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Von Matthias Still, Unternehmer und PR-Berater, Fackelträger bei Prometheus.

Vor zwei Millionen Jahren saß einer unserer Vorfahren in Afrika unter einem Baum und grübelte. Der Tag war heiß und das Leben beschwerlich: Essen sammeln, einen sicheren Schlafplatz finden, sich gegen wilde Tiere wehren – alles musste man selber machen und das auch noch mit bloßer Hand. Der Alltag bestand vor allem aus einem ganz zentralen Tagesordnungspunkt: dem Überleben. Und das war oftmals gar nicht so einfach. Also fummelte unser Urmensch an einem runden Stein herum. Dabei kam er auf die Idee, die obere Hälfte so lange zu bearbeiten, bis sie spitz war. Und so wurde aus dem eher nutzlosen Stein ein Werkzeug: Der Faustkeil. Die erste disruptive technologische Erfindung der Menschheit.

Was genau der Urmensch, der zu diesem Zeitpunkt noch ein Vorgänger der Gattung Homo sapiens war, mit dem Faustkeil machte, lässt sich nur erahnen: Für die Selbstverteidigung, für das Zerkleinerung von Nahrung oder als Werkzeug, um weitere Werkzeuge herzustellen, kann er gedient haben.

Und doch hat dieser primitiv behauene Stein etwas ganz Besonderes bewirkt: Er ließ in unseren urzeitlichen Vorfahren eine erste Ahnung erglimmen, dass sie nicht einfach wehrlos einer rauen und hochgradig lebensgefährlichen Natur ausgesetzt waren. Sie konnten sich aufmachen, um diese zumindest ein bisschen zu zähmen, sie für das eigene Überleben zu nutzen und sich bei Gefahren vor ihr zu schützen.

Menschen erfinden, um das Leben einfacher und besser zu machen

Auf bahnbrechende Erfindungen wie das Rad, die Schrift oder gar die Dampfmaschine musste man dann noch ein paar Hunderttausend Jahre warten. Innovation hatte in der frühen Geschichte des menschlichen Daseins nichts mit Geschwindigkeit zu tun. Doch der Gedanke, durch Erfindungsreichtum die eigene, Natur gegebene Begrenztheit zu überwinden, sollte zu einem der mächtigsten und wirkungsreichsten in der Menschheitsgeschichte werden.

Warum kommen Menschen überhaupt auf die Idee, Dinge zu erfinden? Es hat fast immer damit zu tun, das Leben einfacher und besser zu machen. Wir alle würden heute in der unwirtlichen Umgebung unserer Vorfahren kaum eine Woche überleben. Wie selbstverständlich nehmen wir Erfindungen wie elektrischen Strom  oder Heizsysteme hin, die uns zu jeder Zeit Licht spenden und vor Kälte schützen. Wie einfach ist es für uns, Lebensmittel im nächsten Supermarkt zu kaufen, anstatt sie sammeln oder jagen zu müssen.

Der technische Fortschritt hat unser Leben massiv verbessert. Und je schneller er sich vollzieht, umso schneller leben wir immer besser. Werkzeuge, Maschinen und Fertigungsverfahren ermöglichen erst das, was Ökonomen „Arbeitsteilung“ nennen – die womöglich wichtigste Grundlage unseres wirtschaftlichen Wohlstands. Ohne Technik müssten wir nämlich alle das Gleiche machen: Ums Überleben kämpfen, Tag für Tag.

Innovationen eröffnen Benachteiligten neue Optionen, ihr Leben zu gestalten

Doch das ist noch nicht alles: Der technologische Fortschritt sorgt nicht nur für wirtschaftlichen Wohlstand, sondern auch für so etwas wie „soziale Gerechtigkeit“ (lassen wir hier einmal außer Acht, dass unter diesem Begriff höchst unterschiedliche Dinge verstanden werden). Über Jahrtausende war das menschliche Zusammenleben vom Prinzip des „Survival of the fittest“ bestimmt. Der, der am schnellsten vor dem Säbelzahntiger wegrennen konnte, hatte Glück. Der, der schneller war als der Langsamste, auch noch. Aber der Langsamste hatte Pech. Kinder, Alte, Verletze, Behinderte hatten schlechte Überlebenschancen, wenn es eng wurde. Das ist heute anders: Technologische Innovationen eröffnen bislang Benachteiligten ganz neue Optionen, ihr Leben zu gestalten: Auf Seiten der politischen Linken spricht man hier oft von „gesellschaftlicher Teilhabe“. Erfindungsreichtum und Innovation sind die eigentlichen Treiber dieser Teilhabe: Und ganz im Gegenteil zum vermeintlich fürsorglichen Sozialstaat leisten sie dies ohne die Kosten der Teilhabe Dritten aufzulasten. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Der medizinische Fortschritt hat nahezu alle großen Volkskrankheiten und Epidemien hierzulande ausgerottet – und damit Millionen Menschen Leid und Elend erspart. Moderne Hilfsmittel ermöglichen es heute Menschen mit Handicap zu arbeiten und für den eigenen Broterwerb zu sorgen – anstatt auf Almosen angewiesen zu sein.

