Foto: der LichtKlicker from flickr (CC BY-NC 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues, und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Fast 90% der Deutschen halten die Demokratie für die beste Herrschaftsform, wenngleich die Zustimmungsrate in den letzten Jahren leicht gefallen ist. Den Kapitalismus hingegen hält nur ein gutes Viertel der Bevölkerung für segensreich, den Sozialismus dagegen fast die Hälfte. Den Geist dieser Einstellung bringt Linkspartei-Politikerin Sahra Wagenknecht auf den Punkt, wenn sie fordert: „Freiheit statt Kapitalismus!“ Tatsächlich ist Freiheit ohne Marktwirtschaft genauso wenig zu denken wie Reichtum ohne Demokratie. In Kombination bilden Marktwirtschaft und Demokratie die wirksamste Voraussetzung für wachsenden Reichtum und zunehmende Freiheit.

Reichtum und Freiheit kein Automatismus

Die Menschheit wird reicher. Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts wächst der Wohlstand weltweit und der Anteil der absolut Armen nimmt ab. Die Menge der pro Kopf produzierten und zum Konsum bereitstehenden Güter und Dienstleistungen wächst von Jahr zu Jahr.

Die Menschheit wird auch immer freier. Immer mehr Menschen sind in der Lage, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und an der Gestaltung ihrer Umwelt teilzuhaben, statt der Willkür weniger Mächtiger unterworfen zu sein.

Doch wachsender Wohlstand sowie zunehmende Freiheit sind keine Automatismen. Weiterhin sind Reichtum und Freiheit auf der Welt sehr ungleich verteilt. Dass einige Länder reich und frei sind, während andere Länder arm und unfrei sind, ist nicht Ergebnis des Schicksals oder Zufalls. Was macht Menschen in einigen Ländern reich und frei, während Menschen in anderen Ländern arm und unfrei bleiben?

Das Erfolgsrezept ist die marktwirtschaftlich organisierte Demokratie – eine Gesellschaftsordnung, in der die Allokation von Gütern und privater Eigentumsrechte an ihnen über Märkte erfolgt und der Zugang zu politischer Macht wettbewerblich und für alle offen ist. In marktwirtschaftlich organisierten Demokratien genießen Menschen sichere private Eigentums- und andere Persönlichkeitsrechte, die die Grundlage für Wohlstand und Freiheit bilden.

Wie gut es Menschen in reichen und freien Ländern gelingen wird, ihr Glück zu bewahren und wie gut es Menschen in armen und unfreien Ländern gelingen wird, ihr Leben in Zukunft lebenswerter zu gestalten, hängt entscheidend davon ab, dass wir diese Voraussetzungen einer freien und reichen Gesellschaft verstehen.

Voraussetzung für Wohlstand: wachsender Kapitalstock

Vor Beginn der industriellen Revolution lebten fast alle Menschen in Armut. Ihr Lebensstandard verbesserte sich nur langsam. Reichtum war auf kleine Gruppen konzentriert. Spätestens mit der industriellen Revolution ist es einigen Ländern gelungen, der Armut zu entfliehen – zunächst Großbritannien, den Niederlanden und Italien, dann anderen Ländern Europas, den USA, Japan und Teilen des Commonwealths. Seitdem werden die in diesen Ländern lebenden Menschen von Generation zu Generation reicher.
Die Grundlage für diese Entwicklung sind Produktivitätsgewinne. Der wachsende Kapitalstock dieser Länder ― dazu gehören beispielsweise Fabriken, Humankapital und die Infrastruktur ― macht menschliche Arbeitskraft produktiver, lässt sie also unter Einsatz derselben Arbeitskraft mehr Güter und Dienstleistungen produzieren.
Auch nachdem die industrielle Revolution einen Teil der Welt längst aus der Armut gerissen hatte, haben es manche Länder geschafft, auf den Wohlstandspfad zu gelangen. Prominente Beispiele sind die ostasiatischen Tigerstaaten Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong, deren Reichtum seit den 1980er Jahren schnell wächst. In anderen Ländern ist es Menschen nicht gelungen, den Kapitalstock massiv auszubauen, etwa in weiten Teilen Afrikas südlich der Sahara.
Wie kommt es, dass der Kapitalstock in manchen Ländern schnell wächst, während er in anderen Ländern nur langsam wächst, stagniert oder gar schrumpft?

Kapitalstock kann wachsen, wenn Privateigentum sicher ist

Der Kapitalstock wächst, wenn Menschen ihr Einkommen nicht vollständig konsumieren, sondern in Teilen sparen und für Investitionen bereitstellen. Konsumverzicht heute ist also die Grundlage für einen größeren Kapitalstock morgen. Da ein größerer Kapitalstock zukünftig mehr Konsum erlaubt, ist es für Menschen grundsätzlich lohnenswert, einen Teil ihres Einkommens zu investieren. Wie viel sie sparen, hängt unter anderem davon ab, wie sehr sie zukünftigen Konsum wertschätzen. Es hängt aber auch davon ab, wie sicher Menschen sein können, dass sie in Zukunft nicht durch Diebstahl oder Enteignungen um die Früchte ihres heutigen Verzichts gebracht werden.

