Photo: Wendy from Flickr (CC BY-NC 2.0)

Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.

Im März nächsten Jahres will die EU-Kommission Vorschläge machen, wie die „Governance“ der Euro-Zone ausgebaut werden kann und sollte. Die deutsche Verhandlungsposition ist bereits erkennbar. Finanzminister Schäuble hat erklärt: „Wir müssen Europa unterhalb der Schwelle von EU-Vertragsänderungen handlungsfähiger machen. … Das Primärrecht müssten wir dafür nicht ändern. Das könnten wir in der Euro-Zone auch mit einer Änderung des ESM-Vertrages hinbekommen“ (Interview, Stuttgarter Zeitung, 15.10.16). Was will er „hinbekommen“? Schäuble will einen „Euro-Finanzminister“. Er will diesen Superminister sogar mit einem eigenen Haushalt ausstatten, der aus der Mehrwert- und Einkommensteuer gespeist werden soll. Lässt sich das mit einer Änderung des ESM-Vertrages bewerkstelligen? Soll der Geschäftsführende Direktor des Europäischen Stabilitätsmechanismus – ein Deutscher namens Klaus Regling – Euro-Finanzminister werden?

Bislang erhält der ESM keine laufenden Zahlungen aus Steuermitteln. Er hat drei Einnahmequellen. Erstens hat er Zinseinkünfte aus den Krediten, die er an überschuldete Euro-Staaten vergeben hat, und aus den Anleihen dieser Staaten, die er im Rahmen seiner Programme gekauft hat. Diese Zinsen sind etwas höher als die Zinsen, die er auf seine von den Mitgliedstaaten verbürgten Anleihen zahlt: „Bei der Gewährung von Stabilitätshilfe strebt der ESM die volle Deckung seiner Finanzierungs- und Betriebskosten an und kalkuliert eine angemessene Marge ein“ (Art. 20 Abs. 1 des ESM-Vertrags).

Zweitens erzielt der ESM Zinserträge, indem er das bei ihm eingezahlte Kapital (80 Mrd. Euro) im Kapitalmarkt investiert – zum Beispiel, indem er Staatsanleihen oder wie im Juli 2015 Anleihen des EU-Hilfsfonds EFSM erwirbt. (Der EFSM leitete das Geld an Griechenland weiter, dessen ESM-Programm abgelaufen war.) Der ESM „hat das Recht, einen Teil des Ertrags aus seinem Anlageportfolio zur Deckung seiner Betriebs- und Verwaltungskosten zu verwenden“ (Art. 22 Abs. 1). Nicht benötigte Anlageerträge können an die Mitgliedstaaten ausgeschüttet werden. Sie müssten sogar in voller Höhe ausgeschüttet werden, wenn der ESM einmal keine Finanzhilfen mehr gewähren würde (Art. 23).

Drittens kann der ESM Einnahmen aus finanziellen Sanktionen gegen seine Mitglieder erhalten (Art. 24 Abs.2). Dabei handelt es sich um Geldbußen in Rahmen des sogenannten „Sixpack“ von 2011, insbesondere die Verordnungen 1174 und 1176 über die Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte und die Verordnung 1177 bei übermäßigen Defiziten. Wenn die Verwaltungskosten – so wie es Schäuble vorschlägt – aus den Mehrwert- und Einkommensteuereinnahmen der Euro-Staaten finanziert würden, wäre der ESM nicht mehr ein „Kreditinstitut“ der Euro-Staaten, sondern eine Euro-Finanzbehörde, und an ihrer Spitze stünde ein „Finanzminister“.

Weshalb will Schäuble den ESM-Vertrag und nicht den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ändern? Er sagt: weil das einfacher ist. Das ist wahr. Eine Änderung des AEUV müsste nicht nur von den Euro-Staaten, sondern auch von den anderen EU-Staaten – zum Beispiel Polen, Tschechien und vorerst auch Großbritannien – ratifiziert werden. Das könnte Schwierigkeiten bereiten und würde die Verhandlungsmacht dieser Länder stärken. Außerdem müssten – zum Beispiel in Irland – Mehrheiten in Volksabstimmungen gefunden werden.

Aber mindestens genau so wichtig ist, dass die Entscheidungen im ESM nur einstimmig getroffen werden können. Deutschland könnte den Vertrag sogar kündigen. Im Rat der EU dagegen genügt eine qualifizierte Mehrheit, und Schäuble könnte überstimmt werden. Außerdem redet in der EU das Europa-Parlament ein Wörtchen mit, im ESM hat das Europa-Parlament nichts zu sagen. Schäuble wird auch gefallen, dass die Letztentscheidung im ESM beim Gouverneursrat, d.h. bei den Finanzministern, liegt. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch durchgesetzt, dass Schäuble bei Entscheidungen, die „die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages betreffen“, die Zustimmung des Bundestages braucht.

Schäuble will verhindern, dass der ESM – sein Werk – eines Tages vielleicht wieder abgeschafft wird oder zu wenig Einnahmen hat, wenn einmal keine Kreditforderungen mehr ausstehen. Deshalb versucht er, den ESM zu stärken, ihm zusätzliche Kompetenzen und Einnahmen zu verschaffen. Der ESM soll ein für alle mal unentbehrlich werden.