Und auch für die Zukunft sieht es rosig aus: Innovationen wie das autonome Auto werden dazu führen, dass sich Menschen selbständig fortbewegen können, die derzeit ausschließlich auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind: Blinde beispielsweise oder Personen, die durch fehlende Gliedmaße stark beeinträchtigt sind – aber auch Senioren, die sich im fortgeschrittenen Alter nicht mehr sicher als Fahrer betätigen können. Die Strategie automatisiertes und vernetztes Fahren der Bundesregierung geht davon aus, dass der Personenverkehr bis zum Jahr 2030 deutlich zunehmen wird – und autonome Fahrzeuge eine wichtige Rolle dabei spielen werden. Damit könnte das selbst fahrende Auto am Ende für mehr gesellschaftliche Teilhabe sorgen als alle ehrenwerten Absichten des Bundesteilhabegesetzes.

Auch wenn er schnell ist und uns manchmal überfordert: Der technologische Fortschritt hat Zustimmung verdient. Er ist der soziale Treibstoff unserer Zeit.

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Mit Mächtigen vom Schlage Seehofers und Trumps verschiebt sich das Verständnis der Politik. Diese modernen Gladiatoren stehen für Symbolpolitik und persönliche Eitelkeiten anstatt ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht zu werden.

Die Gladiatoren betreten das politische Kolosseum

Es braust Jubel auf, als die Gladiatoren das Innere des politischen Kolosseums betreten. Zuerst zeigt sich Bundesinnenminister Horst Seehofer als „Retiarius“, bewaffnet mit Dreizack und Wurfnetz. Sein Spezialgebiet: Das Einfangen von fliehenden Widersachern, erst kürzlich fing er 69 auf einen Schlag. Auf der anderen Seite betritt Donald Trump das große Rund. In der schweren Rüstung des „Provocator“ beeindruckt er die Zuschauer. Nicht immer zu seinem Vorteil, denn häufig scheint es ihm schwer zu fallen, durch seinen gold-glänzenden Helm Freund und Feind voneinander zu unterscheiden. Zuletzt betritt Boris Johnson als „Murmillo“ die Arena. Sein Helm wird geschmückt von bunten Federn, die in alle Richtungen abstehen. Er stolziert kurz voller Erhabenheit an den Zuschauern vorbei, um hier und da einen abfälligen Kommentar loszuwerden – da ist er auch schon wieder im Inneren des modernen Kolosseums verschwunden.

Tatsächlich ähnelt das Schauspiel, das die Mächtigen vieler westlicher Demokratien in den letzten Monaten aufführen, immer stärker dem Schaulauf römischer Gladiatoren. Seehofer, Trump und Johnson stehen dabei nur exemplarisch für eine grundlegende Wesensveränderung in der Politik. Statt Problemlösung entwickeln sich Eitelkeiten und abstrakte Souveränitätsbegriffe zum Kerngegenstand der Politik. Grund genug, um für eine Rückkehr auf den Marktplatz der Politik zu plädieren!

Die Politik sollte ein Marktplatz sein, kein Kolosseum

Die liberalen Demokratien des Westens sind ein beispielloses Erfolgsmodell. Sie zeichnen sich aus durch Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und inklusive demokratische Institutionen. Dieses institutionelle Gerüst kann selbst die Wirrungen eines Donald Trump abfedern – für einige Zeit zumindest. Ebenso wichtig ist allerdings das (Selbst-)Verständnis von Politik. Im Laufe der Menschheitsgeschichte und in der Tradition der athenischen, polnischen, britischen, niederländischen, amerikanischen und vieler anderer Republiken wurde Politik immer stärker geprägt von einer Art Marktplatz-Mentalität. Auf dem Marktplatz werden Probleme gelöst; auch wenn der Problem-Begriff häufig etwas – teils auch deutlich – zu weit gefasst wird. Auf dem Marktplatz ist der Umgangston nicht egal. Es geht nicht darum, Ängste zu schüren, und Eitelkeiten stehen zumindest nicht für denjenigen an erster Stelle, der ein vorteilhaftes Geschäft machen möchte. Der Marktplatz ist kein Spektakel, hier wird auf der Grundlage von Fakten debattiert und es wird schlicht gearbeitet.

