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Seine Partei sei stets bemüht gewesen, „dem Aberglauben von der Macht des Staates entgegenzuwirken“. Diesen Satz schrieb 1898 der liberale Politiker Eugen Richter und beschrieb damit ein Fundament für liberales Politikverständnis. Regieren lässt es sich in der Tat nicht so leicht, wenn man dem Ideal der Minimierung staatlicher Gewalt anhängt.

Eugen Richter wäre am 30. Juli 185 Jahre alt geworden und wir können das zum Anlass nehmen, wieder einmal seinen unermüdlichen Einsatz für die Freiheit zu dankbar ins Gedächtnis zu rufen. Für deren Verteidigung war er an allen Fronten unterwegs und ließ keine Gelegenheit aus, sich in die Bresche zu werfen. Der Abgeordnete mit Herzblut vertrat zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs die Werte des Manchesterliberalismus im Parlament und wurde so für viele zum wandelnden Widerspruch: Er war gegen Sozialisten, aber auch gegen ein Gesetz, das die Arbeit von Sozialisten verbietet. Er wandte sich gegen Antisemitismus, lehnte den Kulturkampf gegen die katholische Kirche ab und sprach sich gegen die Ausweisung von zehntausenden polnischen Bürgern aus Preußen aus. Er nutzte eine Feierstunde für Bismarck, um seinen größten Gegner schonungslos zu kritisieren und machte sich nie die Mühe, für seine Reden zum Rednerpult zu gehen. Sein Stil war einfach und wirkungsvoll: Er stand an seinem Platz auf, sagte was er dachte und wurde bekannt als einer der besten Rhetoriker seiner Zeit.

Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft und die Ausweitung der Besteuerung konnten vor Richters kritischem Blick kaum bestehen.

Diese zutiefst liberalen Positionen wurden aufgrund von Eugen Richters Überzeugungsstärke im politischen Alltag nie mit Kompromissen abgeschwächt: „Die Fortschrittspartei“, schrieb er 1898, „ist stets bestrebt gewesen, dem Aberglauben von der Macht des Staates entgegenzuwirken, den Einzelnen auf sich selbst und die eigene Kraft zu verweisen und die Verantwortlichkeit des Staates für das Wohl des Einzelnen zurückzuweisen.“ Aufgrund seines Verständnisses von Liberalismus als einer Idee, die den Menschen befähigt, war für Richter klar, dass die Politik gar nicht allzu viel ‚wirken‘ sollte.

Die Liberalen um Richter horchten alarmiert auf, wenn jemand vorschlug, mit Gesetzen Dinge zu regeln, und jemanden einzuschränken, egal ob Fabrikbesitzer oder Sozialist. Es war ihr Ziel, die wachsende staatliche Macht unter Bismarck zu begrenzen. Mit diesem Ziel vor Augen ergab es bei vielen Entscheidungen keinen Sinn, Kompromisse einzugehen, da jeder „Kompromiss“ unweigerlich zu mehr Staatseingriff geführt hätte. Auch heute noch versucht der politische Liberalismus im Allgemeinen, mehr Gesetze abzubauen als neue zu schaffen und noch heute widerstrebt uns die Kontrolle anderer Menschen, selbst über eine legitimierte Herrschaftsform, im Kern. Doch der Konflikt zwischen Liberalismus und dem Politikgeschäft sitzt noch viel tiefer.

Das Interesse an Machterhalt existiert in unserer parlamentarischen Demokratie genau wie in jedem anderen politischen System. Politiker erhalten Geld, gewisse Privilegien und die Möglichkeit, nach ihren Vorstellungen Einfluss auf das Leben anderer Menschen zu nehmen. Es ist somit logisch, dass Politiker an dem Erhalt ihres Mandats und der Ausweitung ihrer Wählerschaft interessiert sind. Dieser angestrebte Machterhalt kann durch verschiedene Methoden erreicht werden.

Die wohl nachhaltigste Methode, um Macht zu erhalten, erschließt sich, wenn man Politik analog zu Unternehmen betrachtet. Das Produkt sind die Inhalte einer Partei oder die Positionen eines einzelnen Politikers, die Abnehmer sind die Wähler. Besonders gut verkaufen sich Produkte, die eine direkte Lösung für ein Bedürfnis der Käufer bieten. Um das passgenaue Produkt für ein Bedürfnis zu haben, werden aber häufig Bedürfnisse kreiert. So haben die Hersteller von Rasierern beispielsweise ihre Umsätze deutlich gesteigert, nachdem sich das Schönheitsideal für Frauen geändert hatte, und plötzlich die Rasur nicht mehr nur von Männern erwartet wurde.

Nun war Richter vollbärtig. Wo kommen also die Rasierer ins Spiel? Schon in seinem 1865 erschienenen Büchlein „Die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei in Deutschland seit dem Tode Ferdinand Lassalles“ prangerte Richter eine Politikmasche an, die sich eine Nachfrage selbst erschafft.