BIP
Damit Menschen sich freiwillig dazu entschließen, Konsumverzicht zu üben, müssen Institutionen vorherrschen, die private Eigentumsrechte gegen Übergriffe durch Private oder den Staat schützen und dezentralisierte Entscheidungen über Konsum und Sparen ermöglichen. Es braucht eine Marktwirtschaft, basierend auf privaten Eigentumsrechten. Alternative Methoden den Kapitalstock aufzubauen – über Sklaverei, Planwirtschaft oder Raubzüge – erwiesen sich historisch und erweisen sich aktuell nicht nur als ungeeignet, sondern katastrophal für die unfreiwillig Beteiligten.

In Ländern, die Institutionen zum Schutz privaten Eigentums früh ausgebildet haben, wurden Menschen früher reich. Es ist unklar, weshalb diese Institutionen zuerst in Westeuropa entstanden sind – das mag beispielsweise an kulturellen Besonderheiten oder der Rolle des Außenhandels liegen. Entscheidend ist, dass die Voraussetzungen für einen wachsenden Kapitalstock und Reichtum bekannt sind: Marktwirtschaft auf Grundlage sicherer privater Eigentumsrechte.

Demokratie sichert Persönlichkeitsrechte

Eigentums- und andere Persönlichkeitsrechte werden in Demokratien am besten gesichert. Rechtsstaatlichkeit und Wettbewerb um politische Ämter schränken Machtmissbrauch ein und erlauben die Partizipation an politischen Entscheidungen. In Demokratien müssen die Wünsche der Bürger berücksichtigt werden, wenn Machthaber ihr Mandat nicht verlieren wollen.

Marktwirtschaft und Demokratie ergänzen sich deshalb nicht nur, sie bestärken sich gegenseitig. Der in Demokratien stattfindende Wettbewerb um politische Machtpositionen schränkt den Einflussbereich dieser Machtpositionen zugleich ein und trägt so zu sicheren privaten Eigentumsrechten bei. Marktwirtschaftliche Institutionen und sichere private Eigentumsrechte beschränken ihrerseits die Anwendung demokratischer Entscheidungsfindung auf jene Bereiche, in denen sie angemessen ist.


Demokratische Gesellschaften sind nicht frei von Problemen. Sie müssen Mechanismen entwickeln, um zu verhindern, dass organisierte Interessengruppen auf Kosten der restlichen Gesellschaft von Sonderrechten profitieren, dass Politiker ihre eigenen Interessen allzu sehr in den Vordergrund stellen und dass Mehrheiten die Freiheit von Minderheiten einschränken. Ein wirksames Mittel gegen diese Gefahren ist die Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen.

Demokratie und Marktwirtschaft sind Zwillinge

Im Zusammenspiel sind Marktwirtschaft und Demokratie das wirksamste Rezept für Reichtum und Freiheit, das der Menschheit bekannt ist. In einzelnen Fällen haben auch Autokraten die Freiheit ihrer Untertanen bewahrt und ausgebaut, doch das sind historische Ausnahmen. Nur marktwirtschaftlich organisierte Demokratien geben Menschen die Möglichkeit, ihr Leben und ihre Umwelt in freiwilliger Kooperation zu gestalten – in wirtschaftlicher, wie in politischer Hinsicht.

Es ist eine gute Nachricht, dass die meisten Menschen in freien Ländern die Demokratie als etwas Wertvolles wahrnehmen und sich gegen den Abbau demokratischer Institutionen aussprechen. Es ist ebenfalls eine gute Nachricht, dass die meisten Menschen in unfreien Ländern die Schaffung demokratischer Institutionen wünschen. Es ist jedoch wünschenswert und für zukünftige Wohlfahrtsteigerungen maßgebend, dass der Segen der Marktwirtschaft, basierend auf privaten Eigentumsrechten, in ähnlicher Weise anerkannt wird.

Erstmals veröffentlicht bei IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues.

Photo: Marcus Holland-Moritz from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Prof. Dr. Justus Haucap, Gründungsdirektor des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie (DICE) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Mitglied im Kuratorium von Prometheus.

Mit knapper Mehrheit haben die Briten am 23. Juni 2016 dafür gestimmt, die Europäische Union zu verlassen. Viele Beobachter waren sehr überrascht. Bisher war es noch immer gut gegangen. Selbst als die Franzosen und Niederländer 2005 gegen die Europäische Verfassung stimmten, tat das der Integration keinen Abbruch. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“, so das bisher gültige Motto der EU. Nun aber will zum ersten Mal ein Land die EU wieder verlassen. Es scheint doch nicht alles alternativlos zu sein.