Den modernen Gladiatoren der Politik ist der politische Marktplatz fremd. Sie empfinden gar Verachtung für die Art und Weise wie hier in zähen und langwierigen Verhandlungen die scheinbar unbedeutendsten Probleme gelöst werden. Trump und Co wollen die großen Erfolge und die großen Gefühle. Was interessiert es da, welche konkreten Auswirkungen Handelsbeschränkungen oder der Brexit auf die eigene Volkswirtschaft haben? Es geht schließlich beiderseits des Atlantiks darum, das ‘eigene Land zurückzugewinnen‘. Souveränität und Kollektivismen werden zum Selbstzweck, dessen Umsetzung, wenn überhaupt, nur wenigen etwas bringt. Das verklärt auch die Sinne der Zuschauer, die über all dem Spektakel mitunter ihre tatsächlichen Probleme vergessen. Ein Effekt, den sich schon die römischen Kaiser gern zu eigen machten: Brot und Spiele.

Nelson Mandela zeigte der Welt, dass es auch anders geht

Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel Nelson Mandelas, der in dieser Woche 100 Jahre alt geworden wäre. 1990, nach 28 Jahren in Haft, kommt er frei und leitet gemeinsam mit dem letzten südafrikanischen Präsidenten des Apartheid-Regimes, Frederik de Klerk, die friedliche Transition ein. Nach einem Jahrhundert der brutalen Unterdrückung dürstet es vielen der über 30 Millionen Schwarzen, Farbigen und Asiaten nach Rache an der rücksichtlosen weißen Minderheitsregierung – und Mandela ist ihr unantastbarer Volksheld. Es wäre nur verständlich gewesen, wenn Mandela dem Drängen der Massen (und der eigenen Frau) nachgegeben und eine rassistische Umkehrungspolitik umgesetzt hätte, wie kurz darauf Simbabwes berüchtigter Ex-Diktator Robert Mugabe.

Doch anstatt den Unterdrückten scheinbar ‚ihr Land zurückzugeben‘, setzte Mandela auf Versöhnung und die Lösung von tatsächlichen Problemen. Unter einer Regierung der nationalen Einheit arbeitete eine von Desmond Tutu geleitete Kommission Verbrechen Stück für Stück auf und entschädigte viele Opfer. Gleichzeitig verantwortete Mandelas Regierung eine neue Verfassung und den Anschluss von Millionen Haushalten an das Strom- und Wassernetz. 1990 hatte Mandela nicht nur jeden Grund, sondern sogar eine gewisse Legitimation zum Spektakel. Dass er den Weg über den politischen Marktplatz wählte, prägt Südafrikas erfolgreiche Entwicklung bis heute.

Wir sollten das Kolosseum einfach verlassen

Dass Politiker vom Schlage Donald Trumps einen ähnlichen Weg gehen könnten wie einst Nelson Mandela, davon träumen wohl nicht einmal die Kühnsten unter uns. So amüsierend das Schauspiel der Gladiatoren häufig wirkt – die echten Probleme und Anliegen sollten nicht in Vergessenheit geraten. Vor allem sollten sich die Bürger von dem Spektakel nicht ablenken lassen. Selbst wenn Abschiebungen rechtmäßig sein sollten – was tragischerweise in letzter Zeit nicht immer der Fall war – sollte das Seehofer‘sche Gejubel darüber nicht davon ablenken, dass Deutschland noch immer kein richtiges Einwanderungsgesetz hat. Dass Donald Trump sich immer wieder auf der internationalen Bühne blamiert, sollte nicht die echten Krisen, Machtverlagerungen und Spaltungen, die er auslöst, überlagern. Dass Boris Johnson die biedere Theresa May auf groteske Weise hilflos aussehen lässt, sollte nicht verdecken, dass der Brexit für die EU und Großbritannien eine gigantische administrative Herausforderung darstellt. Für all das braucht es wieder mehr Politiker, die die Werte des Marktplatzes leben. Und es braucht uns Zuschauer, die das Kolosseum einfach mal verlassen.

