Photo: Flickr, Günter Hentschel

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues, und Kevin Spur, Student der Ökonomie an der Freien Universität Berlin.

Im Bruttoinlandsprodukt sind Haus- und Gartenarbeit nicht enthalten. Rechnet man diese dazu, erkennt man deutliche Unterschiede zwischen den USA und Deutschland. Ein Grund dafür ist die Einkommensbesteuerung, die bezahlte Arbeit für Ehepartner in Deutschland sehr unattraktiv macht.

Als Maß für den Output einer Volkswirtschaft ist es üblich, das Bruttoinlandsprodukt zu betrachten. Es misst den Wert aller für den Verkauf auf Märkten produzierten Waren nach Abzug aller Vorleistungen. Der durch unentgeltliche Arbeit entstandene Wert, zum Beispiel durch Haus- oder Gartenarbeit, findet jedoch gewöhnlich keine Berücksichtigung im BIP. Dabei ist das Ausmaß der Wertschöpfung durch unbezahlte Hausarbeit keineswegs zu vernachlässigen: 2013 hätte die vollständige Berücksichtigung der Hausarbeit das gemessene BIP um 31 % erhöht.

Dass heute relativ weniger Stunden auf unbezahlte Hausarbeit verwandt werden als früher, spiegelt die Entwicklung über die Jahre wider. Im Jahre 1992 wäre das gemessene BIP inklusive Hausarbeit noch um 37 % höher ausgefallen als das BIP ohne Hausarbeit. In den USA fällt der Anteil unentgeltlicher Hausarbeit am BIP deutlich niedriger aus. Es gibt steuerliche Gründe dafür, dass Deutsche – vor allem verheiratete Frauen – weniger entgeltlich arbeiten.

Hausarbeit und BIP

Alltäglich werden in Deutschland Leistungen wie Haus- und Gartenarbeit, Bauen und handwerkliche Tätigkeiten, Altenpflege sowie Kinderbetreuung oder ehrenamtliche Tätigkeiten unentgeltlich erbracht. Der durch diese Aktivitäten geschaffene Wert fließt nicht ins gemessene BIP ein. Würden beispielsweise zwei Nachbarn ihre Haus- und Gartenarbeit niederlegen und sich stattdessen gegenseitig für diese Leistungen bezahlen, stiege das BIP, obwohl die Wertschöpfung unverändert bliebe.

In das üblicherweise gemessene BIP fließt unentgeltliche Hausarbeit nicht ein, weil keine Markttransaktionen zu beobachten sind und somit für diese Leistungen keine Daten vorliegen. Soll die Wertschöpfung durch Hausarbeit vollständig im BIP berücksichtigt werden, muss ihr Wert zwangsläufig geschätzt werden. Im Zuge der Schätzung muss ermittelt werden, zu welchem Preis die Leistung auf dem Markt getauscht worden wäre. Um diese Frage zu beantworten, wird in der Regel die auf derartige Aktivitäten durchschnittlich verwendete Zeit mit dem Durchschnittslohn eines Hausangestellten multipliziert. Zusätzlich werden Abschreibungen auf langlebige Gebrauchsgüter berücksichtigt, die jedoch im Vergleich zur bewerteten Hausarbeit gering ausfallen.

Sinkender Anteil der Wertschöpfung durch Hausarbeit

Daten zur Bruttowertschöpfung durch unbezahlte Hausarbeit stellt das Statistische Bundesamt für die Jahre 1992, 2001 und 2013 bereit. In diesen Jahren erhob das Statistische Bundesamt Daten zur Verwendung des Zeitbudgets von Individuen, die Rückschlüsse auf die Anzahl der Stunden unbezahlter Hausarbeit zulassen, und kombinierte sie mit Daten aus der Entgeltstatistik der Bundesagentur für Arbeit.

 

2013 belief sich das BIP exklusive unbezahlter Hausarbeit auf 2.820 Milliarden Euro. Wäre die unbezahlte Hausarbeit berücksichtigt worden, wäre das gesamte BIP inklusive unbezahlter Hausarbeit mit 3.683 Milliarden Euro um 31 % höher ausgefallen. Der relative Anteil der unbezahlten Hausarbeit am gesamten BIP ging über die Jahre zurück. 1992 hätte das BIP durch die Berücksichtigung unbezahlter Hausarbeit bei 2.323 Milliarden Euro noch um 37 % höher gelegen.

Ähnliche Entwicklung in den USA

Auch in den USA nahm der Anteil der unbezahlten Arbeit an der gesamten Wertschöpfung ab. Für die Vereinigten Staaten stehen Daten für die Jahre 1965 und 2014 bereit. So wäre unter Berücksichtigung von Hausarbeit im Jahr 1965 das BIP noch um 37 % höher ausgefallen. 2014 hätte es dagegen in den USA nur um 23 % zugelegt. Dieser Anstieg fällt nicht nur im Vergleich zu 1965, sondern auch im Vergleich zu Deutschland im Jahre 2013 relativ gering aus.

Würde sowohl in Deutschland als auch in den USA die unbezahlte Hausarbeit berücksichtigt werden, läge der Output auch pro Person in den USA noch immer deutlich über dem deutschen, aber die BIPs pro Kopf der beiden Länder rückten näher zueinander. Das konventionelle Maß für das BIP überzeichnet folglich den BIP-Unterschied zwischen den USA und Deutschland.