Wohin die Reise gehen soll, zeigen auch die Verlautbarungen der Deutschen Bundesbank. Schon im Februar haben sich Jens Weidmann und sein französischer Amtskollege Francois Villeroy de Galhau in einem gemeinsamen Zeitungsartikel ebenfalls für einen Finanzminister der Euro-Zone ausgesprochen (Süddeutsche Zeitung, 08.02.16). Die Bundesbank schreibt zu diesem Thema in ihrem Monatsbericht vom Juli 2016:

„Es könnte in diesem Zusammenhang daran gedacht werden, die Rolle des ESM grundsätzlich zu stärken. Mit dem Antrag eines Mitgliedstaates auf Finanzhilfen beim ESM wird die Einschätzung zur weiteren Wirtschaftsentwicklung, zur Schuldentragfähigkeit und zum Finanzbedarf derzeit durch die Europäische Kommission im Benehmen mit der EZB erstellt, und dies ist auch für die Überwachung der wirtschaftspolitischen Auflagen vorgesehen. Diese Aufgaben könnten künftig auf den ESM übertragen werden“ (S. 57).

„Im Falle einer Umschuldung … könnten Koordination und begleitende Aufgaben, wie etwa die Erfassung der bestehenden Ansprüche, auf den ESM übertragen werden, und dieser könnte auch mit der effektiven Abstimmung der Umschuldung mit einem Anpassungsprogramm und Finanzhilfen des ESM beauftragt werden. Mit Stärkung des Krisenbewältigungsmechanismus könnte darüber hinaus auch in Erwägung gezogen werden, dem ESM ergänzend die Funktion einer unabhängigen Fiskalbehörde zu übertragen. Dazu könnten ihm die bisher bei der Europäischen Kommission liegenden Aufgaben der Bewertung der Haushaltsentwicklungen und der Einhaltung der Fiskalregeln übertragen werden“ (S. 64).

Betrachten wir erstens die Überwachung der wirtschaftspolitischen Auflagen. Ist es günstiger, wenn nicht Kommission und EZB über die Einhaltung der Auflagen wachen, sondern der ESM? Aus der Geschichte des Internationalen Währungsfonds (IWF) lassen sich diesbezüglich wichtige Lehren ziehen. Auch der IWF vergibt ja subventionierte Kredite an überschuldete Mitgliedstaaten und verhängt dabei wirtschaftspolitische Auflagen. Der IWF hat im Zeitraum 1991-2012 insgesamt 41 Programme wegen Nichterfüllung seiner Auflagen abgebrochen (Urbaczka, Vaubel 2013). Das ist zwar mehr, als der ESM vorweisen kann – nämlich überhaupt keine Abbrüche, aber auf 21 dieser 41 abgebrochenen IWF-Programme folgte bereits am folgenden Tag ein neues Programm. Dreissig Staaten erhielten einen Anschlusskredit innerhalb eines Jahres. Nur fünf Staaten bekamen nach dem Abbruch ihres Programms vom IWF keinen Kredit mehr.

Weshalb vergibt der IWF immer wieder neue Kredite an Staaten, die nach seiner eigenen Einschätzung die Auflagen nicht eingehalten haben? Weil auch er sich über die Marge zwischen seinem Kreditzins und dem Zins, den er seinen Gläubigern zahlt, finanziert. Wenn er – wie zum Beispiel 2007 – nicht genug Kredite vergibt, kann er seine Verwaltungskosten nicht decken und muss Personal abbauen. Die Regierungen der Schuldnerländer wissen das und nehmen daher die Auflagen nicht ernst, denn sie bekommen ja doch wieder einen neuen Kredit.

Genau so könnte es dem ESM ergehen – bei der Überwachung der Auflagen, aber auch bei der Einschätzung der Schuldentragfähigkeit und des Finanzbedarfs. Um genug Kredite vergeben zu können, würde er die Schuldentragfähigkeit zu optimistisch beurteilen und den Finanzbedarf zu großzügig kalkulieren. Weniger verzerrte Einschätzungen erhält man, wenn man nicht die Kredit gebende Institution, sondern wie bisher die EU-Kommission und die EZB fragt. Die Kommission ist besser geeignet als die EZB, weil nicht alle EU-Staaten der Währungsunion angehören. Noch neutraler wäre zum Beispiel die OECD, weil die Euro-Staaten dort in der Minderheit sind. Ungeeignet wäre dagegen der IWF (obwohl er zum Beispiel die Schuldentragfähigkeit Griechenlands realistischer einschätzt als Kommission und EZB). Denn der IWF vergibt selbst Kredite und kann daher an verzerrten Einschätzungen interessiert sein.

Kann man die Anreizprobleme des ESM dadurch beseitigen, dass man ihn aus Steuermitteln finanziert? Sicher nicht, solange er bei seinen Ausleihungen weiterhin eine Zinsmarge erwirtschaftet. Aber selbst wenn das geändert würde, wäre auf den ESM kein Verlass. Denn die Hilfsprogramme sind für die ESM-Bürokratie nicht nur eine Einnahmequelle, sondern auch eine Quelle von Macht und Ansehen, und die Kosten der verfehlten Kreditvergabe tragen nicht die ESM-Beamten, sondern die Steuerzahler.

Ist es sinnvoll, wie die Bundesbank zweitens anregt, den ESM bei Umschuldungen einzuschalten? Als Gläubiger der umschuldenden Staaten sind die ESM-Beamten daran interessiert, dass sie selbst keine Forderungen abschreiben müssen und dass die anderen Gläubiger auf einen möglichst grossen Teil ihrer Forderungen verzichten. Auch im Fall der Umschuldung steht das Eigeninteresse des ESM-Personals daher einer vernünftigen Lösung im Weg. Effizient wäre die Einschaltung des Pariser bzw. Londoner Clubs, die ja auch sonst für Umschuldungen zuständig sind.