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Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Über drei Jahre ist der gesetzliche Mindestlohn jetzt alt. Die ersten finanzwissenschaftlichen Analysen offenbaren, was weltweit aus der Mindestlohnforschung bekannt ist: Eine heftige Reaktion blieb aus, trotzdem gab es einen moderaten Stellenabbau beziehungsweise niedrigere Stellenschaffung.

Der flächendeckende Mindestlohn wurde am 1. Januar 2018 drei Jahre alt. Seiner Einführung ging eine kontroverse Debatte über die zu erwartende Beschäftigungswirkung voran. Das ifo-Institut etwa prophezeite den Verlust von bis zu 900.000 Arbeitsplätzen. Die damalige Bundesministerin für Arbeit und Soziales Andrea Nahles dagegen versprach, dass 3,7 Millionen Menschen in den Genuss eines höheren Lohnes kommen würden. Zusätzliche Arbeitslosigkeit erwartete sie nicht.

Erste wissenschaftliche empirische Studien erlauben nun Rückschlüsse auf die kurzfristige Beschäftigungswirkung des Mindestlohns. Dieser hat demnach einen negativen, wenn auch quantitativ bescheiden ausfallenden Beschäftigungseffekt, wobei Minijobs stärker betroffen sind als reguläre Beschäftigungsverhältnisse. Die neuen Erkenntnisse aus Deutschland passen zu den Ergebnissen der Mindestlohnforschung in anderen Ländern, die zeigen, dass eine Erhöhung des Mindestlohns um 10 % durchschnittlich zum Abbau von etwa 1 % der Arbeitsverhältnisse in der vom Mindestlohn betroffenen Gruppe führt. Angesichts der ersten deutschen und vielfältigen internationalen Forschungsergebnisse scheint die von der politischen Linken vorgeschlagene kurzfristige Anhebung des Mindestlohns um mehr als 30 % auf 12 € wenig attraktiv.

Einführung des Mindestlohns: Eine kontroverse Debatte

Wieso war die deutsche Mindestlohndebatte so kontrovers, wenn internationale Studien doch ein recht eindeutiges Bild zeichnen – nämlich schwache negative Beschäftigungseffekte? Viele Kommentatoren verwiesen auf die besondere Situation in Deutschland, welche Rückschlüsse auf Basis der Erfahrungen anderer Länder relativiere: Schon vor der Einführung des flächendeckenden Mindestlohns existierten in zahlreichen Industrien branchenspezifische Lohnuntergrenzen. Zudem ist vor allem außerhalb der wissenschaftlichen Forschung die Ansicht weit verbreitet, Deutschland leide an einer zu geringen Binnennachfrage und ein höherer Mindestlohn könne zu einer Ausweitung der Nachfrage nach Arbeit führen.

Doch auch wenn jedes Land gewiss spezifische Eigenheiten aufweist, gab es für Ökonomen keinen Grund für die Annahme, dass eine fundamentale Regelmäßigkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht gelten solle: Wenn der Preis einer Dienstleistung – in diesem Fall der erbrachten Arbeit – steigt, so wird sie weniger häufig nachgefragt. Unklar ist jedoch, wie stark der Nachfragerückgang ausfällt. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von der Preiselastizität der Arbeitsnachfrage.

Effekt des Mindestlohns: Messung anspruchsvoll

Ein weiterer Grund für die polarisierte Debatte liegt in der Schwierigkeit, die Arbeitsmarkteffekte des Mindestlohns verlässlich zu messen. Einfache Vorher-Nachher-Vergleiche bilden die tatsächlichen Effekte nicht ab, da sie nicht berücksichtigen, wie der Arbeitsmarkt heute aussähe, wäre es nicht zur Einführung des Mindestlohns gekommen. So kann die Beobachtung, dass die Arbeitslosigkeit nach 2015 weiter gesunken ist nicht als Beleg für ausbleibende unerwünschte Wirkungen des Mindestlohns herhalten- Vielmehr wurde ein negativer Beschäftigungseffekt des Mindestlohns möglicherweise von anderen gegenläufigen Entwicklungen überlagert.

