Photo: houstondwiPhotos mp from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Student der Volkswirtschaftslehre, ehemaliger Praktikant bei Prometheus. 

Obwohl es für die Bürger wünschenswert wäre, dass Länder und Gemeinden die volle Kontrolle über ihre Einnahmen und Ausgaben haben, nahm die Mischfinanzierung der Ausgaben von Ländern und Gemeinden in den letzten Jahrzehnten zu. Dabei hätte die Stärkung der Steuersetzungskompetenzen der unteren föderalen Ebenen für die Bürger viele Vorteile.

In der Kommunalpolitik geht es manchmal hoch her. Die Entscheidung über den Bau einer Umgehungsstraße, die Renovierung des örtlichen Spaßbades oder die Zusammenlegung von Gemeinden hat schon so manches idyllische Dorf im Westerwald in Aufruhr versetzt. Der kundige Kommunalpolitiker hat in der Regel noch einen Trumpf in der Hand, um die Lage zu beruhigen: Wenn die Straße gebaut, das Spaßbad renoviert oder zwei Nachbargemeinden miteinander fusionieren, dann gibt es einen Zuschuss vom Land, dem Bund oder der EU.

Obwohl es für die Bürger wünschenswert wäre, dass Länder und Gemeinden die volle Kontrolle über ihre Einnahmen und Ausgaben haben, nahm die Mischfinanzierung der Ausgaben von Ländern und Gemeinden in den letzten Jahrzehnten zu.

Weniger steuerliche Verantwortung bei Ländern und Gemeinden

Die Länder und Gemeinden büßten seit der Gründung der BRD an Eigenständigkeit ein. Bereits 1955 übertrugen die Länder ihre Kompetenz zur Erhebung der Einkommensteuer an den Bund. Die „Große Finanzreform“ von 1969 hat bis heute große Auswirkungen auf die Beziehungen des Bundes zu den Ländern und Gemeinden. Mit der Finanzreform wurden Einkommen-, Umsatz- und Körperschaftsteuer zu Gemeinschaftssteuern. Die Einnahmen aus den Gemeinschaftssteuern werden unter Bund, Ländern und Gemeinden verteilt.

Bis zur Finanzreform 1969 finanzierten sich die Gemeinden nur durch Steuern, deren Erhebung ausschließlich in ihren Zuständigkeitsbereich fiel. Für die Finanzierung zusätzlicher Ausgaben mussten Politiker entweder die Steuern erhöhen oder neue Schulden machen.

Im Jahr nach der „Großen Finanzreform“ fiel der Anteil der eigenen Steuern am Gesamtsteueraufkommen der Gemeinden (blaue Linie) auf ca. 86 %. In den darauffolgenden Jahren verringerte sich der Anteil der Gemeindesteuern an den Gesamteinnahmen der Gemeinden weiter. Auch die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer 1998 machte die Gemeinden stärker von den Einnahmen aus Gemeinschaftssteuern abhängig – in diesem Fall aus Einnahmen der Umsatzsteuer. Im Jahr 2015 lag der Anteil der Gemeindesteuern an den Gesamteinnahmen der Gemeinden bei knapp 65 %.

 

 

Während sich die Zusammensetzung der Gemeindeeinnahmen stark veränderte, blieb der Anteil der Einnahmen der Gemeinden an den Gesamteinnahmen des Staates (rote Linie) nahezu konstant: Im Jahr 2015 betrug er knapp 14 %, ebenso viel wie im Jahre 1950.

Eine ähnliche Entwicklung ist bei den Finanzen der Länder festzustellen. Hier lag der Anteil der eigenen Steuereinnahmen an den Gesamteinnahmen der Länder schon vor der „Großen Finanzreform“ deutlich niedriger als bei den Gemeinden, aber der relative Rückgang des Anteils der Einnahmen aus eigenen Steuern war noch stärker.

Gut ein Viertel der Einnahmen der Länder stammten 1969 aus selbst erhobenen Steuern (blaue Linie). Im Jahr 2015 waren es nur noch 7,5 %. Der relative Anteil der Einnahmen der Länder an den Gesamteinnahmen des Staates (rote Linie) ist von ca. 34,5 % im Jahr 1950 auf knapp 40 % im Jahr 2015 gestiegen. Ein höherer Anteil der Staatseinnahmen wird zwar heute von den Ländern ausgegeben, aber ein geringerer Anteil durch eigene Landessteuern erhoben.

 

 

Stärkere Verflechtung: Weniger Transparenz und Verantwortlichkeit

Hohe Defizite und mangelnde Mittel für wichtige Projekte werden auf der Ebene nachgelagerter Gebietskörperschaften oft mit unzureichender Mittelzuweisung aus den gemeinsamen Steuern begründet. Anders als Beschwerden über zu geringe Mittel vermuten lassen, kann weniger Steuersetzungskompetenz für Kommunal- und Landespolitiker durchaus attraktiv sein.

Aus der Sicht eines Politikers ist die Ausweitung staatlicher Ausgaben ein erfolgversprechendes Mittel, um die Chancen der eigenen Wiederwahl zu erhöhen. Dagegen stößt die Erhebung von Steuern bei Bürgern meist auf wenig Gegenliebe. Von zusätzlichen Staatsausgaben können potentielle Wähler profitieren. Steuern hingegen sind für sie eine Last. Für Politiker ist es somit attraktiv, potentiellen Wählern zusätzliche Leistungen in Aussicht zu stellen, ohne ihnen zugleich die Rechnung dafür vorlegen zu müssen. So profitieren sie von der intransparenten Finanzierung staatlicher Ausgaben.

Politiker können zudem ein Interesse daran haben, Entscheidungsgewalt an andere staatliche Ebenen und Organisationen zu delegieren, um Verantwortung abzutreten. Für Politiker ist es attraktiv, andere für die Höhe der Steuerbelastung verantwortlich machen zu können, während sie wenig Möglichkeiten haben, ihren Verdienst an der Ausgestaltung steuerlicher Details gegenüber Wählern positiv in den Vordergrund zu stellen, wenn sie Steuersetzungskompetenzen haben.

Mehr Subsidiarität wagen!

Die Schweiz ist ein gutes Beispiel für gelebte Subsidiarität – die Kantone haben erhebliche Steuersetzungskompetenzen. Rund 90 % der Einnahmen der Schweizer Kantone gehen auf Steuern zurück, deren Höhe die Kantone selbst bestimmen.

Die Stärkung der Steuersetzungskompetenzen der unteren föderalen Ebenen, wie den Ländern und den Gemeinden, hat für die Bürger — anders als für Regional- und Kommunalpolitiker — viele Vorteile. Die Bürger können das Handeln gewählter Politiker besser nachvollziehen. Dies stärkt die demokratische Kontrolle und Einzelinteressen können nur schwerlich auf Kosten der Allgemeinheit durchgesetzt werden. Zudem können Bürger die tatsächlichen Kosten staatlicher Aktivitäten besser einschätzen, da sie mit höheren Schulden oder höheren Steuern konfrontiert werden, wenn ein regionales Projekt ausufert oder die Kosten während der Realisierung aus dem Runder laufen.