Sollte der ESM drittens im Rahmen des „Sixpack“ anstelle der Kommission die Haushaltsentwicklungen bewerten und die Einhaltung der Fiskalregeln überwachen, wie es die Bundesbank vorschlägt? Die Kommission hat leider wegen politischer Rücksichtnahmen immer wieder ein Auge zugedrückt. Aber wäre der ESM standhafter? Schäuble sagt: „Der ESM würde die Haushaltsentwürfe nicht politisch, sondern streng nach den Regeln beurteilen“ (Stuttgarter Zeitung, 15.10.16). Dafür könnte auf den ersten Blick sprechen, dass die Geldbußen, die die Euro-Staaten bei übermäßigen Haushaltsdefiziten zahlen müssten, dem ESM zufließen würden (EU 1177/2011, Art. 16). Dennoch ist das Gegenteil zu erwarten: Wir würden vom Regen in die Traufe kommen. Die EU-Kommissare werden zwar von den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgewählt und beeinflusst, aber sie sind weisungsunabhängig. Im ESM dagegen würden letztlich die Finanzminister als Gouverneure selbst entscheiden – also diejenigen, die die Haushaltsdefizite höchstpersönlich zu verantworten haben. Sie haben keinen Anreiz, Geldbußen einzutreiben, die sie selbst bezahlen müssen. Wollen Schäuble und Weidmann die Böcke zu Gärtnern machen? Der Stabilitäts- und Wachstumspakt würde nur dann funktionieren, wenn die vorgesehenen Sanktionen automatisch greifen würden. Das ist aber nicht konsensfähig. Damit ist schon Theo Waigel 1996 gescheitert.

Erstmals erschienen bei Ökonomenstimmen.

Photo: Wikimedia Commons (CC BY 2.0)

Von Norbert Häring, Journalist.

Das Verwaltungsgericht Frankfurt hat entschieden, dass die Rundfunkanstalten nicht verpflichtet sind, das gesetzliche Zahlungsmittel zur Begleichung des Rundfunkbeitrags anzunehmen. Die Urteilsbegründung ist nach meiner laienhaften und unmaßgeblichen Ansicht ein schlechter Witz. An Bundesgesetze und das EU-Recht müssen sie sich nicht halten, wenn ihnen das lästig wäre, meint das Gericht. Berufung ist zugelassen!

Sie mögen geneigt sein, mich für einen schlechten Verlierer zu halten. Aber einerseits ist ja noch nichts verloren, sondern ein höherrangiges Gericht, der Hessische Verwaltungsgerichtshof, darf entscheiden. Zum Anderen möchte ich Ihnen die Möglichkeit geben,sich selbst ein Bild von der sonderbaren Urteilsbegründung der aus drei Berufsrichtern und zwei Laien bestehenden Kammer zu bilden.

„Der Beklagte ist nicht verpflichtet, Barzahlungen des Klägers zur Tildung seiner Rundfunkbeitragsschuld anzunehmen. Er befindet sich daher nicht in Annahmeverzug.“ So lautet das Urteil. Dem „steht auch nicht der wegen Art 31 GG vorrangige §14 Abs. 1 S. 2 BbankG entgegen. Nach (diesem) sind auf Euro lautende Banknoten das einzige unbeschränkte Zahlungsmittel.“

Das Schlüsseladjektiv „gesetzliche“ im Gesetzestext wird weggelassen. Es ist zentral für die Unterscheidung zwischen dem Zahlungsmittel Giroguthaben bei Banken und dem einzigen gesetzlichen Zahlungsmittel Banknoten. Giroguthaben sind ein Versprechen auf Auszahlung des gesetzlichen Zahlungsmittels. Der vom Gericht erwähnte Artikel 31 GG begründet den für unsere Argumentation zentralen Grundsatz, dass Bundesrecht entgegenstehendes Landesrecht bricht.

Dann kommt eine erste wichtige Erkenntnis. Es ist nach Ansicht eines deutschen Verwaltungsgerichts unklar, ob – wie Bundesbank und EU-Kommission meinen – ein grundsätzlicher Annahmezwang bezüglich des gesetzlichen Zahlungsmittels besteht.

Es kann offen bleiben, ob daraus – wie der Kläger meint – einfachgesetzlich bzw. unionssekundärrechtlich als geldpolitische Regelung eine grundsätzlich jedermann – und auch öffentliche Stellen – treffende Obliegenheit folgt, auf Euro lautende Banknoten zur Begleichung einer Schuld in bar anzunehmen, mit der Folge, dass andernfalls Gläubigerverzug eintritt. Alternativ kommt – wou die Kammer neigt – in Betracht, dass §14 Abs 1 S. 2 BbankG (…) lediglich die währungspolitische Aussage des §14 Abs 1 S. 1 BbankG verdeutlich, dass ausschließlich die Bundesbank das Recht zur Ausgabe von Euro-Banknoten hat.

In diesem Absatz vermute ich den Grund, warum es einen Monat dauerte, bis das Urteil ausgefertigt und zugestellt wurde. Die Richter wurden sich offenbar nicht einig, was aus §14 Abs 1. S. 1 Bundesbankgesetz folgt, und ließen diese zentrale Frage daher offen. Und jetzt kommt der schlechte Witz: Offen kann das bleiben, weil:

Denn der Anwendungsbereich des §14 Abs. 1 S 2 BbankG ist jedenfalls dahingehend teleologisch zu reduzieren, dass in Massenverfahren im Abgabenrecht eine unbedingte Verpflichtung zur Annahme von Bargeld seitens des Abgabengläubigers nicht besteht. Eine Kollision mit höherrangigem Bundesrecht liegt daher im Fall des §10 Abs. 2 der Rundfunkbeitragssatzung nicht vor.