Die Messung der Beschäftigungseffekte des Mindestlohns erweist sich deshalb als eine weitaus anspruchsvollere Herausforderung, als viele Kommentatoren dies in ihren Erfolgsmeldungen nach 2015 suggerierten. Aus diesem Grund suchen Arbeitsmarktforscher nach plausiblen Vergleichsgruppen, d.h. Individuen, Unternehmen oder Regionen, die in unterschiedlichem Maße vom Mindestlohn betroffen sind, sich aber in anderen arbeitsmarktrelevanten Eigenschaften ähneln. Das Ausmaß der Betroffenheit vom Mindestlohn einer solchen Vergleichsgruppe wird dabei als der „Biss“ des Mindestlohns bezeichnet.

 

Studien für Deutschland seit 2015: Beschäftigungseffekt schwach und negativ

Eine der ersten zuverlässigen Analysen liefern Mario Bossler und Hans-Dieter Gerner (2016) vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mittels einer Differenz-von-Differenzen-Schätzung. Basierenden auf dem IAB-Betriebspanel, einem repräsentativen Survey deutscher Arbeitgeber, vergleichen die Autoren Betriebe vor und nach 2015 unter Berücksichtigung des Ausmaßes, in dem ein Betrieb vom Mindestlohn betroffen ist. Sie finden, dass es unter den betroffenen Betrieben zu einem Beschäftigungsrückgang von 1,9 % oder 60.000 Arbeitsplätzen kam – hauptsächlich aufgrund nicht erfolgter Neueinstellungen. In einem weiteren Paper findet Mario Bossler (2017), dass die voraussichtlich vom Mindestlohn betroffenen Arbeitgeber 2014 erwarteten, dass die Rate mit der sie zukünftig neue Beschäftigungsverhältnisse schaffen werden um 0,9 Prozentpunkte sank – eine Erwartung, die sich nach 2015 punktgenau bestätigt hat.

Alfred Garloff (2017) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie ist in der Bewertung der Arbeitsmarkteffekte des Mindestlohns zurückhaltender. In seiner Analyse verwendet er alters- und geschlechtsspezifische Daten der 141 Arbeitsmarktregionen Deutschlands und berechnet den „Biss“ des Mindestlohns für 1.410 Regionen-Altersgruppen-Geschlecht-Zellen. Er zeigt, dass in stärker betroffenen Zellen nach 2015 relativ mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse und relativ weniger Minijobs geschaffen wurden – ein Indiz dafür, dass vom Mindestlohn betroffenen Minijobs teilweise in reguläre Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt wurden. Da jedoch mehr Minijobs verloren gegangen sind als sozialversicherungspflichtige Jobs geschaffen wurden, ist in stärker betroffenen Zellen zugleich die Arbeitslosigkeit gestiegen.

Sebastian Schmitz (2017) von der Freien Universität Berlin verwendet ein ähnliches Forschungsdesign wie Garloff, untersucht jedoch stärker aggregierte Regionaldaten in einer Längsschnittanalyse über fast 50 Jahre. Er findet keinen Effekt auf die reguläre Beschäftigung, schätzt jedoch, dass im Jahr 2015 zwischen 150.000 und 200.000 Minijobs aufgrund des Mindestlohns verloren gegangen sind.

Marco Caliendo et al. (2017), ein breites Forscherteam aus Berlin und Potsdam, greifen auf Individualdaten aus der Verdienststrukturerhebung (SES) der EU und dem Sozioökonomischen Panel (SOEP) zurück. Wie in den vorgenannten Studien aggregieren sie diese Daten in Regionen auf und setzen deren Mindestlohnbetroffenheit und Arbeitsmarktentwicklung zueinander ins Verhältnis. Die Autoren finden, dass zwischen 2014 und 2015 ca. 180.000 Minijobs, also 2,4 % aller Minijobs, durch den Mindestlohn verloren gegangen sind. Bezüglich regulärer Arbeitsverhältnisse ergeben einige Schätzungen einen Rückgang um bis zu 0,3 % oder 78.000 Jobs. Doch in anderen Spezifikationen finden sie keinen Effekt.

Lutz Bellmann et al. (2017) zeigen auf Basis des IAB-Betriebspanels, dass von der Einführung des Mindestlohns betroffene Betriebe weniger in die Fortbildung ihrer mittel- und hochqualifizierten Mitarbeiter investieren. Dieser Befund liefert einen Hinweis darauf, dass Arbeitgeber angesichts des Mindestlohns Kosten sparen, indem sie andere explizite und implizite Lohnbestandteile senken.