Wird Subsidiarität gelebt und nicht nur in Sonntagsreden gepriesen, sind die Bürger außerdem im Stande, mit ihren Füßen abzustimmen. Sie können einer Region mit einem enttäuschenden Staatswesen den Rücken zukehren und sich in einer attraktiveren Region niederlassen, in der die staatlichen Leistungen nicht nur besser, sondern auch andere sein können. Politiker haben in einer solchen Situation einen zusätzlichen Anreiz, die Kosten und Nutzen von Projekten für ihre Bürger vollumfänglich in Betracht zu ziehen.

Einnahmen und Ausgaben gehören zusammen

Die Stärkung der Steuersetzungskompetenzen von Ländern und Gemeinden wäre wünschenswert. Der französische Ökonom Fréderic Bastiat schrieb:
„Der Staat ist die große Fiktion, mittelst deren alle Welt leben will auf Kosten von aller Welt.“
Je undurchsichtiger ein Staat organisiert ist, desto mehr scheint Bastiat recht zu haben. Wir sollten uns von der Fiktion lösen, dass wir auf Kosten Anderer unsere Schwimmbäder sanieren und unsere Umgehungsstraßen bauen können. Regionale staatliche Projekte und Leistungen sollten aus Einnahmen der regionalen Gebietskörperschaften finanziert werden.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Mehr Demokratie from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

In den meisten marktwirtschaftlichen Demokratien fallen Politiker nicht durch ein hohes Maß an korruptem Verhalten auf. Doch die beobachtbare und unsanktionierte Missachtung zuvor verabschiedeter Regelwerke durch Regierungsverantwortliche von EU- und Euro-Ländern in der jüngsten Vergangenheit könnte der Kooperationsbereitschaft in diesen Ländern langfristig abträglich sein.

Die marktwirtschaftlichen Demokratien des Westens genießen heute ein historisch beispielloses Ausmaß an Wohlstand und Frieden. Dieser Erfolg beruht maßgeblich darauf, dass viele der dort lebenden Menschen einige grundlegende Regeln des gesellschaftlichen Umgangs respektieren. Manche dieser Regeln sind strafrechtlich kodifiziert, etwa die Achtung vor dem Leben und Eigentum anderer Menschen. Andere sind ungeschrieben, etwa der Verzicht darauf, sich über den politischen Prozess individuelle Vorteile zulasten anderer anzueignen.

Dieser wünschenswerte Zustand ist nicht nur wirkungsvollen Sanktionen zu verdanken, sondern auch der Internalisierung von Normen. Unabhängig von drohenden externen Sanktionen wollen viele Menschen in vielen Situationen das Richtige tun. Studien legen allerdings nahe, dass Kooperationsnormen erodieren können, wenn gesellschaftlich einflussreiche Vorbilder vermehrt durch Missachtung von Regeln auffallen und dafür nicht sanktioniert werden – sei es in strafrechtlich relevanter Weise oder nicht.

Den Staat repräsentierende Politiker gehören zu den kritischen Vorbildern und nehmen somit Einfluss auf die Aufrechterhaltung von Kooperationsnormen. In den meisten marktwirtschaftlichen Demokratien fallen Politiker nicht durch ein hohes Maß an korruptem oder strafrechtlich relevantem Verhalten auf. Doch die beobachtbare und unsanktionierte Missachtung zuvor verabschiedeter Regelwerke durch Regierungsverantwortliche von EU- und Euro-Ländern in der jüngsten Vergangenheit – etwa der Maastricht-Kriterien, der Nicht-Beistandsklausel und des Dubliner Übereinkommens – könnte der Kooperationsbereitschaft in diesen Ländern langfristig abträglich sein.

Erfolgreiche und weniger erfolgreiche Gesellschaften

Gesellschaften, in denen kooperationsfördernde Regeln und Normen respektiert werden, schaffen Positivsummensituationen, reduzieren Unsicherheit in Interaktionen und bauen wertvolles Sozialkapital auf. Werden solche Regeln dagegen systematisch verletzt, verarmen Gesellschaften, werden instabil und ungerecht. Ihr öffentliches Leben ist durch Korruption, Gewalt und politische Vorteilsnahme geprägt.

Kooperationsfördernde Gesellschaften unterscheiden sich von kooperationsfeindlichen Gesellschaften in zwei maßgeblichen Punkten: Zum einen kommen Regeln der Strafverfolgungsbehörden ohne Ansehen der Person zur Anwendung. Respektspersonen und politisch Mächtige werden für Regelbrüche im selben Maße sanktioniert wie andere Menschen. In kooperationsfeindlichen Gesellschaften werden strafrechtliche Sanktionen dagegen selektiv angewandt und die politische Macht dient als Mittel, sich ungestraft über Regeln hinweg setzen zu können.

Verlässliche staatliche Sanktionen allein können den hohen Grad der Kooperation in erfolgreichen Gesellschaften jedoch nicht erklären. Die Durchsetzung kooperationsfördernder Regeln ausschließlich durch den Staat wäre schlicht zu aufwendig. Menschen in kooperationsfreudigen Gesellschaften profitieren von der ebenfalls ohne Ansehen der Person erfolgenden Achtung der ungeschriebenen Regeln des harmonischen Miteinanders – gegenüber Fremden ebenso wie gegenüber der Familie und Freunden. Auch in Gesellschaften, deren öffentliches Leben durch Korruption, Gewalt und politische Vorteilsnahme geprägt ist, strukturieren ungeschriebene Regeln des harmonischen Zusammenlebens die Interaktionen von vertrauten Personen. Aber im Umgang mit Fremden werden sie nicht beachtet. Enormes Kooperationspotential bleibt so ungenutzt.

 

 

Sozialisation verstärkt Kooperationsnormen

Experimente und Alltagserfahrung bestätigen, dass internalisierte Normen viele Menschen zu regelkonformem Verhalten anleiten, selbst wenn sie keinerlei Sanktionen oder Reputationsverluste zu befürchten haben: Sie geben zu hoch herausgegebenes Wechselgeld im Restaurant zurück, berichten im Labor unbeobachtet Würfelergebnisse wahrheitsgemäß und zahlen für entnommene Snacks, obwohl sie niemand beim Diebstahl beobachten kann.

Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass das Umfeld, in dem Menschen sozialisiert werden, einen entscheidenden Einfluss auf das Ausmaß und den Charakter der internalisierten Normen hat. Menschen, die in kooperationsfreudigen Gesellschaften aufwachsen, internalisieren die Regeln harmonischen Zusammenlebens und befolgen diese selbst dann, wenn keine Sanktionen drohen. Menschen, die in Gesellschaften aufwachsen, die durch verbreitete Regelbrüche charakterisiert sind, internalisieren dagegen Normen, welche das harmonische Zusammenleben behindern – das heißt, sie sehen Korruption, politische Vorteilsnahme und Gewalt eher als legitime Mittel an.