Besonders die wirtschaftlichen Konsequenzen werden für die Briten furchtbar sein, meinen durchaus nicht wenige meiner Kollegen (etwa hier). Die EU hingegen werde den Austritt schon verkraften, aber für die Briten sei ein Brexit desaströs, so die wohl mehrheitliche Meinung. In einer teils doch hysterisch anmutenden Berichterstattung und Kommentierung in den Tagen direkt nach dem Referendum wurden immer wieder zwei Vermutungen geäußert: Zum einen, dass viele Leute (besonders die Engländer und Waliser) wohl einfach zu dumm und zu wenig aufgeklärt seien, um die Vorteile der EU zu verstehen, und zum anderen, dass die alten Bürger zu störrisch sind und den jungen Briten in einem Akt der Misanthropie die Zukunft verbauen wollten. Dabei haben sich sehr viele junge Wähler der Stimme enthalten, weil es ihnen wohl doch nicht so wichtig zu sein schien, ob Großbritannien nun zur EU gehört oder nicht. Von den 18- bis 24-jährigen haben anscheinend nur 36 Prozent ihre Stimme abgegeben. Und auch die These, dass es primär Dummheit, Nationalismus oder gar Rassismus sei, die zu einer Skepsis gegenüber Brüssel führe, zeugt von Hochmut und mangelnder Fähigkeit zu differenzieren. Die Brexiteers sind keine homogene Masse, sondern ein recht heterogener Haufen. Ja, zum einen sind dies britische Nationalisten, aber es sind auch libertäre Ökonomen dabei und Bürger, denen die EU zu zentralistisch, zu bevormundend und zu wenig subsidiär ist.

Ob nun die wirtschaftlichen Konsequenzen für Großbritannien wirklich so dramatisch sein werden, wie manchmal skizziert, ist gar nicht klar. Interessanterweise gab der FTSE100, der Aktienindex der 100 wichtigsten britischen Unternehmen am Tag nach dem Referendum bis zum Börsenende nur um 3,15 Prozent nach. Der DAX hingegen verlor 6,8 Prozent, der französische Index CAC40 8 Prozent und die EuroStoxx 50, die 50 wichtigsten europäischen Aktien, sogar 8,6 Prozent. Mit der Interpretation sollte man vorsichtig sein, aber sicher suggerieren die Zahlen nicht, dass Großbritannien schwer getroffen wird, während es für den Rest der EU kaum etwas ausmacht. Natürlich herrscht nun große Unsicherheit, wie es genau weitergehen wird. Kurzfristig wird es negative Folgen für die britische und europäische Wirtschaft geben. Aber mittelfristig kann der Brexit auch eine Chance sein, sowohl für Großbritannien als auch für die EU.

Vieles wird, sowohl für Großbritannien als auch die EU, letztlich davon abhängen, wie sich die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien ausgestalten werden. Dass es etwa zu einem Handelsembargo kommen wird, ist schwer vorstellbar. Der Freihandel und der Binnenmarkt werden sehr wahrscheinlich bestehen bleiben und damit auch ein Großteil der wirtschaftlichen Vorteile. Dass Großbritannien sich nun möglicherweise nicht an das Verbot von Glühbirnen, Plastiktüten und leistungsstarken Staubsaugern wird halten müssen, dürfte hingegen kaum wirtschaftlich spürbar sein. Auch die Schweiz und Norwegen darben trotz fehlender EU-Mitgliedschaft nicht im Elend, obgleich auch die Freizügigkeit etwa zwischen der Schweiz und den EU-Staaten im Vergleich zur Freizügigkeit innerhalb der EU drastisch eingeschränkt ist (zum Beispiel weil tendenziell nur EU-Bürger mit einem festen Arbeitsplatz oder einem anderweitig ausreichendem Einkommen ihren Wohnsitz in die Schweiz verlegen können). Der Thinktank Open Europe hat dementsprechend im März letzten Jahres prognostiziert, dass die Auswirkungen des Brexits positiv oder negativ sein können – je nachdem, welche Politik ergriffen wird. Denkbar wäre etwa auch, dass die Briten beim transatlantischen Freihandel voranpreschen, während große Teile der verbleibenden EU hier wesentlich zögerlicher sind. Der Austritt der Briten wird in der EU die protektionistischen und fortschrittsfeindlichen Kräfte weiter stärken.

Es mag provokant sein, aber: Die jungen Briten mögen mit ihrer impliziten Einschätzung durchaus recht gehabt haben, dass es letztlich zumindest ökonomisch nicht so einen großen Unterschied macht, ob Großbritannien nun in der EU ist oder nicht. Der Verweis, dass Großbritannien in den vergangenen 40 Jahren seit dem Zutritt zur EU einen starken wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hat, stimmt natürlich. Allerdings gilt das auch für die Schweiz und Norwegen und sogar für Australien und Südkorea. Wie viel von diesem Aufschwung etwa auf eine EU-Mitgliedschaft im Vergleich zu einer hypothetischen Beschränkung auf die Mitgliedschaft in der europäischen Freihandelszone (EFTA) zurückzuführen ist, ist völlig unklar.