Seine zentrale These in dem Buch lautet, dass Bismarck mit seinem prinzipienlosen Opportunismus maßgeblich für das Heranwachsen der sozialistischen Bewegung mitverantwortlich war. Im Glauben einen innenpolitischen Gegner entstehen zu lassen, der gleichzeitig bezwingbar und öffentlichkeitswirksam sei, habe Bismarck die Bewegung gewähren lassen und in bestimmten Momenten sogar angefeuert. „Die Mehrheit des Reichstages ist ein Angstprodukt der Wähler.“, brachte es Richter 1887 auf den Punkt.

Ängste schüren, um sich dann als Retter in Not zu präsentieren und so Wählerstimmen zu erhalten, ist kein innovativer Ansatz. In jeder Form des Populismus wird er genutzt und wirkt leider zu häufig. Das Schüren von Ängsten widerspricht jedoch dem optimistischen Menschenbild von Liberalen. Dass Richter diese Logik gnadenlos durchschaute und anprangerte, machte ihn zum idealen Oppositionellen.

Es ist nicht im Interesse der Liberalen, neue Probleme zu schaffen. Und wenn Probleme aufkommen, ist es erst recht nicht in ihrem Interesse, die Menschen daran zu hindern, diese Probleme selbst zu lösen. Darum ist ihnen nicht nur die Macht, die andere ausüben ein Graus – sie fremdeln oft selber damit. Aber vielleicht sind sie auch am besseren Ort, wenn sie der Macht gegenüberstehen, als wenn sie sie ausüben. Eugen Richter blieb jedenfalls Zeitlebens ein Oppositioneller und leuchtet mit seiner Überzeugungskraft noch in unsere Zeit hinein.

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Wer hat’s gesagt?

Es war einmal so einfach. Als normal politisch interessierter Mensch, der mit einem Auge die wichtigsten Debatten verfolgte, konnte man schon anhand einiger Schlüsselwörter die Parteizugehörigkeit von Politikern identifizieren. Oder zumindest deren ideologische Ecke erraten. „Soziale Gerechtigkeit“ hieß SPD, „Werte und Familie“ CDU, und „die Wirtschaft“ besetzte die FDP. Nun haben wir schon lange kein Dreiparteiensystem mehr. Und auch die ideologischen Frontlinien werden diffuser.

Spielen wir also eine Runde „Wer hat‘s gesagt“ mit zwei Zitaten von aktuellen deutschen Politikern. Beide Zitate produzieren abstrakte Feindbilder und setzen auf das Instrument Angst. Angst vor der globalen wirtschaftlichen Elite das eine: „Die neoliberale Ideologie, die (…) Staaten zu Wurmfortsätzen global agierender Konzerne gemacht hat, entzieht den Volkswirtschaften dringend benötigtes Investitionskapital und senkt in den westlichen Industrienationen die Löhne zugunsten der Kapitalrendite“. Angst vor „Überfremdung“ das andere: „Ich finde, es sollte keine Stadtviertel geben, wo die Einheimischen in der Minderheit sind und es sollte keine Schulklassen geben, in denen mehr als die Hälfte der Kinder kaum Deutsch spricht. Ganz davon abgesehen, dass wir dringend Regeln brauchen, die verhindern, dass Zuwanderer in unserem Arbeitsmarkt als Lohndrücker missbraucht werden können.“

Wer hat’s gesagt?

Linke und Rechte spielen Bäumchen wechsel dich

Folgt man traditionellen Argumentationsmustern, dann wären beide Zitate klar auf einer der beiden Seiten des politischen Hufeisens anzusiedeln. Das erste Zitat der linken Seite, denn es schürt die Angst vor einer ungehemmten globalen Wirtschaftselite, die auf Kosten von Otto Normalbürger exorbitante Profite mache. Das zweite Zitat würde man hingegen dem rechten Lager zuordnen. Hier bezieht sich das Gruppendenken nicht auf die Zugehörigkeit zur „Arbeiterklasse“ sondern auf das völkische „Deutschsein“ und dessen Bewahrung vor äußeren Einflüssen.

Tatsächlich stammen beide Zitate von Vertretern von Parteien, die den äußeren Rand des politischen Spektrums besetzen. Eines vom Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke und das andere von der ehemaligen Linken-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Sarah Wagenknecht. Allerdings spielen Wagenknecht und Höcke „Bäumchen wechsel dich“. Nicht etwa Höcke schürt in diesem Fall die Angst vor „Überfremdung“ und der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt, sondern Wagenknecht. Dafür gibt Höcke, und nicht Wagenknecht, den Arbeiterführer und Kämpfer gegen den globalen Neoliberalismus.