Ein fragiles Gleichgewicht

Dass das Aufwachsen in kooperationsfreudigen Gesellschaften zur Internalisierung von kooperationsfördernden Normen führt, bedeutet allerdings nicht, dass diese Normen nicht erodieren können. Experimente zeigen, dass Menschen ihre Kooperationsbereitschaft reduzieren, wenn sie sehen, dass andere Menschen in ihrem Umfeld selbiges tun. Beginnen manche Menschen – aus welchen Gründen auch immer – sich regelverletzend zu verhalten, kann das einen Kaskadeneffekt auslösen und zu einem neuen gesellschaftlichen Gleichgewicht führen, in dem die Regeln harmonischen Zusammenlebens nicht mehr befolgt werden.

Besonders kritisch ist das Verhalten von Vorbildern. Ihr Verhalten kann maßgebliche Auswirkungen wiederum auf das Verhalten anderer Menschen haben. Setzen sich Vorbilder über Regeln hinweg, ohne Sanktionen fürchten zu müssen, kann die Kooperationsbereitschaft aller Gesellschaftsmitglieder untergraben werden. Diese Vorbilder können familiäre oder gesellschaftliche Autoritäten, erfolgreiche Geschäftsleute und Politiker sein.

Schlechte Vorbilder: Politiker mit schwachem Regelbewusstsein

Politiker in westlichen Gesellschaften sind nicht sonderlich korrupt und fallen nicht durch überdurchschnittlich häufiges strafrechtlich relevantes Verhalten auf – ihnen drohen die gleichen Sanktionen wie anderen Gesellschaftsmitgliedern. Doch es verfestigt sich der Eindruck, dass sich Politiker häufig über die von ihnen selbst auf supranationaler Ebene gesetzten Regeln hinwegsetzen.

Nach Beginn der Finanzkrise leisteten einige EU-Staaten, darunter Deutschland, Hilfszahlungen an andere Mitgliedsstaaten – trotz der Nicht-Beistandsklausel, die eine gemeinsame Haftung für nationale Staatsschulden in der EU ausschließt. Die Maastricht-Kriterien – einst als maßgebliche Grundlage der europäischen Gemeinschaft etabliert – haben nach zahlreichen folgenlosen Verstößen ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Das Dubliner Übereinkommen zur Zuständigkeit für Asylanträge wird zwei Jahre nach Einsetzen der Flüchtlingskrise trotz formaler Geltung de facto nicht mehr beachtet.

Sanktionsmöglichkeiten sind beschränkt

Grundlos werden Regelwerke nicht missachtet – kurzfristig mag das Vorgehen Vorteile bringen, indem schmerzvolle Insolvenzen abgewendet, unpopulärer Schuldenabbau aufgeschoben oder wenig wünschenswerte Pressebilder vermieden werden. Doch langfristig begünstigt die Missachtung bestehender Regeln nicht nur die Verschleppung notwendiger Reformen, sondern untergräbt möglicherweise die Kooperationsbereitschaft der Menschen, welche beobachten, dass Politiker auf höchster Ebene die Anwendung gar niedergeschriebener Regeln aussetzen.

Weshalb werden regelmissachtende Politiker nicht stärker sanktioniert? Ein Grund liegt darin, dass viele Menschen bereit sind, die Willkür von Politikern zu tolerieren, solange sie mit den verfolgten Zielen einverstanden sind. Doch selbst, wenn Wähler das Verhalten ihrer Vertreter nicht goutieren, sind ihre Möglichkeiten beschränkt: Eine Wahl alle vier oder fünf Jahre, bei der zwischen einer Handvoll Kandidaten ausgewählt wird, liefert keine Möglichkeit gezielt zu sanktionieren. Das unterscheidet Politiker beispielsweise von Geschäftsleuten, die nach Vertragsbrüchen entweder strafrechtlich belangt oder von potenziellen Geschäftspartnern gemieden werden und so einen starken Anreiz haben, geschriebene und ungeschriebene Regeln zu achten.

Langfristige Kosten ernst nehmen

Die langfristigen Kosten der Regelmissachtung durch Politiker werden möglicherweise deutlich unterschätzt. Die mit ihnen einhergehende Konsequenzen in Form von Regime-Unsicherheit und der Verschleppung von Reformen werden regelmäßig diskutiert. Wenig Aufmerksamkeit erhielten bisher jedoch die potentiellen langfristigen negativen Auswirkungen auf die Kooperationsbereitschaft aller Gesellschaftsmitglieder.

So sehr Menschen in erfolgreichen Gesellschaften massiv von freiwilliger Kooperation profitieren, so sehr können sie leiden, wenn ihre Kooperationsbereitschaft abnimmt. Derartige mögliche langfristige Folgen verdienen mehr Aufmerksamkeit durch die Wähler, weil sie das Potential haben, die Grundfesten erfolgreicher Gesellschaften zu erodieren. Nur wenn sich die Wähler dieser möglichen Konsequenzen bewusst sind, haben Politiker einen starken Anreiz, Regeln auch dann zu befolgen, wenn ihrer Ansicht nach hehre Ziele einen Regelbruch rechtfertigen könnten.

Erstmals erschienen bei IREF.

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Von  Prof. Dr. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Business and Information Technology School (BiTS) in Berlin.

Wenn Umfragen zutage fördern, dass sich die große Mehrheit der Befragten für überdurchschnittlich gute Autofahrer hält, sorgt das allenfalls für allgemeine Erheiterung. Offenkundig trifft hier die individuelle Selbstüberschätzung als Massenphänomen auf die faktische Unmöglichkeit des Einzelnen, sich ein gehaltvolles Urteil über eine unüberschaubare Grundgesamtheit zu bilden. Und die Gesetze der Statistik legen diese Diskrepanz schonungslos bloß: der Durchschnitt kann eben nicht überdurchschnittlich gut Auto fahren. Derartige Umfragen nimmt daher zu Recht niemand ernst. Fragt man indes nach den wirtschaftlichen Verhältnissen im Land, sind zwar die Ergebnisse ähnlich widersprüchlich, die politische Reaktion darauf ist jedoch eine ganz andere. So zeigt sich in den Haushaltsbefragungen für Deutschland, dass die persönliche wirtschaftliche Lage (bis hin zur allgemeinen Lebenszufriedenheit) ganz überwiegend günstig eingeschätzt wird, während das Urteil derselben Befragten über die Lage der breiten Masse der Bevölkerung dahinter zurückfällt. Statt sich auch hier auf die Logik der Statistik zu besinnen, nimmt man die Umfrageergebnisse im öffentlichen Diskurs regelmäßig zum Anlass, angeblich wachsende soziale Schieflagen anzuprangern. Und dies, obwohl im Gegensatz zur Selbstauskunft über die eigenen Fahrkünste kaum davon auszugehen ist, dass die Befragten ihre individuelle wirtschaftliche Situation systematisch überschätzen. Damit bleibt für die Diskrepanz in den Ergebnissen die mangelhafte Einschätzung der Grundgesamtheit. Ein adäquater Befund über die Gesamtlage in einem Land ist angesichts des überaus komplexen sozialen Gefüges bereits für die wissenschaftliche Analyse extrem schwierig. Für die repräsentativ Befragten dürfte es in praktisch allen Fällen unmöglich sein. Das spricht dafür, dass sich in den Umfrageergebnissen letztlich nur ein politisches Narrativ reproduziert („zunehmende soziale Ungerechtigkeit“), das seit Jahren das Bild einer düsteren Entwicklung der Einkommensentwicklung der breiten Masse der Bevölkerung postuliert. Meist sind dann Forderungen nach zusätzlichen Umverteilungselementen nicht weit.