In Laiensprache übersetzt: Würde das Bundesbankgesetz einen Annahmezwang begründen, würde der nur dann gelten, wenn es für die verpflichtete öffentliche Stelle nicht lästig wäre. Weil der Bundesgesetzgeber das zwar nirgends formuliert, aber mitgedacht habe, trete auch das Problem nicht auf, dass der Landesgesetzgeber (bei der Rundfunkgesetzgebung handelt es sich um Landesrecht) und die Rundfunkanstalten keine Befugnis haben, den Regelungsgehalt von Bundesgesetzen einzuschränken oder Regelungen zu erlassen, die Bundesgesetzen widersprechen. Das Gericht meint also, wenn sich Gesetze im Lauf der Zeit als unpraktisch für Behörden erweisen, müssen sie nicht geändert werden. Man geht einfach davon auf, dass der Gesetzgeber schon so gewollt hätte, das die Regelung ignoriert wird, wenn sie sich als unpraktisch erweist. Das liest sich dann in der Urteilsbegründung weiter so: „Bei Massenverfahren im Abgabenrecht – und hierzu ist das Recht der Rundfunkbeiträge zu zählen – ist es aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung und Verwaltungspraktikabilität angezeigt, einen rein unbaren Zahlungsverkehr zuzulassen.“

Es gibt keinen Verweis auf irgendein Urteil oder einen Gesetzeskommentar, der diese originelle Rechtsauffassung stützen würde, stattdessen die gut versteckte Einräumung:

Auch der Vergleich zu den zugestandenermaßen auf derselben Normebene eines Bundesgesetzes stehenden – steuerrechtlichen Vorschriften der §224 Abs 3 S. 1 AO (Abgabenordnung) (…) zeigt, dass in solchen abgabenrechtlichen Massenverfahren Ausnahmen von der auch baren Zahlungsmöglichkeit möglich sind und auch erforderlich sein können.

Es steht nicht in Zweifel, dass der Bundesgesetzgeber Bundesgesetze ändern und einschränken darf. Bestritten wird von uns, dass der Landesgesetzgeber das darf. Das Gericht räumt mit dem „zugestandenermaßen“ ein, dass ihm das bewusst ist, macht dann aber weiter, als wäre nichts gewesen. Es kommt nichts mehr, was das „zugestandenermaßen“ wieder aufnehmen und begründen würde, warum ein solches Recht auch Landesgesetzgebern zustehen sollte.

Ganz abgesehen davon wird die Vorschrift der Abgabenordnung verengt angeführt. Sie erlaubt den Finanzämtern nur unter der Bedingung die Kassen für Barzahlungen zu schließen, dass Kreditinstitute am Ort ermächtigt werden, Barzahlungen „gegen Quittung“ für das Finanzamt anzunehmen. „Gegen Quittung“ bedeutet, dass Bank zur Erfüllungsgehilfin des Finanzamts wird, und die Schuld mit Einzahlung bei der Bank erloschen ist. Das ist bei der Barüberweisungsmöglichkeit, auf die die Rundfunkanstalten verweisen, dezidiert nicht der Fall. Die Schuld ist erst beglichen, wenn das Geld nachweislich auf dem Konto der Rundfunkanstalt eingegangen ist. Gegen die verbreitete Praxis der Finanzämter, die Kassen zu schlissen, ohne der ausdrücklichen Verpflichtung durch die Abgabenordnung Genüge zu tun, dafür mindestens ein Kreditinstitut am Ort zur Ausstellung einer Quittung zu ermächtigen, ist mindestens ein Verfahren anhängig.

Aber mit solchen Feinheiten hält sich das Gericht nicht auf, sondern zeigt noch einmal den exzessiv praktikabilitätsorientierten Geist des Urteils, indem es darauf verweist, dass die Landesgesetzgeber ja auf Verwaltungsvereinfachung abzielten, und da könne man sie doch nicht an Bundesgesetze binden, die der Verwaltungsvereinfachung entgegenstehen:

Die Einführung des Rundfunkbeitrags anstelle der Rundfunkgebühr bezweckte gerade die Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens. Im Rahmen des stark typisierenden Rundfunkbeitragsrechts stünde es in diesem Zusammenhang außer Verhältnis, den Rundfunkanstalten aufzugeben, eigens für einzelne Beitragspflichtige derzeit nicht bestehende Barzahlungskassen einzuführen.

Was die Hinterlegung des geschuldeten Beitrags beim Amtsgericht angeht, urteilte das Verwaltungsgericht nicht, das diese Frage erst bei einer etwaigen Vollstreckungsabwehrklage zu behandeln wäre. Es machte aber deutlich, dass es die Hinterlegung wegen fehlenden Annahmeverzugs für unrechtmäßig hält.

Aktenzeichen: 1 K2903/15.F
Kurzfassung des Urteils

Erstmals erschienen auf dem Blog von Norbert Häring.

Photo: Ryan Lea from Flickr (CC BY 2.0)

Von  Prof. Dr. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Business and Information Technology School (BiTS) in Berlin.

Rezzo Schlauch beklagt in seinem Causa-Beitrag den angeblichen Ausverkauf deutscher Industriejuwelen (KUKA, OSRAM) und warnt vor einem „naiven“ Freihandelsverständnis. Ohne staatliche Kontrolle gelange deutsche Technologie ungeschützt in die Hände chinesischer Investoren. Mit dieser Drohkulisse reiht er sich ein in die Wortführer des grassierenden Neoprotektionismus. Dieser wurzelt – wie schon seine Vorläufer – tief in nationalen Denkschablonen und appelliert an primitive Instinkte, um Einzelinteressen mit staatlichem Flankenschutz über das Gemeinwohl zu setzen. Nur der Anlass, nicht aber die Muster der Argumente sind neu. Dementsprechend reproduziert er eine Reihe längst überwunden geglaubter Irrtümer.