Das Hufeisen schließt sich dort, wo die offene Gesellschaft verachtet wird

Das sollte nur auf den ersten Blick überraschen. Denn Wagenknecht und Höcke teilen ein Feindbild: die offene Gesellschaft. Leider ist der Begriff „offene Gesellschaft“ mittlerweile zur Plattitüde verkommen, die ebenso wie „soziale Marktwirtschaft“ oder „Mitte“ beliebige Wahlprogramme und Parteitagsreden ziert. Dabei war derjenige, der das Konzept der offenen Gesellschaft beschrieben und geprägt hat, keinesfalls uneindeutig. Karl Popper sah in der offenen Gesellschaft nichts Geringeres als die Manifestation menschlicher Zivilisation: „Wir können wieder zu Bestien werden. Aber wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur einen Weg, den Weg in die offene Gesellschaft.“

Was genau damit gemeint ist, lässt sich am besten mit Blick auf Poppers Verständnis der „geschlossenen Gesellschaft“ versehen. Diese ähnelt für Popper „immer einer Herde oder einem Stamm; sie ist eine halborganische Einheit, deren Mitglieder durch halbbiologische Bande, durch Verwandtschaft, Zusammenleben, durch die Teilnahme an gemeinsamen Anstrengungen, gemeinsamen Gefahren, gemeinsamen Freuden und gemeinsamem Unglück zusammengehalten werden“.

Die offene Gesellschaft ist ausgerichtet auf das selbstverantwortliche und kritische Individuum. Von ihm verlangt Popper vernünftiges Rebellentum in dem Sinne, dass es Obrigkeitsinstitutionen und Gruppendenken stets kritisch hinterfrage. Die geschlossene Gesellschaft hingegen bedeutet die „Rückkehr zur Kindheit“, in der wir „uns auf andere verlassen und auf diese Weise glücklich“ sind.

Würden sie in einem Parlament auch möglichst weit voneinander entfernt sitzen, im Stammesdenken können sich Wagenknecht und Höcke wunderbar treffen. Da macht es nur einen geringfügigen Unterschied, ob der Stamm völkisch oder durch die vermeintliche Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse definiert ist. Hauptsache es gibt ein möglichst einfaches Freund-Feind-Schema. Vor diesem Hintergrund ist es gar keine Überraschung, dass das vom Meinungsforschungsinstitut INSA simulierte Antreten einer „Liste Wagenknecht“ zur nächsten thüringischen Landtagswahl vor allem die AfD schwächen würde. Die Feinde der offenen Gesellschaft brauchen nur einen möglichst abstrakten Gegner, in dessen Angesicht man sich in den warmen Schoß der eigenen Kultführer flüchten kann. Da spielt es keine große Rolle mehr, ob es gegen Konzerne oder Syrer geht, und ob der Anführer Wagenknecht oder Höcke heißt.

Liberale sollten sich als vernünftige Punks begreifen

Aus diesen Betrachtungen könnten Liberale zwei wichtige Lehren ziehen. Das Hauptproblem, das dem deutschen Liberalismus attestiert wird, ist mangelnder Sexappeal. Und das ist nicht mal falsch, wenn man die Hufeisentheorie nutzt, um sich in der politischen Landschaft zu verordnen. Da verkommt der Liberalismus zwischen den mehr oder minder extremen Ausprägungen von Links und Rechts zur bedeutungslosen und langweiligen „Mitte“. Dabei sollte das liberale Selbstverständnis vielmehr das eines vernünftigen Punks sein. Eines friedlichen Rebells, der sich gegen die Feinde der offenen Gesellschaft wendet. Der seine Wurzeln im Widerstand und nicht im Establishment hat. Für den es weder links noch rechts „natürliche Verbündete“ gibt und der sich auch nicht auf dem Links-Rechts-Spektrum bis zur Unkenntlichkeit zermalmen lässt, sondern sich über die Opposition zum Kollektivismus definiert.

Und es verdeutlicht, wie wichtig es ist, den Verlockungen einer Politik der geschlossenen Gesellschaft zu widerstehen. Wenn liberale Politiker versuchen, mit Stammesparolen und Herdenideologie neue Wählergruppen zu erschließen, dann ist das weder verzeihbarer Ausrutscher noch taktische Klugheit. Es ist der Verrat am Prinzip der offenen Gesellschaft.

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Die Französische Revolution wird gerne als Geburtsmoment moderner Demokratien porträtiert. Dabei hat sie mehr mit Extinction Rebellion und der Landratswahl in Sonneberg zu tun als mit der zivilisierten Suche nach Lösungen, die weithin zustimmungsfähig sind.

Am Anfang stand die unbedarfte Plauderei

Im Jahr 1762 erschien aus der Feder Jean-Jacques Rousseaus das Werk „Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des politischen Rechtes“. Demokratietheoretiker verschiedenster Färbungen und Vorzeichen berufen sich auf das Büchlein. Aber auch der blutigste Schlächter der Französischen Revolution, Maximilien Robespierre. Das Buch wirkt, als ob es mit flotter Feder geschrieben worden wäre. Anders als etwa sein Zeitgenosse Immanuel Kant, dessen windungsreiche Schachtelsätze in seinem qualvollen Ringen um Präzision auch den Leser in Ächzen, Stöhnen und Schwitzen versetzen, plaudert Rousseau munter vor sich hin. Munter – und womöglich oft auch unbedacht. Es ist ein Phänomen, das man bei öffentlichen Intellektuellen nicht selten antrifft: die Freude an der eigenen Wortmacherei und an dem Applaus, der darauf folgt, lässt Präzision, Nuancierung und Folgenabschätzung unter den Tisch fallen.