Unabhängig vom selbstreferentiellen Charakter der Debatte, der an sich schon problematisch ist, sind auch die meist mit dem Nimbus der Wissenschaftlichkeit dargebotenen Ergebnisse zur sozialen Entwicklung hochproblematisch. Den Dreh- und Angelpunkt bilden hierbei die Indikatoren zur Messung der Verteilung von Einkommen und Vermögen, mit den jeweiligen Gini-Koeffizienten als Speerspitze (mit Werten zwischen Null für die Gleichverteilung und Eins für die maximale Ungleichheit). Das reine Zahlenwerk der empirischen Forschung mag weitgehend stimmig sein (auch wenn die Erhebung oft erhebliche Schwierigkeiten bereitet), problematisch ist aber die Interpretation der Werte. Und hierbei begibt sich mancher schnell auf sehr dünnes Eis, das öfter einbricht als dass es trägt, wenn man aus dem Befund zunehmender Ungleichheit auf Fehlentwicklungen schließt. Insbesondere wird viel zu leichtfertig von Ungleichheitsmaßen auf eine angeblich grassierende „soziale Ungerechtigkeit“ geschlossen, eine sinnfreie Vokabel, die seriöse Sozialwissenschaftler besser meiden sollten.

Gründe für den Anstieg der Einkommensungleichheit

Abgesehen davon, dass etwa der Gini-Koeffizient zur Einkommensverteilung in Deutschland seit über zehn Jahren nahezu konstant und auch international unauffällig ist, folgt aus einem Anstieg der Einkommensungleichheit zunächst wenig. Da es für diese Größe keinen Optimalwert gibt, lässt sich auch nicht sagen, ob man sich bei einem Anstieg zu einem Optimum hin- oder von diesem wegbewegt. Das liegt letztlich daran, dass die Einkommensverteilung das Ergebnis eines komplexen sozialen Prozesses ist, dessen vielschichtige Aspekte sich nicht in einer Zahl verdichten lassen. So spiegelt sich in der Einkommensungleichheit nicht zuletzt auch eine geänderte Haushaltsstruktur wider – das Leben als Single oder Alleinerziehender ist nun mal pro Kopf gerechnet teurer als der Konsum im Familienverband (88 Prozent des für Deutschland ausgewiesenen Anstiegs der Einkommensungleichheit in den Jahren 1985 bis 2005 geht auf diesen Effekt zurück). Diese individuellen Entscheidungen hat der Staat nicht zu bewerten, er ist aber auch nicht dazu da, alle ökonomischen Konsequenzen geänderter individueller Lebensstile auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Dies wäre jedenfalls nicht per se „gerechter“. Letztlich hat überhaupt erst der allgemeine Wohlstandszuwachs – neben dem Gesinnungswandel in weiten Bevölkerungsschichten – dazu beigetragen, dass derartige Lebensentwürfe möglich wurden und sich speziell Frauen aus der ökonomischen Abhängigkeit ihrer Männer befreien konnten. Dies dürften wohl nur die wenigsten als sozialen Rückschritt einstufen. Auch die höhere Bildungsbeteiligung von Frauen erhöht tendenziell die Einkommensungleichheit im Haushaltsquerschnitt, weil die tertiären Bildungseinrichtungen und die Arbeitsstätten zugleich wichtige Partnerbörsen darstellen. Wenn zwei berufstätige Akademiker einen gemeinsamen Haushalt bilden, konzentrieren sich zwei Besserverdiener und die gemessene Verteilung wird ungleicher. Zu Zeiten, als akademische Weihen und hohe Berufsqualifikationen noch weitgehend den Männern vorbehalten waren, hat sich über den Heiratsmarkt die Einkommensungleichheit dagegen auf Haushaltsebene abgeflacht. Ähnliches gilt für die soziale Akzeptanz von schwulen und lesbischen Partnerschaften, die für sich genommen ebenfalls die Einkommensungleichheit erhöht. Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass ein steigender Gini-Wert kaum zur Skandalisierung taugt.

Auch macht es einen Unterschied, ob der Anteil von Niedriglohnbeziehern steigt, weil Menschen weniger verdienen als früher oder ob mehr Menschen zu niedrigen Löhnen beschäftigt werden, die zuvor arbeitslos waren. Letzteres ist für Deutschland maßgeblich, die Quote selbst schweigt aber zu diesen Ursachen. Grotesk wird es, wenn aus dem jüngsten Anstieg der Armutsgefährdungsquote auf eine sich verschärfende soziale Schieflage geschlossen wird. In dieser Quote spiegelt sich derzeit der Zuzug von Flüchtlingen wider, die aus verschiedenen Gründen zunächst am unteren Ende der Einkommensskala rangieren. Soziale Kälte sieht anders aus.

Die vermeintlichen Bösewichte: Kapitalismus und Globalisierung

Zu jeder guten Gruselgeschichte gehören die Bösewichte. Im Falle der Erzählung von der zunehmenden sozialen Unwucht übernehmen der „ungezügelte Kapitalismus“ und die „deregulierte Globalisierung“ diese Rolle, die regelmäßig als Triebkräfte hinter den Fehlentwicklungen verdächtigt werden.