Europäische und auch deutsche Politiker, die jetzt fordern, die Briten ob ihres demokratischen Ungehorsams besonders deutlich zu bestrafen, werden vor allem auch der deutschen und europäischen Wirtschaft selbst schaden. Vergeltung ist eine ziemlich schlechte Antwort auf eine demokratische Entscheidung. Die EU ist keine Sekte, aus welcher man nicht wieder ohne Androhung von Vergeltungsmaßnahmen austreten darf.

Überhaupt reflektieren die Granden der EU erstaunlich wenig, welcher Reformbedarf denn wohl in Brüssel bestehen könnte. Es ist sicher eine menschlich verständliche Reaktion, die Schuld für das empfundene Desaster bei anderen zu suchen. Daher überrascht es auch nicht wirklich, dass besonders europäische Politiker vor allem über die Briten schimpfen, bei der Europäischen Union und ihren Institutionen jedoch offenbar kein Versagen erkennen können. Dabei ist das Vertrauen vieler Bürger in die Brüsseler Entscheidungsprozesse schon lange erschüttert. Das wiederholte Brechen von Recht (etwa der sogenannten Maastricht-Kriterien oder der Dublin-Verordnung zur Aufnahme von Flüchtlingen) und Versprechen („Kein weiteres Hilfe-Paket/Bail-out für Griechenland“) trägt nicht zur Vertrauensbildung bei. Die Haltung der Brüsseler Eliten, den (etwa dummen) Bürgern einmal zu erklären, was gut für sie ist, stößt auf Skepsis bei vielen. Viele Bürger empfinden etwa die Flüchtlinge nicht als „ein Geschenk wertvoller als Gold“, wie Martin Schulz es im Juni in seiner Heidelberger Hochschulrede ausgedrückt hat. Vielmehr sehen viele die mit der Flüchtlingskrise verbundenen Kosten und Risiken. Die mangelnde Handlungsfähigkeit und -willigkeit der EU führt hier sicher nicht zu einem positiven Bild von der EU. Und es nimmt den Menschen auch nicht die Ängste, sie im Gegenzug als unverbesserliche Rassisten zu beschimpfen. Auch Behauptungen wie die, dass es nie einen Bail-out Griechenlands geben werde oder dass die Energiewende die Bürger nicht mehr als eine Tasse Cappuccino kosten werden, führen zu einer fundamentalen Erosion des Vertrauens in die Politik. Mit Hochmut und Beschimpfungen der Wählerschaft wird man das verloren gegangene Vertrauen nicht zurückgewinnen.

Wie weit die Brüsseler Führung inzwischen von den Bürgern entfernt ist, zeigt die Reaktion Jean-Claude Junckers, der nun nicht innehalten und reflektieren möchte, sondern mit noch mehr Tempo mehr Staaten zur Übernahme des Euro drängen will. Das erinnert an Erich Honeckers Realitätsverlust im August 1989 als er glaubte, den Sozialismus in seinem Lauf hielten weder Ochs noch Esel auf.

Nicht nur die Briten sind nun gefordert. Auch die Europäische Union muss sich grundlegende Gedanken machen, wie es weitergehen soll. Weniger Harmonisierung und weniger Zentralismus sind nicht das Ende der Europäischen Union, vielmehr läge in einer Rückkehr zu einem echten Subsidiaritätsprinzip eine echte Chance, einen europäischen Staatenverbund doch zu einem Erfolg werden zu lassen. Der Brexit kann ein Weckruf zur richtigen Zeit sein, wir benötigen nun eine sachliche und gesellschaftliche Debatte über die Zukunft der EU. Panikmache, Hysterie und Durchhalteparolen sind dagegen fehl am Platz.

Erstmals veröffentlicht auf Merton Magazin.

Photo: Wikimedia Commons

Von Dr. Karolin Herrmann, Referentin für Haushaltspolitik und Haushaltsrecht beim Deutschen Steuerzahlerinstitut, Fackelträgerin von Prometheus.

Mein Frühstück beginnt oft mit einem Marmeladenbrötchen. Bei einem Blick auf meinen aktuellen Einkauf fällt mir auf, dass die Marmelade eigentlich keine Marmelade ist, sondern Konfitüre. Laut EG-Richtlinie 2001/113 ist nämlich streng zwischen Konfitüre, Konfitüre Extra, Gelee, Marmelade, Marmeladen-Gelee und Maronenkrem zu unterscheiden. Zu meinem Brötchen gibt es Kaffee. Mein Kaffee kommt aus der Maschine. Sie ist – in diesem Fall glücklicherweise – schon etwas älter. Hätte ich mir erst kürzlich eine Filter-Kaffeemaschine zugelegt, wäre diese mit einer automatischen Abschaltautomatik ausgestattet. Filterkaffeemaschinen mit Glaskanne dürfen seit 2015 nämlich nur noch eine gute halbe Stunde im Warmhaltemodus verharren.

Nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg zur Arbeit. Ich stolpere über eine leere Zigarettenpackung. Beim Anblick des mit verstümmelten Gliedmaßen bebilderten Päckchens wird mir übel. Ich greife zur Wasserflasche. Der Health Claim „Wasser trägt zur Erhaltung normaler körperlicher und kognitiver Funktionen bei“, darf seit einiger Zeit nur verwendet werden, wenn der Verbraucher gleichzeitig darüber informiert wird, dass er täglich wenigstens zwei Liter davon trinken soll. Der Kaugummi danach darf übrigens nur dann mit dem Hinweis „Zuckerfreier Kaugummi trägt zur Neutralisierung der Säuren des Zahnbelags bei“ versehen sein, wenn dieser auch wirklich zuckerfrei ist.

Und schon vergeht mir die Lust. Ich fühle mich fremdbestimmt. Wem muss ich eigentlich entsprechen? Dem europäischen Leitbild eines gesundheitsbewussten und umweltbewussten Menschen, der regionale Produkte bevorzugt, wenig Alkohol trinkt und seine Kinder stillt?

Richtig gelesen! Die EU-Verordnung 609/2013 stellt Anforderungen an die Aufmachung von Säuglingsanfangsnahrung, damit sie Mütter bitteschön nicht „vom Stillen abhält“.  So darf Säuglingsmilch nicht durch Babyfotos gekennzeichnet sein, die den „Gebrauch dieser Nahrung idealisieren könnten“. Glaubt man in Brüssel tatsächlich, dass niedliche Babyfotos auf Milchpulverpackungen Frauen vom Stillen abhalten könnten? Besteht hier tatsächlich ein europäischer Handlungsbedarf? Fallen Frauen, die nicht stillen, aus dem europäischen Rahmen? Müssen sie sogar ein schlechtes Gewissen haben? Ich meine: keinesfalls!

Hier lohnt sich ein genauerer Blick. Die Idee des Nudging, des sanften Anstubsens in die richtige Richtung, wurde 2008 durch den Bestseller „Nudge“ von Thaler und Sunstein populär – mit dem Ziel, vermeintliche „Selbstkontrollprobleme“ zu reduzieren, ohne dabei die individuelle Entscheidungsfreiheit zu beeinträchtigen. Die schwächere Form des „Anstubsens“ kommt durch eine Verbreiterung der Informationsgrundlage zum Ausdruck. Ein Beispiel ist die EU-Verordnung Nr. 1379/2013: Danach ist die Fischereiwirtschaft dazu verpflichtet, dem Verbraucher anzuzeigen, welches Gerät beim Fischfang eingesetzt wird – etwa Waden-, Schlepp- oder Umschließungsnetze. Dafür wurden bestimmte Fischfanggeräte-Codes entwickelt. „PTM“ steht zum Beispiel für Pelagische Zweischiffschleppnetze. Dank solcher Codes kann der fachkundige Käufer auf das entsprechende Fanggerät schließen und daraus beispielsweise ableiten, wie hoch das Risiko eines unerwünschten Beifangs von Meeressäugern ist. Allerdings muss auch bei solchen Kennzeichnungspflichten immer die Frage nach der Kosten-Nutzen-Relation gestellt werden. Im Unterschied dazu würde man bei einer Lebensmittel-Ampel die Empfehlung für gesunde Ernährung geradezu auf dem Silbertablett serviert bekommen. Ob aber die Auswahl der Kriterien, nach denen jene Einteilung in rot, gelb und grün erfolgt, objektiv wäre und ob sie auf die gesundheitliche Konstitution des „Durchschnittsbürgers“ zuträfe, ist mehr als zweifelhaft.

Bei allen Versuchen zur Reglementierung meines und Ihres Alltags ist es wesentlich, zwischen Politik und Privatwirtschaft zu trennen: Grundsätzlich gibt es einen Unterschied, ob die Privatwirtschaft Akzente für Werbekampagnen setzt, um  Entscheidungen potenzieller Kunden zu beeinflussen, oder ob  Politiker uns zu steuern versuchen. Meines Erachtens spricht nichts dagegen, wenn Einzelhändler freiwillig entscheiden, süßwarenfreie Kassen anzubieten, wenn sie darin ihr Alleinstellungsmerkmal sehen. Ebenso ist nichts dagegen einzuwenden, wenn einzelne Mensen ihre Auslagen zugunsten rohkostreicher Ernährung sortieren oder Hersteller von Lebensmitteln einzelne Produktmerkmale hervorheben. Problematisch, weil unangenehm, wird es aber, wenn sich politische Entscheidungsträger  anmaßen, ihre Bürger in die einzige vermeintlich richtige Richtung „stubsen“ zu müssen – aktuell zu beobachten am Beispiel der europäischen Alkohol-Strategie 2016-2022:

Alkoholmissbrauch ist ein ernstes Thema – keine Frage. In der EU wird rund jeder vierte Todesfall bei jungen Männern zwischen 15 und 29 Jahren mit Alkohol in Verbindung gebracht. Daher hatte das Europäische Parlament die Europäische Kommission im Frühjahr vergangenen Jahres zur Ausarbeitung der „Alkoholstrategie 2016-2022“ aufgefordert. Ein ehrenwertes Projekt – doch nur auf den ersten Blick. Denn bei dieser EU-Strategie stellt sich die Frage der tatsächlichen Wirksamkeit – und damit, ob eine solche Initiative auf europäischer Ebene überhaupt angestoßen werden sollte. Innerhalb der EU konzentriert sich die Alkoholproduktion nämlich auf relativ wenige Mitgliedstaaten: Die Weinproduktion ist zu 77 Prozent auf Spanien, Italien und Frankreich konzentriert, mehr als die Hälfte der europäischen Bierproduktion entfällt auf Deutschland, Großbritannien, Polen und die Niederlande. Eine restriktive europäische Alkoholstrategie würde die einzelnen Mitgliedstaaten also unterschiedlich treffen. Obendrein lässt sich aus Negativeffekten alkoholischer Getränke ordnungspolitisch nur dann ein möglicher Handlungsbedarf ableiten, wenn soziale Kosten entstehen, die durch den Verursacher nicht internalisiert werden.

In diesem Zusammenhang ist auch die Diskussion über Warnhinweise neu entflammt. Das Konsumverhalten über Schockbilder zu beeinflussen, erscheint paternalistisch. Mündige Erwachsene müssen selbst entscheiden können, ob sie Alkohol konsumieren oder nicht. Zudem belegt eine Reihe empirischer Studien, dass zum Beispiel die Mehrheit der Raucher ihr Konsumverhalten nicht durch Warnhinweise ändert. Für mich stellt sich auch die Frage nach dem Kinderschutz, wenn Produkte mit derart angsteinflößenden Bildern gegenüber von Schokoriegeln und Überraschungseiern im Supermarkt angeboten und in Verkehr gebracht werden. Es ist richtig, dass die Industrie hier bereits reagiert hat – somit können die Hersteller von Zigarettenetuis auf eine Renaissance edler Umverpackungen hoffen.

Ich bin ein Fan des Subsidiaritätsgedankens. Der Staat soll nur dort eingreifen, wo der einzelne Bürger oder eine kleine Gruppe zur Lösung eines ganz bestimmten Problems nicht in der Lage ist. Das stärkt die Eigenverantwortung und trägt dem Prinzip der Selbsthilfe Rechnung. Ich sage dies, weil ich kein Misanthrop, sondern ein Menschenfreund bin. Und bei Problemen zähle ich auf Reflektion und Vernunft, den „Familienrat“ daheim und ernsthafte Ratschläge aus dem Freundeskreis. Vor allem aber glaube ich nicht daran, dass die Politik es durch „sanftes Anstubsen“ schafft, uns dem Idealmodell eines „Homo Oeconomicus“ näher zu bringen. Wir Bürger leben nicht in jeder Situation so, wie die Politik sich das wünscht. Wir wissen nicht, was wir tun? Von wegen! Ich jedenfalls freue mich auf mein Frühstück morgen.

Photo: Justin Ennis from Flickr (CC BY 2.0)

Von Franco Debenedetti, Unternehmer, ehemaliges Mitglied des italienischen Senats und Präsident unseres Partnerinstituts „Istituto Bruno Leoni„.

Die italienische Bankenkrise bedarf gerade eines deutlichen Zwischenrufs: Das Ausmaß der Artikel und Interviews, in Zeitungen und Blogs, die sich darüber auslassen, was zu tun und was zu lassen sei, ist zu einem Punkt gekommen, an dem es nötig ist, eine Einordnung vorzunehmen.

Die widersprüchlichen Argumente

Sie reduzieren sich letztlich darauf, dass man sich einerseits die „ever closer union“ ersehnt, die Fiskalunion und die Vereinigten Staaten von Europa, während man sich andererseits dafür ausspricht, die Maastricht-Kriterien aufzuweichen und die Vorschriften der Bankenunion nicht zu befolgen. Die EU hat keine Verfassung, sie hat keine eigene politische Geschichte – sie hat nur ihre Verträge. Auf der Website der EU liest man: „Die Europäische Union basiert auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Das bedeutet, dass jede Tätigkeit der EU auf Verträgen beruht“. Ohne Verträge gibt es keine EU. Es ist ein Widerspruch, wenn man mehr Europa will, aber gleichzeitig das Europa von 1992 untergräbt, den ersten großen Schritt nach vorn, und auch die zwanzig Jahre später als lang ersehnten zweiten Schritt begrüßte Bankenunion.