Der „Gesellschaftsvertrag“, der für viele der Revolutionäre von 1789 zum maßgeblichen Handbuch wurde, birgt in seiner die möglichen Konsequenzen von Worten völlig unterschätzenden Nonchalance mancherlei unheilvollen Samen. So entwirft Rousseau am Ende des Buches eine Zivilreligion, deren Sinn es ist, all die von ihm zuvor ersonnenen Wohltaten des Gemeinwesens noch einmal abzusichern. Die Sicherung von Macht ist eine Funktion, die Religion ja immer wieder übernommen hatte: Von den Göttern der Priesterstaaten des Alten Orients über die athenische Demokratie, die den Quertreiber Sokrates unter dem Vorwand der Blasphemie beseitigte, bis zum Gottesgnadentum der Neuzeit. Hier ist sie zusammengefasst, die neue, gereinigte Religion des neuen Zeitalters – die Zivilreligion:

Es gibt daher ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel festzusetzen dem Souverän zukommt, nicht regelrecht als Dogmen einer Religion, sondern als Gesinnung des Miteinanders, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein. Ohne jemand dazu verpflichten zu können, sie zu glauben, kann er jeden aus dem Staat verbannen, der sie nicht glaubt; er kann ihn nicht als Gottlosen verbannen, sondern als einen der sich dem Miteinander widersetzt und unfähig ist, die Gesetze und die Gerechtigkeit ernstlich zu lieben und sein Leben im Notfall der Pflicht zu opfern. […] Die Dogmen der bürgerlichen Religion: […] Die Existenz der allmächtigen, allwissenden, wohltätigen, vorhersehenden und sorgenden Gottheit, das zukünftige Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen, sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze.

Die Zivilreligion wird zu Zivilinquisition

So weit, so pompös. Wer diesen Abschnitt mit den Augen eines zivilisierten Menschen im 21. Jahrhundert liest, wird sich etwas über Staub und Patina dieser Worte amüsieren, aber ansonsten entspannt zurückgelehnt denken: „Joa, Verfassungspatriotismus und so.“ Aber die Wirkungsgeschichte hat noch ganz andere Volten und Verästelungen genommen. Manche Spuren davon kann man heute auf dem Berliner Asphalt und in Thüringer Wahlurnen wiederfinden. Denn wie jede Religion entwickelt auch diese, entgegen allen Beteuerungen Rousseaus, nicht nur ein Glaubensbekenntnis, sondern auch eine Glaubenskongregation oder Inquisition, wie sie früher hieß. Es entstehen Rituale, Dogmen, Hierarchien. Und es entsteht eine Atmosphäre, die im Neuen Testament umschrieben wird mit: „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich.“

In der Französischen Revolution nahmen Rousseaus achtlose Gedanken grausame Gestalt an: Die Gegner oder auch nur Kritiker der neuen Welt wurden von Robespierre und seinen Mitstreitern so brutal abgeschlachtet wie 560 Jahre zuvor die „Katharer“, die dem Begriff der Ketzer den Namen gaben. Und bis auf den heutigen Tag dienen Rückbezüge auf die „volonté général“ und „die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze“ dazu, Unterdrückung, Terror und Mord zu rechtfertigen. An der Wurzel dieses Missbrauchs liegt ein intellektueller Rückfall in dunkle Zeiten, den ausgerechnet der selbsterklärte Aufklärer Rousseau zu verantworten hat.

Weg mit den rhetorischen und emotionalen Guillotinen!

Über viele Jahrhunderte, ja Jahrtausende, ist es den Menschen gelungen, die unheilvolle Verbindung von Religion und Politik, Glaubensgemeinschaft und Staat zu entflechten. Diese Verbindung, die die virtuelle und moralische Macht über die Seelen mit der realen Macht über die Leiber zu einem Instrument totalitärer Herrschaft verknüpfte, war in mühevoller Arbeit aufgelockert worden, um neue Freiheitsräume zu schaffen. Die Neuzeit und die Aufklärung definieren sich geradezu über ihren Fokus, diese Freiheitsräume auszuweiten. Und genau diesen Prozess dreht Rousseau mit Wucht um, indem er eine neue Religion gründet. Es ist ein Rückfall in finsterste Zeiten, der da in Gang gebracht wird. Und das liegt daran, dass Herrschaft wieder mit Glaube und Moral aufgeladen wird – wie einst bei den Gottkönigen Ägyptens oder den päpstlichen Kriegsherren.

Die Folgen sehen wir heute noch überdeutlich. Ja, die Guillotine ist gemeinhin kein Mittel der Politik mehr. Aber für viele Akteure im politischen Diskurs ist Moral die Kategorie, mit der Maßnahmen und Positionen eingeordnet werden. Die Vorschläge der Mitbewerber im Ringen um die richtige Antwort werden nicht nach sachlichen Kriterien, Stringenz oder Realitätsnähe beurteilt, sondern nach gut und böse sortiert. Wobei „gut“ klar definiert ist, wie bei Rousseaus „Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze“. Die andere Meinung ist also nicht nur irrig, falsch oder nicht zustimmungsfähig, sondern ein Sakrileg. Dieser Angriff auf das Heilige rechtfertigt in der Folge eine ganz andere Dimension des Entsetzens und der Wut. Der heilige Zorn muss keine Rücksicht mehr nehmen auf nüchterne Problemlösung oder die Regeln des zivilisierten Dialogs und respektvollen Miteinanders. Wenn die Gegner mit ihrem „Genderwahn“, „Neoliberalismus“ oder ihrer „Leugnung“ des Klimawandels das Allerheiligste bedrohen, ist Kreuzzug angesagt.