Fazit: Mindestlohn mit unerwünschten Nebenwirkungen

Drei Jahre nach der Einführung des Mindestlohns ist eine erste wissenschaftlich zuverlässige Abschätzung der kurzfristigen Beschäftigungseffekte möglich. Bisherige Studien zeigen, dass sich weder das Horrorszenario von fast einer Million verlorenen Jobs, noch der Traum einer beschäftigungsneutralen Lohnanhebung bewahrheitet haben. Unterm Strich hat der Mindestlohn zu leichten Jobverlusten geführt: 150.000 bis 200.000 Minijobs sind verloren gegangen. Einige, doch bei weitem nicht alle dieser Job wurden in reguläre Arbeitsverhältnisse umgewandelt, sodass insgesamt ca. 60.000 Stellen abgebaut bzw. nicht neu geschaffen wurden.

Auch wenn die bisherigen Beschäftigungseffekte des Mindestlohns nicht dramatisch ausfallen, sind diese arbeitsmarktpolitisch nicht unbedenklich und ließen sich verhindern, wenn der Mindestlohn durch stärkeres Aufstocken niedriger Löhne ersetzt würde. Zwar sind die schwachen negativen Beschäftigungseffekte angesichts der moderaten Höhe des Mindestlohns von 8,50 € bzw. 8,84 € seit 2017 nicht überraschend. Doch demonstrieren sie, dass die Teilnehmer auf dem deutschen Arbeitsmarkt auf gesetzliche Lohnuntergrenzen ähnlich reagieren, wie dies in anderen Ländern der Fall ist. Entsprechend würde eine deutliche Anhebung des Mindestlohns stärkere Beschäftigungseffekte hervorrufen. Gemäß der bisherigen Erfahrungen in Deutschland und anderen Ländern ließe die von der politischen Linken geforderte Anhebung um mehr als 30 % auf 12 € einen Beschäftigungsrückgang von etwa 3 % in der betroffenen Gruppe erwarten.

Zuerst erschienen bei IREF.

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Das ist die Situation in der Eurozone: Ein bescheidenes Wirtschaftswachstum wird mit einer relativ und absolut immer höheren Geld- und Kreditmenge erkauft. Insgesamt steigt die Verschuldung daher immer stärker an. Diese faktische Überschuldung kann nur durch niedrige Zinsen weiter finanziert werden.

Sätze können so entlarvend sein. Jüngst auch bei der mündlichen Verhandlung am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Dort ging es um die Verfassungsbeschwerden gegen die EZB-Anleihekäufe, die bislang fast 2.500 Milliarden Euro umfassen, und die die EZB mit Geld aus dem Nichts bezahlt hat. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Klagen den Luxemburger Richtern vorgelegt, um zu klären, ob das Programm gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verstößt.

In der Verhandlung verglich die EZB-Vertreterin laut FAZ, das Vorgehen der EZB mit der Tätigkeit eines Schleusenwärters. Durch das Öffnen und Schließen der Wehre könne dieser bestimmen, wie viel Wasser durch die Schleuse fließt, und so den Wasserstand in seinem Bereich kontrollieren. Die EZB stehe an der Schleuse für die Geldzufuhr im Euroraum. Seit Beginn der Finanzkrise 2008 habe die Zentralbank die Wehre geöffnet, um im Interesse aller, entgegenzusteuern. Die Wirtschaft wachse und die Arbeitslosigkeit sinke. Die Überschwemmungen, die mancher befürchtet hatte, seien hingegen ausgeblieben, so die EZB-Vertreterin.

Potemkin’sche Dörfer

Das Bild sagt sehr viel über die Denke der EZB aus. Geldpolitik ist in ihren Augen ein technischer Vorgang, der präzise gesteuert werden kann. Die Notenbanker sind die Ingenieure der Geldpolitik, die alles im Griff haben. Sie steuern die Geldmenge, die Inflation, den Zins und auch die wirtschaftliche Entwicklung. Und sie sind überzeugt, dass sie erfolgreich sind. Doch hier werden Potemkin’sche Dörfer errichtet. Unabhängig davon, dass die Wirtschaftsleistung im Verhältnis zu anderen Weltregionen langsamer wächst und die Arbeitslosigkeit höher ist, verschweigt die EZB geflissentlich, welche Folgen an anderer Stelle diese Eingriffe in die Geldmenge und den Zins haben.