Die kontraproduktiven Argumente

Eine Lawine … Manche argumentieren, es gebe natürlich die Banca Monte dei Paschi di Siena – aber es gebe ja auch die Deutsche Bank. Es gebe unsere Staatshilfen, aber auch die der anderen. Es wird erklärt, dass unser Problem nur Ausdruck eines viel größeren Problems sei. Und dann endet man mit dem Vorwurf an die Obrigkeiten, die unsere Forderungen beurteilen werden, unaufmerksam oder parteiisch zu sein. Faule Kredite seien etwas Anderes als Derivate; frühere Kritikpunkte hätten mit der jetzigen Situation nichts zu tun. Wenn man immer auf die Fehler der anderen hinweist, kann es sein, dass man irgendwann dazu ermahnt wird, einmal wieder auf die eigenen zu Blicken: vernichtetes Kapital, subventioniertes Wachstum, verschlechterte Kredite – es gibt genug Schwachpunkte.

Es ist kontraproduktiv, dem Brexit die Schuld zu geben: Ein Ereignis, das beweist, wie wichtig es ist, dass die Banken ausreichend Kapitalausstattung haben, um Schocks zu überstehen, kann nicht angeführt werden, um ein Auge zuzudrücken gegenüber denjenigen, die nicht ausreichend Kapital haben. Das gleiche gilt für die Umstellung von nachrangigen Anleihen in den Händen institutioneller Inverstoren in Aktien: Manch einer sagt, das könne man nicht machen, weil es den europäischen Markt für nachrangige Anleihen in Panik versetzen würde. Doch wenn das so wäre, dann würde das bedeuten, dass die Investoren nicht daran glauben, dass die Direktive je angewandt würde. Eine Einladung an die Obrigkeit, im Fall der Bank aus Siena unnachgiebig zu sein, um ganz Europa zu beweisen: wir meinen es ernst.

Die peinlichen Argumente

Manche erwarten ein Moratorium bei der Anwendung der Bail-in-Klauseln. Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie die Probleme, die damit verbunden sein können, erst erkannt haben als sie nicht mehr theoretisch, sondern real waren. Dasselbe gilt auch für die Rettungen mit öffentlichem Kapital aus Deutschland (jemand sagt auch aus Großbritannien, als ob es Teil der Bankenunion wäre). Ist es ein Zeichen von Vorausschau oder auch nur Klugheit, immer stolz behauptet zu haben, man brauche das nicht?

Die fehlenden Argumente

Allenthalben hört man Beschwerden, dass den Italienern die ökonomische Bildung fehle, aber keiner spricht aus, wer in seiner Pflicht scheitert, diese zu ermöglichen. Das fängt bei der ersten Lektion an: Was für den einen eine Unterstützung ist, ist für den anderen eine Ausgabe, die von jemandem finanziert werden muss – entweder heute mit Steuern oder morgen mit den Zinszahlungen auf neue Schulden. Es scheint, dass die vier Banken (von Marche, Ferrara, Etruria, Chieti), die Ende 2015 pleite gingen, für 500 Millionen verkauft werden können? Ihre Rettung hat 1500 Millionen gekostet. Die Differenz wird den Interbanken-Fonds mit Garantien bezahlen, mithin also die Einleger in Form von geringerer Güte der Garantien. Falls es dem Fond Atlante nicht gelingen sollte, die großzügig bewerteten Bankenkredite zurückzugewinnen, dann wäre das ein Geschenk an die Bankaktionäre. Bezahlt würde das von dem Geld, das aus den Banken und Rentenkassen genommen wurde. Und die letzte Lektion lautet: Im Nachhinein führen diese Rettungen notwendigerweise in eine Situation des „moral hazard“. Sie laden Banken und Banker ein, weiterzumachen wie bisher. Schließlich bezahlt die Rechnung am Ende doch ein anderer.

„La mala educaciòn“ – Die schlechte Erziehung

Wenn der Interessenkonflikt der Regierungen nicht ans Licht gebracht wird. Sie haben in zweifacher Hinsicht ein Interesse daran, zu intervenieren und die Banken zu retten. Einerseits stoßen sie auf Zuspruch, weil sie „ein Problem gelöst“ haben und sie legen sich die Instrumente bereit, um das in Zukunft wieder zu tun. Indem sie als Kapitalgeber der Banken fungieren, gewinnen sie andererseits Gewicht im Prozess der Kreditvergabe, wenn es um Gelegenheiten der „Problemlösung“ geht, die öffentliches Interesse auf sich ziehen: sei es bei der Rettung des Stahlherstellers Ilva, beim Breitbandausbau oder beim Fonds „Atlante“. Dass die ökonomischen Interessen der „Geretteten“ gegebenenfalls nicht mit ihrem politischen Votum über ihren „Retter“ Renzi übereinstimmen, ist auch ein Widerspruch. Von allen, die wir hier gesehen haben, aber vielleicht der harmloseste.

Erstmals erschienen in der Zeitung „Il Foglio quotidiano“ und veröffentlicht auf dem Blog von Franco Debenedetti, eigene Übersetzung.

Photo: Hans Hansson from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.