Erstens handelt es sich nicht um die Technologie eines diffusen deutschen Kollektivs, sondern um die Technologie von KUKA oder OSRAM oder anderen unternehmerischen Innovatoren. Das Recht auf die Verwertung dieser Technologie liegt exklusiv bei deren Eigentümern. Diese müssen – von militärischen Belangen einmal abgesehen – niemanden um Erlaubnis fragen, wie sie mit den Früchten ihrer Entwicklungsarbeit umgehen. Umgekehrt ist die Nichteinmischung der Wirtschaftspolitik kein Ausdruck von „Lethargie“ oder „Geschehen-Lassen“, sondern der Normalfall in einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Die Intervention ist begründungsbedürftig, nicht das freie Spiel der Marktkräfte. Wenn alles, was keine ausdrückliche staatliche Erlaubnis erlangt, in die Nähe des Suspekten oder gar Schädlichen rückt, gerät die Eigentumsordnung in Gefahr.

Zweitens haben Unternehmen keinen Pass. Wie deutsch die „deutsche Industrie“ sein mag, ist eine ebenso offene wie belanglose Frage. Eigentümerstruktur, Mitarbeiterherkunft, Wertschöpfungsanteile oder Absatzschwerpunkte würden verwirrend andere Antworten nahelegen als der Standort der Zentrale. In Unternehmen schließen sich Menschen zusammen, die ein gemeinsames ökonomisches Ziel verbindet. Hierbei erscheinen Staatsgrenzen nie als Begründung, sondern allenfalls als Hemmnis wirtschaftlicher Entfaltung. Von „unserer“ Industrie zu sprechen, ist ein Relikt aus der Zeit des Stammesdenken und damit ein Appell an atavistische Reflexe. Im rationalen ökonomischen Diskurs sollte man sich davon freimachen.

Drittens kann von einem Ausverkauf keine Rede sein. Chinesische Investoren reißen sich auch nichts unter den Nagel. Bei Unternehmenskäufen kommt derjenige zum Zuge, der dem Verkäufer das beste Angebot macht. Stehen Unternehmen aus Deutschland zum Verkauf, können Investoren aus aller Welt mitbieten. Zum Geschäftsabschluss kommt es nur, wenn beide einen Vorteil darin sehen. Der Wert der zukünftigen Früchte, die die Nutzung der Technologien von KUKA, OSRAM & Co erwarten lassen, spiegelt sich im heutigen Kaufpreis. Je wertvoller die Technologie, desto höher der Preis, wobei der Käufer diesen Wert höher einschätzt als der Verkäufer. Auch das ist völlig normal und hängt mit den relevanten Alternativen beider Seiten zusammen. So kann der Anbieter offenbar mit den Verkaufserlösen mehr anfangen als mit der unveränderten Weiternutzung seiner Technologie. Möglicherweise fließen die Mittel sogar als Kapitalaufstockung in dasselbe Unternehmen und ermöglichen so erst die Skalierung des bisherigen Geschäftsmodells. Die politischen Warner vor grenzüberschreitenden Übernahmen müssten für sich in Anspruch nehmen, den Unternehmenswert besser einschätzen zu können als die Eigentümer selbst. Wenn marktferne Bürokraten sich für die besseren Unternehmer halten, sind die Ergebnisse meist ernüchternd. Bislang sind die Interventionisten den Nachweis überlegenen Wissens jedenfalls schuldig geblieben. Stattdessen gibt es eine lange Liste von Fehleinschätzungen, wenn Politiker „Zukunfts“-Technologien ausrufen. Sie reicht von der Atomkraft, über den Transrapid bis zur Photovoltaik. Ohne Subventionen hätte es diese kostspieligen Fehlschläge so nie gegeben. Das Scheitern der Photovoltaik räumt Rezzo Schlauch selbst ein – aber natürlich waren auch hier nur wieder die Chinesen schuld.

Viertens ergibt sich ein Technologieverkauf immer wieder dadurch, dass sich die hochentwickelten Länder tendenziell auf Forschung und Entwicklung spezialisieren. Das kennzeichnet die komparativen Vorteile der westlichen Welt. Die Technologiepioniere entwickeln neue Produkte oder Verfahren, bringen sie zur Marktreife und verkaufen einige davon an weniger innovative Betreiber. Wollten die Entwickler auch überall noch den industriellen Betrieb bis zum Ende des Produktionslebenszyklus unter ihrer Regie behalten, wären bald kaum noch Ressourcen für echte Neuerungen frei, sondern blieben in der industriellen Anwendung bekannten Wissens gebunden. Werden die Erlöse aus dem Technologieverkauf in die nächste Generation von Innovationen investiert, wächst immer wieder Neues heran, was Interessenten aus aller Welt zum Tausch angeboten werden kann. Die Voraussetzungen dafür zu schaffen, haben die Akteure in den Ländern selbst in der Hand (Bildung, Infrastruktur, Regulierung etc.). Statisch am Erreichten festzuhalten, bedeutet Stillstand. Nicht wenige, die sich den Anschein des Fortschrittsschützers geben, konservieren nur die Errungenschaften von gestern. Diese könnten aber morgen schon alt aussehen.

Fünftens sind grenzüberschreitende Unternehmenszusammenschlüsse ein wichtiger Motor der weltweiten Wissensdiffusion, ohne die die globale Wohlstandsexplosion der letzten Jahrzehnte ausgeblieben wäre. Im Gegensatz zur Industriespionage als einer Form des Raubs werden dabei die marktwirtschaftlichen Anreize für die Innovatoren gewahrt.