Wenn wir aber nicht nur schnöde recht behalten wollen, sondern wirklich weiterkommen wollen, müssen wir die rhetorischen und emotionalen Guillotinen aus unseren Diskursen verdrängen. Wir müssen die transzendentale Aufladung pragmatischer Debatten beenden und eine neue Phase der Säkularisierung ausrufen. Natürlich müssen übergeordnete Werte im Reich des Politischen eine Rolle spielen. Aber als Orientierungspunkte für unser eigenes Denken und Streben. Und nicht als Handbuch des Inquisitionsgerichtes über andere.

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Am Anfang steht immer eine Idee. Und sei es die der bevorstehenden Apokalypse. Die Aktivisten der „Letzten Generation“ und anderer radikaler Gruppen sind nicht die Ersten, die der Erde einen baldigen Kollaps vorhersagen. Vor allem in den 1970er- bis 1980er-Jahren hatte die Untergangsprophetie Hochkonjunktur.

Es war die Blüte eines Literaturgenres, das die Verletzlichkeit der Natur und ein scheinbar unaufhaltbares Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellte. So popularisierte der amerikanische Autor Buckminster Fuller 1969 in seiner „Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde“ die Metapher einer sich verschleißenden Erde als Raumschiff, dessen menschliche Crew Gefahr läuft, die begrenzten Ressourcen an Bord zu verbrauchen.

Sein Kollege, der deutsch-britische Ökonom Ernst Friedrich Schumacher, veröffentlichte 1973 den Klassiker „Small Is Beautiful – Die Rückkehr zum menschlichen Maß“, in dem er eine Erde skizziert, die unter zu viel Technik und einer entfesselten Wirtschaft ächzt. Schon ein paar Jahre zuvor hatte der Biologe Paul Ehrlich „Die Bevölkerungsbombe“ platzen lassen und massive Hungersnöte sowie den Untergang ganzer Länder durch den zunehmenden Ressourcenverbrauch der wachsenden Spezies Mensch vorausgesagt.

Am bekanntesten ist jedoch ein mittlerweile 50 Jahre alter Bericht des Club of Rome, einer gemeinnützigen Organisation, in der sich fast 2.000 Experten aus mehr als 30 Ländern zusammengeschlossen haben: „Die Grenzen des Wachstums“, so der Titel dieser Arbeit, befeuert die Untergangsfantasien der Umweltbewegung bis heute.

Der 1972 veröffentlichte Report sollte zeigen, welche Auswirkungen das kontinuierliche Wachstum von Volkswirtschaften und Bevölkerungszahlen auf einen Planeten mit begrenzten Kapazitäten haben würde. Die Ergebnisse der beim renommierten Massachusetts Ins­titute of Technology (MIT) in Auftrag gegebenen Studie waren schockierend: Zu Ende gehende Ressourcen würden die Welt in den Kollaps treiben, behauptete der Club of Rome. Anfang des 21. Jahrhunderts würden alle Schlüsselressourcen erschöpft sein; der Untergang der Welt, wie wir sie kennen, sei mit Ende des Jahrhunderts zu erwarten.

Die Ankündigung der Apokalypse traf auf offene Ohren: „Die Grenzen des Wachstums“ verkaufte sich neun Millionen Mal und wurde in 29 Sprachen übersetzt. Mit dem Abstand von fünf Jahrzehnten lässt sich allerdings feststellen: Anstelle der Grenzen des Wachstums zeigte der Report eher die Grenzen des Sachverstands seiner Autoren. Der Bericht lag nämlich in fast allen Punkten daneben, weil er die kreative Anpassungsfähigkeit des Menschen unterschätzte. Bei drei eklatanten Fehlprognosen wird das besonders deutlich.

Irrtum 1: Bevölkerungswachstum

1972 zählte die Welt 3,8 Milliarden Menschen. Dem Club of Rome zufolge sollte sie im 21. Jahrhundert vor dem Abgrund stehen, weil bis zum Jahr 2030 schon 15 Milliarden Menschen ernährt werden müssten. Doch vor kurzem betrat gerade einmal der achtmilliardste Mensch die Weltbühne, und bis 2100 könnte die Weltbevölkerung – aktuellen Studien zufolge – womöglich nur auf 8,8 Milliarden steigen. Die Club-Forscher lagen also fundamental daneben.

Ihr Fehler: extreme Vorhersagen auf der Basis damaliger Trends. Die Forscher nahmen das Bevölkerungswachstum von 1972 – etwa zwei Prozent –, malten eine exponentielle Wachstumskurve in die Zukunft und schlossen: Bevölkerungsexplosion!