Die Kapitalismuskritik macht sich vor allem an der Vermögensungleichverteilung fest. Auch hier versperrt der Blick auf das Symptom tieferliegende Erkenntnisse. Vermögenspositionen sind in einem kapitalistischen System nicht funktionslos, sondern spielen eine wichtige Rolle für die Kapitalallokation. Weil die Zukunft per se unsicher ist, kann es auch keine sicheren Anlageformen geben. Um ein (wie auch immer) erlangtes Vermögen bewahren zu können, muss es der Eigentümer in einem freien Marktsystem immer wieder dem Risiko aussetzen. Setzt er auf das richtige Pferd (rentable Investitionen), so kann er sein Vermögen wahren und mehren. Damit erfüllt er zugleich eine sozial nützliche Aufgabe, weil von der rentablen Anlage des knappen Kapitals auch die Arbeitskräfte profitieren, deren Produktivität durch eine höhere marktgerechte Kapitalausstattung steigt, was höhere Löhne zur Folge hat. Setzt der Investor auf das falsche Pferd (erweist er sich also als Ressourcenverschwender), so büßt er in Form von Verlusten die Verfügungsgewalt über knappes Kapital ein. Korrigiert er seine Entscheidungen nicht, wird er in Form der Insolvenz ganz aus dem Spiel genommen und entscheidet künftig nicht mehr über die Verwendung knapper Ressourcen. Auf diese Weise erfüllt ein freier Kapitalmarkt eine wichtige soziale Koordinationsfunktion. Dieser Mechanismus setzt privates Eigentum und – damit einhergehend – das Haftungsprinzip voraus. Letzteres wird in antikapitalistischer Weise immer dann verletzt, wenn der Staat (oder seine Zentralbank) private Verluste sozialisiert, wie es in großem Stil während der jüngsten Finanzkrisen geschah. Die Vermögensverteilung wäre heute weniger ungleich, wenn die Fehlinvestitionen im Boom vor der Krise voll auf die Vermögenspositionen der Investoren hätten durchschlagen können (die untere Hälfte der Haushalte auf der Vermögensskala hätte mangels Geldvermögen auch nichts zu verlieren gehabt). Auch die Staatsverschuldung ist in dieser Hinsicht problematisch, weil sie den Vermögenden ein Ruhekissen bietet, das sie ihrer sozialen Funktion als Kapitalist entbindet. Das Risiko dieses vermeintlich sicheren Anlagevehikels wird stattdessen auf alle Steuerzahler abgewälzt, insbesondere wenn man – wie im Euroraum – staatliche Wertpapiere explizit als risikofrei deklariert und lieber Vertragsbrüche hinnimmt als Staatspleiten. An der staatlichen Protektion von Vermögenspositionen kann daher mit guten Argumenten viel kritisiert werden. Es ist indes nicht der ungezügelte, sondern der durch den Staat gehemmte Kapitalismus, der hier zu gravierenden Fehlentwicklungen führt.

Ähnlich wie der Kapitalismus steht auch die Globalisierung zu Unrecht am Pranger. Sieht man genauer hin, ist es schwierig, die Verlierer der immer engeren weltwirtschaftlichen Verflechtung zu identifizieren. Zwar wirken sich auf der Einkommensseite globalisierungsbedingte Produktionsverlagerungen typischerweise nachteilig auf die geringer Qualifizierten Arbeitskräfte in den Industrieländern aus, die dort im Sektor der handelbaren Güter beschäftigt sind. Dies ist aber nur ein Aspekt, der nicht isoliert betrachtet werden darf. Zum einen geht ein ganz überwiegender Teil des Strukturwandels – und mit ihm die Veränderung der Arbeitswelt – auf den technischen Fortschritt zurück. Dies gilt umso mehr, je größer das betrachtete Land ist. Neue Zollmauern würden daher allenfalls einen sehr kleinen Teil einfacher Tätigkeiten in die Industrieländer zurückbringen, der überwiegende Teil würde stattdessen von neuen Maschinen übernommen, sofern die Beschäftigten nicht bereit sind, zu den Löhnen zu arbeiten, die derzeit in den Schwellenländern bezahlt werden. Dies sind sie offenbar nicht, weil es in den entwickelten Volkswirtschaften für sie bessere Alternativen gibt. Zum anderen darf man bei der Analyse nicht bei den Einkommenseffekten stehen bleiben, sondern muss die Konsumseite und damit die Kaufkrafteffekte in den Blick nehmen. Hierbei zeigt sich, dass die unteren Einkommensgruppen als Konsumenten überproportional vom freien Welthandel profitieren, weil der Anteil handelbarer Güter in ihrem Einkaufskorb größer ausfällt als bei höheren Einkommensgruppen. Millionäre lassen sich heute wie vor zweihundert Jahren ihre Kleidung vom ortsansässigen Schneider auf den Leib schneidern, während einkommensschwächere Haushalte von günstigen Textilimporten profitieren. Auch wäre wohl ein Handy „made in Germany“ auch heute noch ein Luxusprodukt für die oberen Zehntausend. Darüber hinaus schafft der unbestrittene Nettowohlstandsgewinn aus der Globalisierung auch Raum für Transfers an einkommensschwächere Haushalte, den es sonst nicht gäbe. Die Lebensbedingungen der vermeintlichen Globalisierungsverlierer, die sich bei Werksschließungen medienwirksam vorführen lassen, sähen ohne eine integrierte Weltwirtschaft daher keinesfalls zwingend besser aus. Hinzu kommt, dass Globalisierungseffekte – wie der Strukturwandel insgesamt – nicht über Nacht auf die Menschen hereinbrechen, sondern sich nach und nach vollziehen. Erst wenn man diese Effekte eine Zeitlang durch politische Maßnahmen aufstaut, diese marktwidrigen Eingriffe dann aber später wegen Unfinanzierbarkeit wie eine Staumauer bersten, verschärft man die sozialen Probleme, weil den Betroffenen dann tatsächlich zu wenig Anpassungszeit bleibt. Disruptive Veränderungen rühren viel öfter von fehlerhaften staatlichen Eingriffen als vom freien ökonomischen Entwicklungsprozess her.

Die Konsumseite stellt auch ein anderes weitverbreitetes Narrativ in Frage, wonach bestimmte Einkommensgruppen in den Industrieländern seit Jahrzehnten keinen Wohlstandszuwachs mehr realisieren können. Diesem Befund liegen Realeinkommensberechnungen zugrunde, bei denen das nominelle Einkommen mit einem Preisindex kaufkraftbereinigt wird. Nun sind aber Preisindices gerade für Langzeitvergleiche besonders ungeeignet, weil sie Qualitätsverbesserungen nur sehr unzureichend erfassen können. Macht man sich die Konsummöglichkeiten klar, die sich heute einem Durchschnittshaushalt bieten, und vergleicht man diese mit denen der Vorgängergeneration, machen sich schnell Zweifel an den Ergebnissen breit. Es wäre lohnend, dies einmal systematisch zu untersuchen, indem man Haushalte unterschiedlicher Einkommensgruppen fragt, ob sie bereit wären, mit dem Konsumniveau ihrer Vorgänger vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren zu tauschen. Sind sie es nicht, haben sich offenbar die Konsummöglichkeiten verbessert. Hinzu kommen verbesserte Arbeitsbedingungen und eine höhere Lebenserwartung. Auch hier zeigt sich, dass man die Komplexität der Lebensbedingungen im sozialen Gefüge niemals auf eine Zahl verengen kann.

Die Erfolgsgeschichte von Kapitalismus und Globalisierung

Die Kombination aus Kapitalismus und Globalisierung hat in den letzten Jahrzehnten zu einer Wohlstandsexplosion in der Welt geführt. Die globale Massenproduktion kommt breiten Konsumentenmassen zugute. Niemals zuvor war der Anteil der Menschen, die in absoluter Armut leben, so gering wie heute – auch ihre absolute Zahl geht seit Jahrzehnten in großen Schritten zurück. Global betrachtet nimmt die Einkommensungleichheit dramatisch ab. Die Arbeitsbedingungen verbessern sich seit Jahrzehnten praktisch in allen Ländern der Welt. Die weltwirtschaftliche Integration führt zudem zu einer verstärkten Interessenharmonie und trägt damit auch zu einer Befriedung in der Welt bei. Aller schlimmen Nachrichten zum Trotz sterben heute bedeutend weniger Menschen in kriegerischen Konflikten als in früheren Epochen.