Die Ansicht, chinesische Infrastrukturinvestoren hinterließen im Ausland vor allem verbrannte Erde, mutet ebenfalls seltsam an. Wäre es so, dann wird sich das auch für die chinesische Seite auf Dauer als Verlustbringer erweisen. Wer dumpt, zahlt drauf, solange sich Märkte nicht dauerhaft monopolisieren lassen. Und davon sind auch „die Chinesen“ weit entfernt. Dass deren Produktqualität oft nicht westlichen Standards entspricht, sagt überhaupt nichts über die Vorteilhaftigkeit der Projekte für die Zielländer aus und hat mit Dumping nichts zu tun. Das technisch Beste ist noch lange nicht das ökonomisch Beste. Qualität muss man sich leisten können. Welche Standards in Frage kommen, hängt vor allem vom bereits erreichten Wohlstand ab (das gilt auch für sogenannte Sozialstandards). In Entwicklungs- und Schwellenländern kann daher eine vermeintlich veraltete Technik ökonomisch genau das Richtige sein.

Handelspartner ­– makroökonomisch in ein nationales Silo gepfercht – erscheinen für manche Beobachter umso bedrohlicher, je größer sie sind. Da fällt es dann leicht, China zur Drohkulisse aufzubauen. In dieser Logik werden aus Handelspartnern Handelsgegner, bei denen der eine nur gewinnen kann, was der andere verliert. Die Vorstellung des Welthandels als eines globalen Nullsummenspiels ist der Dauerbrenner des Merkantilismus. Diesem Irrglauben aus der ökonomischen Mottenkiste können auch heute viele nicht widerstehen. So sei der Handel mit Maschinen nur solange vorteilhaft, wie „Deutschland“ (gemeint sind Unternehmen in Deutschland) mehr exportiert als importiert. Dahinter steht die simple Übertragung der Sicht eines Exportunternehmens auf die gesamte Volkswirtschaft. Diese besteht aber nicht nur aus Exportunternehmen, sondern auch aus Konsumenten. Und deren Versorgung ist der finale Zweck des Wirtschaftens. Nur an diesem Zweck lassen sich Gemeinwohleffekte festmachen, nicht an den Partikularinteressen eines Wirtschaftszweiges.

Freier Austausch von Gütern und Kapital sind das Ideal einer offenen Weltwirtschaftsordnung. Zölle, Subventionen und unzählige nicht-tarifäre Regulierungen aus dem Arsenal des Protektionismus verzerren den Wettbewerb und schädigen alle Beteiligten. Wer sich abschottet, schadet sich und anderen, weil er die weltweiten Tauschvorteile verringert. Der chinesischen Führung ist hier manches vorzuwerfen. Die Antwort darauf kann aber nicht sein, die globalen Kooperationsfelder zur Strafe noch weiter einzuengen. Das Ergebnis dieser Sandkastenlogik wäre eine endlose Sanktionsspirale, durch die ökonomische Aktivität wieder innerhalb von Staatsgrenzen eingesperrt wird. Dies zu vermeiden ist nicht naiv, sondern klug. Kleine Länder sind das beste Beispiel dafür. Weil sie klein sind, fehlt ihnen das Gewicht für ökonomische Drohgebärden. Reich sind sie oft trotzdem und zwar immer dann, wenn sie sich für die übrige Welt öffnen.

Erstmals erschienen in der Rubrik Causa im Tagesspiegel.

Photo: Daughterville Festival – Stefan Malz from Flickr (CC BY 2.0)

Von Justus Lenz, Leiter Haushaltspolitik bei Die Familienunternehmer/Die Jungen Unternehmer

Um die wirtschaftliche Bildung an deutschen Schulen ist es in der Regel leider schlecht bestellt. Wirtschaft als Schulfach gibt es nur in einigen wenigen Bundesländern und dann meist als Mischfach wie Wirtschaft und Recht. In der Regel kommen Schüler nur am Rande mit wirtschaftlichen Themen in Berührung, in so verschiedenen Fächern wie Erdkunde oder Geschichte. Die Vermutung liegt nah, dass die fachfremden Lehrer wirtschaftliche Themen eher wenig durchdrungen haben und zudem eher marktskeptisch geprägt sind.

Ob Lehrer im Unterricht auf ihre Schüler ideologisch einwirken, ist zwar schwer nachprüfbar. Gut untersucht werden kann jedoch, ob die Jugendlichen schon in Schulbüchern mit falschen Fakten, Emotionalisierungen und tendenziösen Behauptungen beeinflusst werden. Schulbuchstudien zeigen leider, dass genau dies der Fall ist.

Wirtschaftswachstum und Wohlstand bringen beispielsweise Arbeitslosigkeit – jedenfalls wenn man dem Schulbuch Terra Erdkunde 9/10 Niedersachsen glaubt. Hier heißt es:

„Ständiges Wirtschaftswachstum und damit wachsender Wohlstand haben aber (…) in zunehmendem Maße auch Arbeitslosigkeit zur Folge“ (2007, Seite 58).

Die Behauptung dieses sachlich falschen Zusammenhangs ist an sich schon schlimm genug. Geradezu zynisch wirkt die Aussage jedoch, da sie im Kontext Entwicklungspolitik getroffen wird. Der Schulbuchautor weist darauf hin, dass Wirtschaftswachstum folglich kein erstrebenswertes Ziel für Entwicklungsländer sei. Der Wohlstand und überhaupt die ganze Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung von Industrieländern werden als wenig nachahmenswertes Modell dargestellt – wobei sich natürlich die Frage aufdrängt was denn die Alternativen seien. Hier aber werden die Schüler ohne konkrete Antworten allein gelassen.

Es gibt weitere Beispiele von tendenziösen Passagen in Schulbüchern. So heißt es im Schulbuch „Die Reise in die Vergangenheit 3“:

„Für den Unternehmer waren die Maschinen wertvoller als die Arbeiter.“ (2007, S. 168).