Diese Prognose ignoriert jedoch die kreative Anpassungsfähigkeit des Homo sapiens. Die Menschen wurden reicher und gebildeter, sie waren weniger auf Kinder angewiesen und nutzten die Methoden zur Verhütung. Staaten wie China wiederum legten Programme zur Reduzierung des Bevölkerungswachstums auf („Ein-Kind-Politik“). Die Wachstumsrate der Weltbevölkerung sank ab 1972 dramatisch. In Zukunft wird es demnach nicht mehr, sondern eher weniger Menschen auf der Welt geben, was ganz neue Probleme schafft.

Irrtum 2: Zu wenig Nahrung

Für den Club of Rome war die Menge fruchtbaren Ackerlandes die ultimative Grenze der möglichen Lebensmittelproduktion. 1972 gab es weltweit 1,5 Milliarden Hektar Ackerland, also würde es mehr als drei Milliarden Hektar brauchen, um die für das Jahr 2000 prognostizierten sieben Milliarden Menschen zu ernähren.

Dabei ließen die Autoren die Möglichkeit außer Acht, die Agrarproduktivität zu steigern. Heute werden auf nahezu gleich gebliebener Fläche viel mehr Menschen ernährt: Verbrauchte die Welt 1972 noch 0,3 Hektar Ackerland pro Person, fiel diese Zahl bis 2022 um fast die Hälfte auf 0,18 Hektar. Neue Getreidesorten und Produktionstechniken haben dafür gesorgt, dass die Anzahl der vom Hungertod bedrohten Menschen trotz des Bevölkerungswachstums auf einen historischen Tiefstand gefallen ist.

Irrtum 3: Endliche Ressourcen

Die berüchtigtste Vorhersage des Reports besagte, dass die meisten Ressourcen in hundert Jahren nahezu verbraucht und daher extrem teuer sein würden. Bereits jetzt sollte es eigentlich weder Silber, Zink noch Kupfer geben, das letzte Gas wäre längst gefördert, Aluminium und Zinn stünden kurz vor der Erschöpfung.
Besonders falsch nach heutigen Maßstäben waren die Prognosen für den Bodenschatz Erdöl: 1972 berechneten die Forscher Reserven im Ausmaß von insgesamt 455 Milliarden Barrel, die sich innerhalb kürzester Zeit aufbrauchen würden. Doch seit damals wurde nicht nur rund eine Billion Barrel Erdöl gefördert. Es wurden auch neue Vorkommen gefunden, sodass wir derzeit von 1,4 Billionen weiteren Barrel ausgehen. Mehr noch: Die Ressourcen, die heute unbezahlbar sein sollten, sind erschwinglicher als je zuvor.
Man kann über die Fehlprognosen des Club of Rome und dessen mangelnde Bereitschaft, Fehler zuzugeben, wahlweise lachen oder den Kopf schütteln. Gefährlich wird es, wenn die Wachstumsskepsis der 1970er-Jahre den Blick auf die Problemlösungs-Kompetenz des 21. Jahrhunderts verstellt.

Wachstum statt Verzicht

Der Klimawandel ist eine der großen Herausforderungen der Menschheit. Und viele Klimaschützer verhalten sich wie intellektuelle Wiedergänger des Club of Rome: Erneut wird die Lösung nicht in der menschlichen Kreativität gesucht, sondern im Verzicht auf Wachstum. Seit Jahrzehnten heißt es, dass eine Entkoppelung des ökonomischen Wachstums vom CO²-Ausstoß nicht möglich sei. Damit lässt sich auch der antikapitalistische Slogan „System Change statt Climate Change“ als ökologische Formel verkaufen.

Den zugrunde liegenden Fehler würde jeder Statistiker schon im Bachelorstudium rot anstreichen: die Annahme, dass Wachstum auch in Zukunft mit dem CO²-Ausstoß in gleichem Maße korrelieren werde wie in der Vergangenheit. Diese vermeintliche Konstante ist genauso wenig fundiert wie jene der Agrarproduktivität in den 70er-Jahren. Denn die Daten sprechen eine andere Sprache: Seit Jahren entkoppeln immer mehr Länder ihr Wachstum vom CO²-Ausstoß. Natürlich wird es noch dauern, bis Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien das ebenfalls schaffen. Die bisherige Entwicklung in den industrialisierten Ländern lässt jedoch annehmen, dass dies nur eine Frage der Zeit sein wird.

Eine schöne Idee

Die Zeitspanne lässt sich verkürzen, wenn es gelingt, wachstumsfeindlichen Ideen das Modell der menschlichen Kreativität als Formel für den Kampf gegen den Klimawandel entgegenzusetzen. Dazu reichen schöne Grafiken und Zahlen jedoch nicht aus. Den historisch widerlegten, aber aufregenden Untergangsgeschichten müssen wir die nicht minder aufregenden, aber historisch korrekten Geschichten kreativer Menschen entgegensetzen, die unsere Welt mit neuen Ideen materiell und ökologisch besser gemacht haben.