Frederic Bastiat hat bereits 1850 in seinem Essay „Was man sieht und was man nicht sieht“ die Wirkung solcher Markteingriffe sehr anschaulich dargelegt. Darin bekommt der Sohn des Bürgers Biedermann Ärger mit seinem Vater, weil er eine Scheibe zerschlagen hat. Die Passanten, die dieses Schauspiel verfolgt haben, trösten Biedermann mit der Aussage: „Unglück ist zu etwas nutze. Solche Unfälle geben der Industrie ihr Auskommen. Alle Welt muss leben. Was würde aus den Glasern, wenn man niemals Scheiben zerschlüge?“ Das ist in Bastiats Augen das, was man sieht. Er führt nach dieser Geschichte aus, was man nicht sieht: Man sieht nicht, dass das Geld anderweitig ausgegeben werden könnte. Vielleicht muss Biedermann seine abgelaufenen Schuhe ersetzen oder er hätte sich ein Buch für seine Bibliothek kaufen können. Kurz: er hätte mit diesem Geld irgendetwas gemacht, was er nun nicht mehr machen kann. So ist es auch beim Schuldenaufkaufen der EZB. Auch hier richtet sich der Blick vielfach nur auf das, was man sieht.

EZB: Schleuser oder Fischzucht-Betreiber?

Daher sollte man die Geldpolitik der EZB dem Europäischen Gerichtshof mit einem anderen Bild erklären. Eigentlich ist die EZB der Betreiber eines Karpfenteiches, der auf immer mehr Erträge getrimmt ist. Regelmäßig gibt die EZB den Karpfen Kraftfutter, so dass sie immer größer und fetter werden. Steigt die Menge an Karpfen nicht, dann wird mehr Kraftfutter eingesetzt. Irgendwann reicht auch das nicht mehr aus. Ertragssteigerungen sind dann nur noch mit „unkonventionellen“ Maßnahmen möglich. Daher setzt die EZB nun Anabolika ein, um die Karpfen noch größer zu machen. Immer mehr und immer häufiger. Die Folge ist, die Karpfenzucht wächst und gedeiht. Doch die Kollateralschäden sind verheerend. Die großen Karpfen fressen die kleinen. Große und Kleine fressen alles andere im Teich. Und der Teich droht umzukippen. Jetzt versucht es die EZB mit Frischwasser, um die stinkende Brühe zu strecken. Doch der Teich kann nur eine bestimmte Wassermenge aufnehmen, sonst droht er überzulaufen. Daher werden kleinere benachbarte Fischteichbesitzer eingeladen und integriert, am bisherigen Mastprogramm teilzunehmen. Doch irgendwann kippen auch diese Fischteiche um, und alle Fische sind tot.

Das ist die Situation in der Eurozone. Ein bescheidenes Wirtschaftswachstum wird mit einer relativ und absolut immer höheren Geld- und Kreditmenge erkauft. Insgesamt steigt die Verschuldung daher immer stärker an. Diese faktische Überschuldung kann nur durch niedrige Zinsen weiter finanziert werden. Und nur durch eine gemeinsame Haftung für die Risiken gelingt es, die Märkte zu beruhigen. Daher wird es nicht zu nennenswerten Zinserhöhungen kommen. Und für das Ankaufprogramm der EZB, kann unabhängig vom Urteil in Luxemburg und anschließend in Karlsruhe, prognostiziert werden, dass die EZB munter weitermachen wird. Sie hat heute schon angekündigt, dass sie fällige Anleihen durch den Ankauf neuer Anleihen ersetzen will. Und auch die Regel, dass die Euro-Notenbanken maximal ein Drittel der Staatsanleihen eines Landes aufkaufen dürfen, ist von der EZB selbst definiert und kann jederzeit verändert werden. Nicht ohne Grund spricht die EZB von einer „unkonventionellen“ Geldpolitik. Normal ist anders.

Zuerst erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Garry Knight from Flickr (CC BY 2.0)

Vor einem Jahr habe ich an dieser Stelle und in der Zeitung „Die Welt“ dafür geworben, dass Großbritannien wie die Schweiz werden müsse. Damit habe ich gemeint, dass die Briten bei den Austrittsverhandlungen mit der EU den Ordnungsrahmen der Schweiz übernehmen sollten. Die Schweiz ist Mitglied der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) und hat ihre Beziehung zur EU und zum Europäischen Wirtschaftsraum durch bilaterale Verträge geregelt. Bis 1973 gehörte der Inselstaat noch selbst der EFTA an, bis man der damaligen Europäischen Gemeinschaft beitrat. Mitgliedsstaaten der EFTA sind heute Island, Lichtenstein, Norwegen und die Schweiz.