Zum Glück gibt es auch Beispiele dafür, dass wirtschaftliche Themen in Schulbüchern objektiv dargestellt werden. So zeigt eine qualitative Studie von Hamburger WeltWirtschaftsInstitut und Universität Erfurt sogar, dass die Darstellung wirtschaftlicher Themen in ökonomienahen Fächern (z. B. Politik und Wirtschaft) überwiegend objektiv ist.[i] Eine marktkritische und zum Teil ideologische Färbung lässt sich dagegen jedoch leider in vielen Schulbüchern ökonomieferner Fächer wie Erdkunde und Geschichte feststellen, wenn sich die Schulbuchautoren in das Feld ökonomischer Zusammenhänge begeben. Auch eine empirische Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft bestätigt die teilweise sehr unsachliche Darstellung wirtschaftlicher Zusammenhänge in Schulbüchern.[ii]

Diese Ergebnisse machen deutlich, dass es noch viel Verbesserungspotential gibt, das angesichts der Bedeutung der Ökonomie als Grundlage für gesellschaftliche Entwicklungen und politische Entscheidungen genutzt werden sollte. Hier sind natürlich zunächst die Schulbuchverlage gefragt. Die Ergebnisse legen aber auch nahe, dass ein eigenständiges Schulfach Wirtschaft in allen Bundesländern an allen weiterführenden Schulen eingeführt werden sollte. Die ökonomische Bildung ist viel zu wichtig, als dass wir sie fachfremden Lehrern überlassen können.

[i]           Justus Lenz, Die Darstellung von Marktwirtschaft und Unternehmertum in Schulbüchern in Deutschland und in der deutschsprachigen Schweiz, Liberales Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, 2010.

[ii]              Helmut E. Klein, Unternehmer und Soziale Marktwirtschaft in Lehrplan und Schulbuch – Der Beitrag gesellschaftswissenschaftlicher Schulbücher zur Ökonomischen Bildung, Institut der Deutschen Wirtschaft, 2011.

Photo: futurestreet from Flickr (CC BY 2.0)

Von Gottfried Heller, Vermögensverwalter und Autor des Buches „Der einfache Weg zum Wohlstand„.

Angela Merkel ist sauer. Mal wieder. Hat es doch der DGB gewagt, so kurz vor der Bundestagswahl auf die Krise der Rentenversicherung aufmerksam zu machen. Das befördere, klagte die Kanzlerin, ohne Not die Angst vor Altersarmut. Und  das nutze der AfD. Mit diesem Totschlagargument kann sie aber nicht jedes Problem unter den Teppich kehren. Vor allem dann nicht, wenn es so himmelschreiend ist wie bei der Altersvorsorge.

Die Kanzlerin hätte nur ihre Sozialministerin Andrea Nahles fragen müssen. Die hatte Ende September alarmierende Ergebnisse vorgestellt: Wenn alles bleibt wie es ist, wird das gesetzliche Rentenniveau von 47,8%bis 2030 auf 44% und bis 2045 auf 41,6% fallen. 2001 waren es noch 52,6% des Durchschnittslohns. Trotzdem von drohender Altersarmut keine Spur, meint Merkel. Was nicht sein darf, kann auch nicht sein.

Dabei sind die neuen Zahlen von der Tendenz her längst bekannt. 2012 hatte die damalige Sozialministerin von der Leyen vorgerechnet, 2030 müssten Arbeitnehmer, die weniger als 2500 Euro verdienen, „mit dem Tag des Renteneintritts den Gang zum Sozialamt“ antreten. Dabei fangen die Probleme ab 2030 erst richtig an, weil dann die geburtenstärksten Jahrgänge in Rente gehen.

Aber statt überfällige Reformen –auch schmerzhafte – durchzuführen, die von Schwarz-Rot mit 80% Stimmenmehrheit leicht umsetzbar gewesen wären, hat Kanzlerin Merkel die Chance leichtfertig vertan und das Thema „Rente“ in der Schublade versenkt. Mit ihrem üblichen Aussitzen hat sie wertvolle Zeit vergeudet, Zeit, die eine Reform der Alterssicherung nicht hat. Stattdessen verteilte die „GroKo“ mit abschlagfreier Rente mit 63 und Mütterrente neue Wohltaten, die bis 2030 zusätzlich 130 Milliarden Euro kosten.

Falls Frau Nahles in ihrem für November angekündigten neuen Rentenkonzept die Forderung ihres Parteichefs Sigmar Gabriel und des DGB erfüllt, das Rentenniveau auf dem jetzigen Stand einzufrieren, wird alles noch viel teurer – 2030 entstünden Mehrkosten von jährlich 19 Milliarden Euro und 2045 von sage und schreibe 40 Milliarden Euro. Finanziert werden müsste das mit einem Sprung des Beitragssatzes von 18,7% auf 26,4%. Nahles hat die Schleusen schon geöffnet und erklärt, die Beiträge blieben „nicht bei den 22% stehen“, die als Höchstgrenze bis 2030 festgeschrieben sind.

Wie man es dreht und wendet, die Regierung hat nur drei Stellschrauben: die Rentenhöhe, den Beitragssatz und das Renteneintrittsalter. Mal ist die Lösung zu teuer, mal menschlich nicht zumutbar oder ideologisch nicht akzeptabel. Die Rechenakrobaten im Sozialministerium mühen sich vergeblich: Der frühere SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering hat es auf den Punkt gebracht: „Weniger Kinder, später in den Beruf, früher raus, länger leben, länger Rente beziehen: Wenn man das nebeneinander legt, muss man kein Mathematiker sein, da reicht Volksschule Sauerland, um zu wissen: Das kann nicht gehen!“ Recht hat er, der Sauerländer Müntefering. Er wollte bildhaft klarmachen, dass ein späterer Rentenbeginn und Abstriche bei der Rentenhöhe unvermeidbar sind. Nahles und Merkel hätten wohl Volksschule Sauerland nicht geschafft. Aber für die Bundesregierung hat es allemal gereicht.