Es sind Geschichten wie die des Vaters der sogenannten „Grünen Revolution“, des amerikanischen Agrarwissenschaftlers Norman Borlaug. Zwei Jahre vor der Veröffentlichung von „Grenzen des Wachstums“ erhielt der in Armut aufgewachsene Sohn norwegischer Einwanderer den Friedensnobelpreis für seine Verdienste um die Züchtung neuer, robusterer Getreidesorten und die Entwicklung effizienterer Produktionstechniken. Seine Arbeit bewahrte Abermillionen Menschen vor dem ­Hungertod.

Kluge Köpfe wie Norman Borlaug werden von Wachstumsskeptikern gerne vergessen, weil deren Kreativität die apokalyptischen Szenarien ad absurdum führt. Wenn es uns gelingt, die Fakten der historischen Entwicklung mit den Geschichten von Menschen wie Borlaug zu kombinieren, korrigieren wir nicht nur den größten Fehler der Untergangspropheten, sondern überzeugen zugleich mit der Idee menschlicher Kreativität als Antriebsfeder erfolgreicher Umwelt- und Klimapolitik. Denn an jedem Anfang steht immer eine Idee.

Seit Generationen machen radikale Umweltschützer denselben Fehler: Sie unterschätzen die menschliche Kreati­vität und Anpassungsfähigkeit. Der einflussreichste Report, auf den sich die Apokalyptiker berufen, stammt vom Club of Rome: „Die Grenzen des Wachstums“, erschienen 1972, prägt bis heute weite Teile der Umwelt- und Klimaschutz­bewegung. Dabei lag der Bericht in allen wesentlichen Punkten daneben. Die Bevölkerung wuchs nicht exponentiell, die Zahl der Hungertoten sank kontinuierlich, und Rohstoffe, die längst unbezahlbar sein sollten, sind erschwinglicher als je zuvor. Die Geschichte zeigt, dass wir Herausforderungen nicht durch Verzicht bewältigen, sondern durch neue Ideen. Das gilt auch für den Klimawandel: Immer mehr Ländern gelingt es, ihr Wachstum vom CO2-Ausstoß zu entkoppeln.

Erstmals erschienen in Der Pragmaticus.

Photo: Gordon Tarpley from Flickr (CC BY 2.0)

Der Fall Intel zeigt: Die Industriepolitik erlebt ein Revival. Anstatt die Produktionsfaktoren für alle zu verbessern, greift die Politik wieder zu Protektionismus und Subventionen.

Die Industriepolitik ist endgültig zurück. Der US-Chiphersteller Intel erhält die astronomische Förderung von 10 Milliarden Euro für den Bau von zwei Fertigungswerken in der Nähe von Magdeburg. Wohl gemerkt kreditfinanziert und auf Kosten der Steuerzahler. Damit überweist jeder einzelne der 82,3 Millionen Deutschen Intel ungefragt 120 Euro. Und selbst wenn es wirklich zur Ansiedelung von insgesamt 10.000 Arbeitsplätzen (inklusive Zulieferern) käme, kostete jeder einzelne dieser Jobs eine Million Euro. Wohlgemerkt in einer Branche, die bereits heute unter Fachkräftemangel leidet. Begründet wird die Megasubvention mit Industriepolitik. Man müsse sich unabhängig machen von asiatischen Zulieferern und gleichzeitig den USA die Stirn bieten. Wurden Subventionen und wirtschaftlicher Protektionismus bis vor einigen Jahren noch als überkommene Mittel einer fehlgeschlagenen Wirtschaftspolitik wahrgenommen, sind sie nun wieder en vogue. Wie das finstere Imperium im Star Wars Universum schlagen nun auch die vormals besiegten Truppen der galaktischen Industriepolitik zurück. Und wie das Imperium beruht auch die Industriepolitik vor allem auf zentralisierter Kontrolle begründet durch Missgunst und Angst.

Alle wollen Airbus, alle bekommen Quaero, EPI und Gaia-X

Missgunst ist der Ausgangspunkt jeder industriepolitische Maßnahme seit dem frühen Merkantilismus: „Die haben etwas, was wir nicht haben. Die sollen nicht von uns profitieren. Wir sollten das haben.“

In den Diskursen übernimmt der Flugzeughersteller Airbus für europäische Wirtschaftsminister die argumentative Funktion, die der Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg für interventionistische US-Politiker einnimmt. Denn letztlich waren sowohl der Erfolg von Airbus als auch die rasche Rückkehr Deutschlands in den Kreis der Zivilisation einmalige Glücksfälle, die nicht Ergebnis von politischem Genius und herausragender Vorhersagefähigkeit waren. Ebenso bedrückend wie die Liste gescheiterter Demokratisierungs-Versuche der USA nach dem Vorbild Deutschlands (Vietnam, Afghanistan, Irak) ist die Liste jüngster industriepolitischer Vollkatastrophen in Europa. Die transnationale Gründungsgeschichte von Airbus gilt bis heute als leuchtendes Beispiel erfolgreicher Industriepolitik. Doch was kam danach? Kennen Sie „Quaero“, das europäische Google? EPI, das europäische Mastercard? Oder Gaia-X, das europäische Amazon Web Services? Milliardengräber überambitionierter Bürokraten, die es für ein Erfolgskonzept halten, amerikanische Unternehmen mit Steuergeld nachzubauen.

