirtschaftliche Freiheit schreibt, scheint die EU nun dem „System der Eigenmittel“ eine neue Kategorie hinzufügen zu wollen, die Fremdfinanzierung zum System der Eigenmittel zählt, weil die Fremdfinanzierung ja später mal mit Eigenmitteln zurückgezahlt werden soll.

Diese Art der Gesetzesauslegung kommt dem „Double Think“ in George Orwells Roman „1984“ sehr nahe. Der Widerspruch zwischen Eigenmitteln und Fremdmitteln wird aufgelöst, indem Fremdmittel über scheinlogische Winkelzüge in Eigenmittel umgemünzt werden. Dennoch stimmte der Bundestag am 25. März mit großer Mehrheit der Ratifizierung des in bestem Orwellschem „Double Speak“ bezeichneten „Eigenmittelbeschluss“ des Europäischen Rats zu. Der Bundespräsident konnte nur durch einen am 26. März eilig ausgefertigten „Hängebeschluss“ des Bundesverfassungsgerichts von der Unterzeichnung und damit Inkraftsetzung des Ratifizierungsgesetzes abgehalten werden.

Allerdings geht kaum ein Beobachter davon aus, dass sich das Bundesverfassungsgericht trauen wird, der Europäischen Union die Schuldenaufnahme zu verwehren. Staaten wie Italien und Spanien, die von dem Wiederaufbaufonds hohe Transfers zu erwarten haben, könnten im Verbund mit Frankreich einen kalten Krieg innerhalb der EU gegen Deutschland organisieren. Wie beim zu erwartenden Freispruch der EZB vom Rechtsbruch durch Staatsfinanzierung kann deshalb nur mit Spannung erwartet werden, mit welchem „Double Think“ und „Double Speak“ die Richter der „Rechtsstaatlichkeit“ der Europäischen Union auch auf dem Feld der Fiskalpolitik Genüge tun werden.

Erstmals veröffentlicht bei Flossbach von Storch Research Institute.

1 Antwort
  1. Olle Lundqvist
    Olle Lundqvist sagte:

    Ob es richtig ist, dass die EU über weitere und direkte finanziellen Ressourcen verfügt, ja darüber kann man lange und triftig diskutieren. Nur: wenn man der EU einen größeren finanziellen Spielraum geben möchte, mit Zugang zu eigenen Finanzierungsquellen, müsste man mit offenem Visier eine Diskussion führen, ob und wie man die Verfassung ändert, statt sich unter dem Deckmantel der angeblichen Einmaligkeit (COVID) zu verbergen.

    Und wie Prof. Mayer verdeutlicht ist es nichtmal eine Einmaligkeit…

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