Um wachsende Altersarmut zu vermeiden, muss schnellstens eine Stärkung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge erfolgen. Das hat die Koalition zwar vor – aber mit den Mitteln, die schon in der Vergangenheit versagt haben, nämlich solchen, die auf Lebensversicherungen basieren. Die setzen  fast nur auf Zinsanlagen und verzichten weitgehend auf Aktien. Ausgerechnet  die langfristig ertragreichste Anlageform wird mit 4 % Anteil sträflich vernachlässigt.

Die heftig gescholtene Riester-Rente, die betrieblichen Pensionskassen und neue Lebensversicherungsverträge werfen deswegen lächerliche Renditen ab. Mit deutscher Gründlichkeit, mit Regulierungswut, teuren Garantieversprechen, Risikoscheu und Aktienfeindlichkeit ist das System der Altersvorsorge deshalb zur Zeitbombe geworden.

Schon in biblischen Zeiten gab es eine Regel, wie das Vermögen am besten aufzuteilen sei: Ein Drittel im Beutel, ein Drittel in Häusern, ein Drittel in Geschäften. Übersetzt heißt das: Ein Drittel in Festgeld und Festverzinslichen, ein Drittel in Immobilien und ein Drittel in Aktien. Die Deutschen dagegen sind in Geschäften – also Aktien mit 8 % Anteil am Gesamtvermögen – total unterinvestiert. Wollten sie bibeltreu anlegen, müssten sie den Aktienanteil vervierfachen. Das würde sich lohnen.

Aktien sind langfristig die mit Abstand ertragreichste Anlageform. Einschließlich wieder angelegten Dividenden betrugen die durchschnittlichen jährlichen Renditen in den 45 Jahren bis 2015 an den wichtigsten Börsen 10 bis 11 Prozent. Davon können die von Albträumen geplagten Zinssparer nur träumen.

Für die private und betriebliche Altersvorsorge ist deshalb ein viel höherer Aktienanteil unverzichtbar. Anstatt aber das Rad neu zu erfinden, würde ein Blick ins Ausland helfen, um bewährte Lösungen zu finden und zu übernehmen.

In der Schweiz können Einzahlungen in die „gebundene Vorsorge“ bis zu bestimmten Höchstbeträgen vom zu versteuernden Einkommen abgezogen werden, und die Kapitalzuwächse bei Aktien, Anleihen, Fonds, etc. sind in der Ansparphase steuerfrei. Der Maximalbetrag beläuft sich 2016 bei Personen ohne betriebliche Vorsorge auf 20% des Nettoeinkommens, maximal umgerechnet rund

31 000 Euro, bei Personen mit beruflicher Vorsorge – die in der Schweiz üblich ist – auf gut 6200 Euro. Nach der Auszahlung werden die Erträge  zu vergünstigten Sätzen besteuert.

In Frankreich gibt es den Aktiensparplan PEA (Plan d Épargne en Actions), in den Jeder bis zu 150 000 Euro in Aktien, Fonds und Zinsanlagen investieren kann. Voraussetzung: 75 % der Aktien sind von Unternehmen aus der EU. Die Erträge sind steuerfrei, ab fünf Jahren  Haltedauer auch die Kursgewinne. 2014hat die Regierung zusätzlich einen PEA für kleine und mittlere Unternehmen eingerichtet, in den weitere 75 000 Euro angespart werden können. Ein Ehepaar kann zusammen also bis zu 450 000 Euro in renditestarken Aktien und Fonds investieren. Im Vergleich dazu sind die Riester-Höchstbeträge ein Witz.

Die USA sind ein Musterbeispiel betrieblicher und privater Altersvorsorge. Da dort die Beitragssätze zur Rentenversicherung mit 12,4 % um 6,3 Prozentpunkte niedriger sind als in Deutschland – und seit über 30 Jahren unverändert – haben Arbeitnehmer netto mehr von ihren Löhnen übrig, und Unternehmen müssen weniger einzahlen. Dieses „eingesparte“ Geld fließt seit 1978 vielfach in die betriebliche Vorsorge, die mit dem 401(k) Plan eine rentable und flexible Lösung bietet. Viele Arbeitgeber beteiligen sich mit 50 bis 100% an den Beiträgen. Die Arbeitnehmer können bis zu 18 000 Dollar (2016) jährlich einzahlen, über 60-jährige zusätzlich 6000 Dollar. Die Beiträge fließen überwiegend in Aktien- und gemischte Fonds, bei denen die Anlagestrategie auf das erwartete Rentenalter abgestimmt wird. Sie sind für Arbeitnehmer steuerfrei, der Arbeitgeber kann seinen Anteil als Betriebsausgaben absetzen. Zusätzlich gibt es den Roth-IRA, mit dem aus versteuertem Einkommen Vorsorgevermögen bis zu jährlich 5500 Dollar gebildet werden kann. Kapitalwachstum, Dividenden und Zinsen sind nach fünf Jahren steuerfrei.

Die unkomplizierte, flexible und renditestarke Art der Altersvorsorge bewirkt, dass US-Bürger kurz vor Renteneintritt im Durchschnitt 360 000 Dollar auf ihren Vorsorge-Konten angespart haben.  Die Amerikaner besitzen laut dem Allianz Global Wealth Report über 202 000 Euro Durchschnittsvermögen, die Deutschen mit 68 000 Euro nur ein Drittel davon. Deutschland ist in der Industrie Weltklasse, bei Vermögensbildung und Altersvorsorge Provinzklasse. Das lässt sich leicht ändern.

Das Rad in der Altersvorsorge ist andernorts schon erfunden und läuft rund. Unsere überforderten Gesetzesgeber könnten es einfach kostenlos und zollfrei importieren.