Die falschen Lehren aus der Krise

Mit den wirtschaftlichen Auswirkungen von Corona und des russischen Krieges in der Ukraine kommt ein weiteres wirkmächtiges Instrument: Angst. „Wir verlieren die Kontrolle über Schlüsselindustrien. Wir dürfen uns nicht den Chinesen ausliefern. Die haben uns in der Hand.“

Die Krisen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die globalisierten Lieferketten anfällig sind für externe Disruptionen. Allerdings werden daraus die falschen Lehren gezogen. Aufgabe der Politik wäre es jetzt, menschenverachtenden Despoten mit Selbstbewusstsein und größerer diplomatischer Standhaftigkeit zu begegnen. Eine Übung, in der die aktuelle Regierung im Hinblick auf China erneut krachend versagt. Als böte nicht die jüngste Parteigeschichte des aktuellen Kanzlers genug Anhaltspunkte dafür, wie man es eben nicht machen sollte. Keinesfalls jedoch ist es die Aufgabe der Politik, für Lieferkettensicherheit zu sorgen. Solche Fragen sind Teil der unternehmerischen Kalkulation. Firmen, die ihre Produktionen ins Ausland verlagern, müssen die Risiken durch fremde Rechtssysteme, lange Lieferketten, und unberechenbare Regime in ihre Kosten-Nutzen-Abwägung mit einberechnen. Da gab es mit Sicherheit vor Corona und Russland zu viel Naivität. Die Lehren daraus müssen allerdings die Unternehmen selbst ziehen und nicht der Staat. Und überhaupt: man sollte die Ausmaße der Disruptionen mit den tatsächlichen Folgen abgleichen. Eine globale Pandemie ausgelöst durch einen neuartigen Virus und der Überfall eines bedeutenden Landes im Vorgarten der NATO durch eine Atommacht, die auch noch für über die Hälfte der deutschen Gasversorgung verantwortlich war: Dafür war die globalisierte Wirtschaft doch erstaunlich resilient. Wirkliche Knappheit, nicht anekdotische à la ausverkauftes Toilettenpapier, gab es am Ende kaum.

Wir machen das mit den Fähnchen

In der Begründung der Intel-Subvention vermischen die politisch Handelnden beide Narrative, um ihren scheinbaren Coup noch größer wirken zu lassen. Angst vor einer politischen Destabilisierung der asiatischen Chip-Zentren wird verbunden mit Missgunst gegenüber den USA und Ärger über ihr galaktisches Subventionsprogramm „Inflation Reduction Act“. Hoffentlich fällt nur keinem auf, dass Intel bereits heute auch in Irland und Israel produziert …

Eigentlich sollte es mittlerweile Allgemeinwissen sein, wie schädlich Protektionismus ist und wie ineffizient auf Subventionen basierende Industriepolitik. Diese Instrumente bevorteilen die wenigen mit direktem Zugang zur Politik auf Kosten der vielen. Sie verzerren Märkte und führen zu Überkonsum und Produktion von Gütern, die ansonsten keinen Abnehmer fänden. Sie machen Unternehmen abhängig von Steuergeldern und schüren Erwartungen auf immer weitere Unterstützungen. Sie machen den Staat erpressbar und den Wettbewerb ungerecht. Sie beruhen auf einer fatalen Anmaßung von Wissen und verhindern natürliche Innovation.

Doch am Ende sind Angst und Missgunst eben stärkere Motive als dröge wirtschaftliche Zusammenhänge.

Dabei liegen die Industriepolitiker in ihrer Problemidentifikation nicht mal falsch. Der Industriestandort Deutschland ist offensichtlich für viele nicht mehr attraktiv. Anstatt für die wenigen politisch Erwählten wie Magedburg sollten die Rahmenbedingungen für alle verbessert werden. Ansätze gäbe es genug: Das deutsche Arbeitsrecht ist in seiner Starrheit strangulierend. Löhne sind zwar eigentlich niedriger als beispielweise in den USA, doch Lohnnebenkosten und geringe Wochenarbeitszeiten machen Arbeitskraft teuer. Der Arbeitsmarkt ist leergefegt, der Bildungsstand häufig ungenügend. Die Steuern sind hoch, dafür ist die Bürokratie analog und quälend langsam. Verkehrswege sind überlastet, Mobilfunknetze löchrig. Und ein Freihandelsabkommen mit dem wichtigsten Verbündeten auf der anderen Seite des Atlantiks liegt seit Jahren auf Eis.

Es gäbe so viele sinnvolle Felder, auf denen sich Regierungen beweisen könnten. Doch am Ende greift die Politik dann doch zu den althergebrachten Fähnchen aus der bekannten Sparkassen-Werbung.

Bleibt zu hoffen, dass die Star Wars Analogie nicht nur eine Zustandsbeschreibung, sondern auch ein Zukunftsversprechen ist. Denn früher oder später sollten sich Dezentralisierung und (unternehmerische) Freiheit durchsetzen. Dafür bräuchte es Rebellen.