Diese Erfolgsgeschichte offener Märkte und globaler ökonomischer Kooperation trifft in den Industrieländern indes vermehrt auf Widerstand. Dabei finden sich nicht zufällig Sozialingenieure und Kapitalismusgegner mit Neoprotektionisten wie Donald Trump im selben Lager wieder. Was sie verbindet, ist ihr Unverständnis für die Funktionsbedingungen offener Gesellschaften. Sie übertragen Verhaltensweisen, die das Zusammenleben von Menschen in Kleingruppen stabilisieren (und die als Ur-Instinkte in der jahrtausendelangen Sozialisation der Menschen in Stammesgesellschaften wurzeln), auf die anonyme Großgesellschaft. Solidarität und Hierarchie, aber auch Abgrenzung bis hin zur Aggression gegenüber Fremden, ist der Kitt, der die für den Einzelnen überschaubare Gruppen zusammenhält. Eine offene Gesellschaft braucht hingegen Institutionen wie Eigentum, Tausch und Wettbewerb, insbesondere die freie Wahl des Tauschpartners. Dies ermöglicht eine soziale Komplexität und mit ihr eine ökonomische Leistungsfähigkeit, die niemals in einem hierarchischen Entwurf gelingen könnten und die in ihrer Evolution ergebnisoffen sind. Gerechtigkeit kann in der offenen Gesellschaft nur in der Gültigkeit abstrakter Regeln bestehen, nicht aber in normierten Quoten, Verteilungsmaßen oder anderen ergebnisorientierten Kennzahlen. Die darin liegende Unkontrollierbarkeit kann aber auch Ängste schüren, die sich Protektionisten nach innen wie nach außen immer wieder zunutze machen. Das Vehikel dazu ist der interventionistische Nationalstaat, der – an atavistische Instinkte appellierend – das soziale Gefüge im Inneren ordnet und sich nach außen abschottet. Auf diese Weise wird es dann wieder politisch belangvoll, ob zwischen zwei Tauschpartnern eine Landesgrenze verläuft. Märkte sind einst an den Stammesgrenzen entstanden („market“ kommt von „mark“), indem Menschen entdeckten, dass sich im Tausch mit Fremden auf Dauer mehr erreichen lässt als mit Raub. Das marktwirtschaftliche System ist daher von jeher auf Grenzüberwindung angelegt. Binnen- wie außenwirtschaftlicher Protektionismus läuft immer darauf hinaus, den freien Tausch einzuschränken, indem Märkte abgeschottet werden. Je öfter dies geschieht, desto mehr erstarrt die Gesellschaft und desto mehr Vorteile der einzelwirtschaftlichen Kooperation bleiben unentdeckt. Dies geht typischerweise zu Lasten der ökonomisch Schwächeren, die den desaströsen Folgen des Interventionismus besonders wenig gewachsen sind. Zudem sind es nicht selten die Stärkeren (und politisch Einflussreicheren), die unter dem Mantel der Solidarität und des „nationalen Zusammenhalts“ ihre Partikularinteressen schützen, etwa wenn ausländische Anbieter mit dem Hinweis auf nicht erfüllte „soziale Mindeststandards“ ausgesperrt werden. Diese Standards muss man sich leisten können, und dafür braucht es wirtschaftliches Wachstum. Marktöffnung beschleunigt dieses Wachstum und die Teilhabe der Schwächeren in den Entwicklungs- und Schwellenländern am globalen Wohlstand. Und im Inneren richten sich die Folgen von Mietpreisbremsen, Mindestlöhnen und andere Überregulierungen nicht selten gerade gegen diejenigen, zu deren Gunsten sie einst gedacht waren.

Die Voraussetzungen der offenen Gesellschaft nach innen wie nach außen sollte jeder bedenken, der nationale Verteilungsergebnisse zum Maßstab der Politik erhebt und deshalb nolens volens zum Steigbügelhalter des Protektionismus wird.

Erstmals veröffentlicht in CIVIS 2/2017

Photo: Magnus Hagdorn from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues.

Ökonomen könnten Positivsummendenken zu stärkerer Beliebtheit verhelfen. Sie sollten den Positivsummencharakter von Transaktionen auf Märkten betonen, indem sie die auf Märkten erfolgende Kooperation in den Vordergrund rücken und nicht die Konkurrenz, die lediglich hilft, die besten Kooperationspartner zusammenzubringen.

Ökonomen betrachten die soziale Welt nicht als Nullsummenspiel, bei dem es stets Gewinner und Verlierer gibt, sondern als Positivsummenspiel, in dem alle freiwillig an einer Interaktion Beteiligten Gewinner sind und niemand verliert. So kooperieren Menschen auf Märkten als Käufer und Verkäufer freiwillig miteinander, weil sie dadurch in beiden Rollen gewinnen. Es ist nicht intuitiv, dass auf Märkten keine Nullsummenspiele gespielt werden. Diese Erkenntnis gewinnen Ökonomen während ihrer jahrelangen Ausbildung. Deshalb ist es nicht überraschend, dass Nicht-Ökonomen seltener zu dieser Erkenntnis gelangen und eher als Ökonomen dazu neigen, die soziale Welt im Allgemeinen und Märkte im Besonderen als Nullsummenspiele wahrzunehmen. Daten des World Value Surveys deuten darauf hin, dass Menschen in Ost- und Westdeutschland heute eher zu Nullsummendenken neigen als noch in den 1990er Jahren. Das kann verschiedene Gründe haben und negative Konsequenzen mit sich bringen.

Ökonomen vs. ökonomische Laien

Zum einen unterscheiden sich Ökonomen und Nicht-Ökonomen bezüglich ihrer Einschätzung von Interaktionen von Menschen auf Märkten sowie der Rolle von Preisen auf Märkten. So nehmen Ökonomen freiwillige Interaktionen von Menschen auf Märkten als Positivsummenspiele wahr, von denen alle Teilnehmer profitieren. Ökonomische Laien hingegen neigen dazu, sie als Nullsummenspiele mit Gewinnern und Verlierern wahrzunehmen. Zudem ermöglicht die Verwendung von Preisen auf Märkten aus der Perspektive von Ökonomen einen effizienteren Einsatz von Ressourcen in der Produktion von Gütern und Dienstleistungen, während ökonomische Laien Preise eher ausschließlich als Mittel zur Verteilung von Vermögen ansehen.