Der neue britische Premierminister hat die Wahl: Er kann mit Zustimmung des Unterhauses das Austrittsverfahren nach Artikel 50 EUV in Gang setzen, oder er kann versuchen, den Austritt im Rahmen einer Vertragsänderung zu vereinbaren. Das Verfahren nach Artikel 50 erlaubt ihm, den Zeitplan zu bestimmen: Er kann erzwingen, dass Grossbritannien nach zwei Jahren – also innerhalb der laufenden Legislaturperiode – aus der EU ausscheidet. Für das Vertragsänderungsverfahren könnte dagegen sprechen, dass die Austrittsmodalitäten, die er mit den anderen Mitgliedstaaten vereinbaren kann, nicht vom Europäischen Parlament, sondern von den nationalen Parlamenten genehmigt werden müssen.

Eine Änderung der Verträge wird von den verschiedensten Seiten und aus den verschiedensten Motiven gefordert – auch vom deutschen Finanzminister Schäuble und vom französischen Präsidenten Hollande -, aber erst nach den Wahlen im nächsten Jahr. Für den neuen britischen Premierminister könnte das zu lange dauern. Er könnte ad infinitum hingehalten werden. Deshalb wird er sich nicht auf eine Vertragsänderung verlassen wollen, sondern mit beiden Strategien spielen. Die Option der Vertragsänderung kann ihm dazu dienen, das Europäische Parlament unter Druck zu setzen.

Das Austrittsverfahren nach Artikel 50 beginnt mit der Übermittlung der Austrittsentscheidung. Diese Notifikation ist endgültig. Sie kann nicht zurück gezogen werden, wenn die von den Anderen angebotenen Austrittsmodalitäten ungünstiger als erwartet sind. Aber die Verhandlungen können im gegenseitigen Einvernehmen über die zwei Jahre hinaus beliebig verlängert werden. Geht man davon aus, dass die anderen Mitgliedstaaten nicht am Austritt des britischen Nettozahlers interessiert sind, so ist damit zu rechnen, dass sie die Verhandlungen nach Kräften in die Länge ziehen und innerhalb der ersten zwei Jahre kein akzeptables Angebot vorlegen werden, wenn nicht die britische Seite von vorne herein eine Verlängerung der Verhandlungen ausschliesst. Der neue britische Premierminister wird der EU daher vermutlich von Anfang an mitteilen, dass eine Verlängerung der Verhandlungen über zwei Jahre hinaus keinesfalls in Frage kommt.

Interessanterweise haben sich Kommissionspräsident Juncker und Parlamentspräsident Schulz für einen möglichst schnellen Abschluss der Austrittsverhandlungen nach Artikel 50 ausgesprochen. Sie scheinen verhindern zu wollen, dass Grossbritannien noch Mitglied ist, wenn Ende 2017 die geplanten Verhandlungen über die Änderung der europäischen Verträge beginnen. Die Briten sollen nicht die Möglichkeit haben, mit einer Blockierung der Vertragsänderungen zu drohen und damit ihre Verhandlungsposition zu stärken. Diese Befürchtung ist jedoch unbegründet, denn auch die EU kann ja verhindern, dass die Austrittsverhandlungen nach Artikel 50 länger als zwei Jahre dauern. Wenn die Austrittsentscheidung im vierten Quartal dieses Jahres übermittelt wird, kann die Neufassung der europäischen Verträge ab dem vierten Quartal 2018 von den Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Viel schneller wird es ohnehin nicht gehen.

Artikel 50 EUV sieht vor, dass eventuelle Nachfolgevereinbarungen mit Großbritannien von einer qualifizierten Mehrheit des Rates (ohne Großbritannien) und von einer einfachen Mehrheit des Europäischen Parlaments (kuriosererweise einschliesslich der britischen Abgeordneten) gebilligt werden müssen. Die Kommission darf nicht mitentscheiden. Sie muss aber nach Artikel 218 Absatz 3 AEUV gleich zu Beginn der Verhandlungen dem Rat Empfehlungen vorlegen. Der Rat braucht sich nicht an die Empfehlungen zu halten. Er bestellt einen Verhandlungsführer. Viel hängt davon ab, ob die Verhandlungen vom Ratspräsidenten Tusk oder von einem Mitglied der Kommission geführt werden.

Der neue britische Premierminister wird vermutlich ein Engländer sein. Er hat kein Interesse daran, dass Schottland vor dem hoffentlich erfolgreichen Abschluss der Austrittsverhandlungen – oder wenn es nicht dazu kommt, vor Ablauf der Zwei-Jahres-Frist – erneut über seine Unabhängigkeit abstimmt.

Jede Sezession – die britische, aber auch eine schottische – ist ein Akt der politischen Dezentralisierung. Sie stärkt den Wettbewerb zwischen den Regierungen der verschiedenen Staaten, eröffnet den Bürgern mehr Wahlmöglichkeiten und hält daher die staatliche Besteuerung und Regulierung im Zaum. Sie stärkt die Innovation und die Freiheit des Einzelnen. Das setzt natürlich voraus, dass die Freiheit des Handels und Kapitalverkehrs erhalten bleibt.