Zwei Jahre nach dem Austrittsreferendum in Großbritannien hat jetzt die Regierung May ein Weißbuch über ihre Vorstellungen einer künftigen Zusammenarbeit mit der EU vorgelegt. Der neue Brexit-Minister Dominic Raab hat dem Unterhaus ein 98 Seiten umfassendes Papier vorgelegt, in dem er letztlich eine Freihandelszone mit der EU vorgeschlagen hat. Zwar will Raab die Freihandelszone nur auf den Warenverkehr und nicht auf den Dienstleistungsmarkt beschränken, dennoch ist der Vorschlag nicht mehr weit weg von dem, was man vor einem Jahr hier lesen konnte. Selbst einen visumsfreien Zugang für Arbeitnehmer und Studenten nach Großbritannien sicherte Raab zu.

Die britische Regierung fürchtet mit Recht einen harten Brexit. Er hätte unvorhersehbare Folgen für den Warenverkehr von und zur Insel. Lieferketten wären unterbrochen, weil die Grenzen dicht gemacht würden. Es hätte steuerliche Folgen für Millionen Menschen und Unternehmen in der EU und in Großbritannien. Selbst Studenten, die mit einem Stipendium an einer englischen Universität studieren, wären plötzlich steuerpflichtig.

Die Risiken eines harten Brexits unterstreichen einige Zahlen: Großbritannien ist die drittgrößte Volkswirtschaft in der EU. Deutsche Unternehmen exportieren Waren und Dienstleistungen im Wert von 86 Mrd. Euro auf die Insel und umgekehrt die Briten für 36 Mrd. Euro nach Deutschland. In den letzten Jahren haben deutsche Unternehmen alleine 120 Milliarden Euro Direktinvestitionen in Großbritannien getätigt. Das alles ist kein Pappenstiel, sondern ist für den Erhalt des Wohlstandes auf beiden Seiten von entscheidender Relevanz.

Die britische Regierung ist dennoch in einer schwierigen Situation. Sie hat die Zeit durch interne Machtkämpfe verplempert und damit ihre Verhandlungsposition geschwächt. Erst jetzt hat die bislang schwankende Theresa May das Heft in die Hand genommen. Bis Ende November muss ein Abkommen stehen, sonst ist die Ratifizierung bis Ende März 2019 in Gefahr. Das ist seriös nicht zu schaffen, weil zahlreiche Streitpunkte ungeklärt sind. Großbritannien will die Hoheit über die Zollpolitik zurückerhalten und sich nicht unter ein EU-Regime begeben. Die Briten wollen sich nicht der Rechtsprechung des EuGH unterwerfen, und auch der EU-Zugang für die britische Finanzindustrie ist ungeklärt.

Für all diese Themen braucht es ein Entgegenkommen beider Seiten. In der Zollpolitik wäre es am einfachsten, wenn sich beide Seiten auf eine generelle Abschaffung von Zöllen einigen würden. Historisch könnte man sich dabei am ersten Freihandelsabkommen überhaupt ein Beispiel nehmen. 1860 vereinbarten Großbritannien und Frankreich den so genannte Cobden-Vertrag. Darin verzichtete Großbritannien auf sämtliche Zölle französischer Waren und Frankreich baute gleichzeitig massiv Zölle ab. Es war eine Blütezeit der wirtschaftlichen Entwicklung in beiden Ländern. Für die Streitschlichtung kann man sich auch an den Freihandelsabkommen orientieren und auf private Schiedsgerichte setzen. Sie haben sich international überaus bewährt, weil sie den Schutz des Eigentums in einem anderen Land gewährleisten und damit erst die Grundlage für Investitionen und Wohlstand schaffen. Problematisch wird es dagegen für den britischen Finanzsektor. Er verliert faktisch den Zugang zum europäischen Markt. Wer bislang keine Geschäftslizenz in der EU beantragt hat, wird auch bis Ende März von der EZB keine Genehmigung mehr bekommen. Der Zug ist abgefahren. Auch deshalb ist es wichtig, dass sich alle Beteiligten für eine Verlängerung der Verhandlungen um zwei Jahre einsetzen. Gründlichkeit geht hier vor Schnelligkeit. Auch das können die Beteiligten von der Schweiz lernen.