Nicht-Ökonomen sind folglich geneigt, die produzierte Menge an Gütern und Dienstleistungen sowie die Anzahl an Arbeitsplätzen als fix zu betrachten, sodass eine Person nur mehr haben kann, wenn eine andere Person weniger bekommt. Ökonomen verstehen hingegen, dass weder der Arbeitseinsatz noch die Menge der produzierten Güter und Dienstleistungen fix sind und Effizienzgewinne und Produktivitätswachstum unsere Produktionsmöglichkeiten wachsen lassen können.

Deshalb ist es nicht überraschend, dass Ökonomen und Nicht-Ökonomen sich zum anderen hinsichtlich ihrer Wahrnehmung der Entwicklung des Lebensstandards und der Auswirkung verschiedener Faktoren auf den Lebensstandard unterscheiden. So nehmen Ökonomen stärker als Nicht-Ökonomen den erfolgten Anstieg des Lebensstandards wahr und gehen davon aus, dass der Lebensstandard auch in Zukunft steigen wird. Und sie betrachten Faktoren wie den internationalen Handel stärker als Nicht-Ökonomen als Treiber höherer Lebensstandards.

Positivsummendenken vs. Nullsummendenken

Ob Interaktionen auf Märkten als Positivsummenspiele oder als Negativsummenspiele wahrgenommen werden, hat Auswirkungen darauf, ob die Teilnehmer an Interaktionen als Kooperationspartner oder als Konkurrenten betrachtet werden.

Nullsummendenken rückt die Verteilung einer als fix angenommenen Menge von Vermögen, Einkommen, Gütern und Dienstleistungen oder Arbeitsplätzen in den Vordergrund und motiviert zum Ruf nach politischen Maßnahmen, die vermeintlich schwächere Konkurrenten vor vermeintlich stärkeren Konkurrenten schützen.

Positivsummendenken hingegen rückt die Mehrung von Einkommen, Vermögen oder Gütern und Dienstleistungen durch zusätzliche Kooperationsmöglichkeiten in den Mittelpunkt und führt zu Forderungen nach politischen Maßnahmen, die es Menschen leichter machen, freiwillig miteinander zu kooperieren.

Ob Menschen Interaktionen auf Märkten und anderswo als Positivsummenspiele oder als Negativsummenspiele wahrnehmen, mag sich somit darauf auswirken, wie häufig Individuen sich in Positivsummenspielen wiederfinden. Außerdem liegt es nahe, dass Menschen Interaktionen eher als Positivsummenspiele wahrnehmen, je häufiger sie an solchen auch tatsächlich beteiligt sind.

Nullsummendenken in Deutschland: Weiter verbreitet

Weil es möglich erscheint, dass es diesbezüglich zu sich selbst verstärkenden Effekten kommt, gibt die Entwicklung der Antworten von Deutschen aus Ost und West auf eine Frage im World Value Survey Anlass zur Sorge.

In der Weltwertestudie werden die Interviewten unter anderem gefragt, wie sie zwei Meinungen auf einer Skala von 1 bis 10 einschätzen: Erstens, „Menschen können nur auf Kosten ihrer Mitmenschen reich werden.“ Zweitens, „Wohlstand kann so wachsen, dass genug für alle da ist.“ Wenn die Befragten mit der ersten Aussage voll übereinstimmen, wählen sie 1. Stimmen sie voll mit der zweiten Aussage überein, wählen sie 10.

Die erste Meinung kann interpretiert werden als ein Beispiel für Nullsummendenken. Eine Person kann nur auf Kosten einer anderen gewinnen. Die zweite Meinung kann interpretiert werden als ein Beispiel für Positivsummendenken. Der Wohlstand kann steigen, sodass alle davon profitieren.

Zum ersten Mal wurde Deutschen im Rahmen des in mehrjährigem Abstand durchgeführten World Value Surveys diese Frage 1997 gestellt. Seitdem ist der Durchschnitt der gegebenen Antworten in Ost- und Westdeutschland von über 6 auf unter 6 gefallen. Dabei war der Rückgang in Ostdeutschland stärker als in Westdeutschland. Diese Ergebnisse sind Hinweis darauf, dass Nullsummendenken in Deutschland heute weiter verbreitet ist als in den 1990er Jahren.

Nullsummendenken: Unerwünscht unabhängig von seiner Ursache

Für den beobachteten Trend mag es verschiedene Gründe geben. Es könnte sein, dass sich Menschen weniger häufig in Positivsummenspielen wiederfinden und ihre Antworten in den verschiedenen Jahren diese Entwicklung widerspiegeln. Es könnte auch sein, dass Menschen lediglich wahrnehmen, dass Nullsummenspiele relativ häufiger geworden sind, obwohl sie unverändert häufig oder gar weniger häufig vorkommen.

Unabhängig von den Gründen für die gemessene Zunahme des Nullsummendenkens (und auch unabhängig von möglichen Messfehlern), wäre eine stärkere Verbreitung des Positivsummendenkens wünschenswert, weil Menschen dann eher geneigt wären, sowohl politische Maßnahmen einzufordern als auch private Maßnahmen zu ergreifen, die zusätzliche Kooperationsmöglichkeiten schaffen.

Ökonomen können dazu einen Beitrag leisten. Bekannt sind Ökonomen derzeit vorwiegend dafür, dass sie die durch Konkurrenz auf offenen Märkten ermöglichte Effizienz preisen. Sie sind hingegen nicht bekannt dafür, dass sie die auf Märkten erfolgende Kooperation hervorheben. Dabei ist Kooperation auf Märkten allgegenwärtig. Konsumenten kooperieren mit Unternehmen. Unternehmen kooperieren mit Arbeitnehmern. Angestellte kooperieren miteinander. Als Zulieferer und Lieferanten kooperieren Unternehmen mit anderen Unternehmen.

Ökonomen haben es verpasst, zu betonen, dass die Konkurrenz auf Märkten lediglich Mittel zum Zweck ist, um mithilfe des Preismechanismuses dafür zu sorgen, dass die bestmöglichen Kooperationspartner zusammenfinden. Ökonomen könnten Positivsummendenken zu stärkerer Beliebtheit verhelfen. Sie sollten den Positivsummencharakter von Transaktionen auf Märkten betonen, indem sie die auf Märkten erfolgende Kooperation in den Vordergrund rücken und nicht die Konkurrenz, die lediglich hilft, die besten Kooperationspartner zusammenzubringen.

Erstmals erschienen auf IREF.

Photo: Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Dr. Andreas Hoffmann, Institut für Wirtschaftspolitik Universität Leipzig.

Anstatt die Entwicklung der Geschäftstätigkeit und die durch die Rückendeckung des Staates ermöglichten Gewinne der KfW der vergangen Jahre zu preisen, sollte der Fokus auf den fragwürdigen Einfluss der KfW auf die Verteilung von Ressourcen und die dadurch entstehenden Risiken für die Steuerzahler gelenkt werden.

Während private Banken des Euro-Währungsgebiets weiterhin ums Überleben kämpfen und in den vergangenen Jahren ihre Bilanzsummen reduzierten, genießen staatlich-gelenkte Förderbanken einen Aufschwung. Öffentliche, zum Teil außerhalb des regulatorischen Rahmens agierende Förderbanken wie die deutsche KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau) oder das spanische ICO (Instituto de Crédito Oficial) haben ihre Aktivitäten jüngst deutlich ausgebaut. Das ist besorgniserregend, weil die durch implizite staatliche Sicherheitsgarantien gestützten Förderbanken dazu neigen, zu viele und dabei auch noch die falschen Projekte zu finanzieren.

KfW: Förderbank so groß wie die Commerzbank

Die deutsche KfW, für die Zuteilung von Marshall-Plan-Geldern nach dem 2. Weltkrieg gegründet, rangiert in Bezug auf ihre Bilanzsumme inzwischen Kopf an Kopf mit der Commerzbank – der zweitgrößten privaten Bank Deutschlands. Vor 10 Jahren war die Bilanzsumme der zweitgrößten privaten Bank in Deutschland noch fast doppelt so groß wie die der KfW. Diese war 2007 lediglich die neuntgrößte Bank Deutschlands.

 

 

Mitunter euphorisch wird von den jüngsten hohen Gewinnen der KfW in für Banken schwierigen Zeiten berichtet. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Länder des Euro-Währungsgebiets wie z. B. Portugal (2014), die zuvor keine solchen öffentlichen Förderbanken hatten, in den letzten Jahren welche gründeten, um das scheinbare Erfolgsmodell KfW zu kopieren.

Hehre Ziele, besorgniserregende Entwicklung

Hehre politische Ziele stehen hinter der Förderbank-Idee: Staatliche Förderbanken sollen Unternehmen finanzieren, die von privaten Banken keine Kredite bekommen, aber höchstwahrscheinlich profitabel sind bzw. einen positiven Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung der Länder oder anderer Länder liefern. Staatliche Förderbanken sollen folglich sowohl identifizierte Fälle von Marktversagen beheben, indem sie für ausgewählte Unternehmen den Zugang zum Kapitalmarkt verbessern, als auch Industrien unterstützen, die zwar derzeit noch nicht profitabel sind, aber in Zukunft zur Prosperität aller beitragen können.

Trotz der edlen Ziele der Förderbanken ist ihr Wachstum in den vergangenen Jahren aus mehreren Gründen besorgniserregend.

KfW: Zu viele Projekte

Erstens, explizite und implizite Garantien des deutschen Staates geben der KfW gegenüber ihren privaten Konkurrenten einen Wettbewerbsvorteil. Die staatliche Bank kann sich durch die Garantien günstiger mit Eigen- und Fremdkapital eindecken und ihren Kunden so Leistungen zu niedrigen Preisen anbieten, ohne Verluste zu schreiben. Die relative Attraktivität der Angebote der KfW tragen anscheinend dazu bei, dass Kunden von privaten Banken abwandern, auch in Fällen, in denen recht offensichtlich kein Marktversagen korrigiert wird. So ist beispielsweise das Exportfinanzierungsgeschäft der Ipex, einer Tochter der KfW, sehr profitabel. Zu den Kunden der Ipex gehören wohlbekannte Unternehmen wie BMW oder United Airlines, die weder in Märkten aktiv sind, die sich offensichtlich durch Marktversagen auszeichnen, noch Schwierigkeiten haben dürften, für profitabel anmutende Projekte Finanzierungen von privaten Anbietern zu erhalten.

Einerseits wird durch derartiges Geschäftsgebaren der KfW der Wettbewerb im Bankensektor durch den Staat zum Nachteil der übrigen Marktteilnehmer verzerrt. Andererseits besteht die Gefahr, dass durch die günstigen Konditionen der KfW vermehrt Projekte finanziert werden, deren erwartete Rendite für private Banken zu niedrig wäre, um die Finanzierungsrisiken einzugehen. So werden Ressourcen nicht bestmöglich eingesetzt.

KfW: Die falschen Projekte

Zweitens, ergeben sich Lenkungseffekte durch die Kreditvergabemethoden der KfW. Zum Teil ist das gewollt. Die KfW soll Unternehmen in Industrien unterstützen, die von privaten Anbietern keine ausreichende Finanzierung erhalten. Mithilfe von KfW-Programmen werden jedoch auch Unternehmen aus Branchen subventioniert, die nicht in das Anforderungsprofil förderungswürdiger Projekte zu passen scheinen (beispielsweise Wohnungsbau).

Die KfW nimmt so nicht nur Einfluss auf die Allokation von Ressourcen auf verschiedene Industriebereiche, sondern beeinflusst auch die Zusammensetzung der von privaten Banken gehaltenen Kreditportfolios. Konzentrieren sich die von Banken gehaltenen Kreditausfallrisiken aufgrund der Förderprogramme der KfW auf ausgewählte Branchen, sind sie möglicherweise in industriespezifischen Krisenzeiten weniger robust, als sie es in Abwesenheit der KfW Interventionen wären.

Durch die Aktivitäten der KfW werden also tendenziell nicht nur zu viele Kredite vergeben, sondern zu viele Projekte in einigen ausgewählten Industrien finanziert.

KfW: Fehlurteile unvermeidbar

Drittens, die hehren Ziele der KfW sind zu ambitioniert. Auch dem gutmütigsten sozialen Planer ist es unmöglich, fehlerfrei Fälle von Marktversagen und Zukunftsindustrien zu identifizieren. Selbst wenn die KfW versuchte, sich strikt auf ihren Auftrag zu beschränken, wäre sie aufgrund des unweigerlich unvollständigen Wissens ihrer Entscheidungsträger zum Scheitern verurteilt.

Wird zusätzlich in Betracht gezogen, dass die jeweilige Agenda der tonangebenden Politiker das Verhalten der KfW beeinflusst, schwindet das Vertrauen in die Fähigkeit der KfW, Marktversagen zu korrigieren und Zukunftsindustrien zu fördern, weiter. Die politisch beeinflussten Fehlurteile der KfW können so im Ernstfall hohe wiederkehrende Subventionen nach sich ziehen oder schmerzhafte Reallokationen von Ressourcen erfordern.

Es ist nicht alles Gold, was glänzt

Da die Bilanzsumme der Förderbank in den letzten Jahren bereits erheblich ausgeweitet wurde, ist es wahrscheinlich, dass im Namen der Finanzierung vermeintlicher Zukunftsinvestitionen und der Behebung von Marktversagen erhebliche Risiken in den Bilanzen der öffentlichen Banken akkumuliert wurden, die bis dato im Bundeshaushalt keine Rückstellungen nach sich zogen. Anstatt die Entwicklung der Geschäftstätigkeit und die durch die Rückendeckung des Staates ermöglichten Gewinne der KfW der vergangen Jahre zu preisen, sollte deshalb der Fokus auf den fragwürdigen Einfluss der KfW auf die Verteilung von Ressourcen und die dadurch entstehenden Risiken für die Steuerzahler gelenkt werden.

Erstmals erschienen bei IREF.