USA: Mehr bezahlte Arbeit

Für die Unterschiede hinsichtlich des relativen Anteils der unentgeltlichen Hausarbeit am BIP mag es zum Teil kulturelle Gründe geben. Steuerliche Gründe spielen jedoch gewiss ebenfalls eine Rolle. So werden Transaktionen auf Märkten in den USA weniger stark besteuert als in Deutschland. Dadurch ist unentgeltliche Hausarbeit in Deutschland im Vergleich zu auf Märkten getauschter Arbeit relativ attraktiver. Es ist deshalb nicht überraschend, dass Erwerbstätige in den USA jährlich deutlich mehr Stunden arbeiten: 1.790 Stunden vs. 1.371 Stunden im Jahre 2015.

 

Ehegattensplitting hält Frauen vom Arbeitsmarkt fern

Dabei führt das in Deutschland zur Anwendung kommende Ehegattensplitting zudem dazu, dass der weniger verdienende Partner – häufig die Frau – einen relativ schwachen Anreiz hat, ihre Arbeitskraft auf dem Markt anzubieten. Während die Marktarbeit des weniger verdienenden Partners durch das Ehegattensplitting in Deutschland im Vergleich zu den USA häufig mit einem besonders hohen Grenzsteuersatz belastet wird, ist die unbezahlte Hausarbeit nicht zu versteuern. Auch das zeigt sich in den Daten.

So arbeiten vor allem verheiratete Frauen in Deutschland weniger entgeltlich als verheiratete Frauen in den USA. Alexander Bick und Nicola Fuchs-Schündeln nutzen Daten für die Jahre von 2001 bis 2008 und zeigen, dass verheiratete Frauen in Deutschland mit durchschnittlich 800 Stunden über 400 Stunden kürzer pro Jahr entgeltlich arbeiteten als verheiratete Frauen in den USA. Zudem schätzen sie, dass verheiratete Frauen in Deutschland knapp 300 Stunden mehr entgeltlich arbeiten würden, wenn die gemeinsame Veranlagung von Ehepartnern zugunsten einer verpflichtenden Einzelveranlagung bei gleichbleibenden Steuereinnahmen des Staates ersetzt würde.

Steuerreformen und unentgeltliche Hausarbeit

Wünschenswerte Steuersenkungen insbesondere bei der Einkommensteuer ließen die unentgeltliche Hausarbeit relativ zu entgeltlichen Tätigkeiten weniger attraktiv werden. Es käme zu zusätzlichen Markttransaktionen. Menschen würden weniger Aufgaben im Haushalt in Eigenregie erledigen und mehr Stunden auf Tätigkeiten verwenden, auf die sie spezialisiert sind. Die Einmottung des Ehegattensplittings hätte einen ganz ähnlichen Effekt. Durch die Umstellung auf Einzelveranlagung wäre es für den weniger verdienenden Partner angesichts niedrigerer Grenzsteuersätze attraktiver als heute, einer entgeltlichen Tätigkeit nachzugehen.

Erstmals veröffentlicht bei IREF.

Photo: Mirko Walterman from Flickr (CC BY 2.0)

Der Arbeitsmarkt verändert sich. Auf vielfältige Weise. Auf der einen Seite erlebt Deutschland ein Beschäftigungswunder. Seit der Deutschen Einheit gab es noch nie so viele Beschäftigungsverhältnisse. Aktuell sind es 44,5 Millionen. Inzwischen sind nur noch durchschnittlich 2,53 Millionen als arbeitslos registriert. Die Bundesagentur für Arbeit meldet nur noch eine Quote von 5,7 Prozent. All diejenigen, die bislang meinen, es würde die Arbeit in Deutschland ausgehen, sind eines Besseren belehrt. Natürlich sind das nicht alle, die Arbeit suchen. In vielen Bereichen wird die Statistik geschönt. Der Bereich der ALG II-Empfänger gehört nicht dazu, auch diejenigen, die ein Asylverfahren durchlaufen, fallen raus und viele andere mehr. Dennoch ist die Entwicklung positiv. Denn vor 15 Jahren, als Gerhard Schröder die Reformen am deutschen Arbeitsmarkt eingeleitet hatte, lag die Arbeitslosenzahl bei rund 5 Millionen, bei nahezu ebenso vielen Menschen, die aus der Statistik herausgeschönt wurden.

Überall werden Facharbeiter und Handwerker gesucht. Nicht nur Elektriker und Fliesenleger fehlen, sondern auch LKW- und Gabelstaplerfahrer. Gerade hier liegt eine große Herausforderung für die Weiterbildung. Doch man muss sich fragen, ob dazu die Bundesagentur für Arbeit die richtige Adresse ist. Sie hat nur noch die Hälfte der „Kunden“ gegenüber Anfang des Jahrtausends, aber beschäftigt immer noch fast die gleiche Anzahl an Mitarbeitern. Ende 2016 waren es 96.800 Vollzeitkräfte und sie verwaltete einen Etat von über 35 Milliarden Euro. Wer über die Effizienz des Staates nachdenkt, muss hier ansetzen. Denn bereits vor 15 Jahren war die Nürnberger Behörde ein fast unmanövrierbarer Tanker. Unter dem langjährigen BA-Chef Frank-Jürgen Weise, der bis Ende 2017 Vorstandsvorsitzender der Behörde war, hat sich die ehemalige Bundesanstalt für Arbeit unbestritten weiterentwickelt. Dennoch herrscht Reformbedarf. Die Qualifizierung und Weiterbildung ist keine staatliche Aufgabe, sondern eine privatwirtschaftliche. Dazu bedarf es Freiräume für Unternehmen und Marktteilnehmer.

Denn neben dem Beschäftigungswunder gibt es eine gravierende Veränderung des Arbeitsmarktes. Insbesondere der Drang zur Selbstständigkeit hält an. Neue Beschäftigungsformen, wie die der Clickworker, die über Portale Aufträge akquirieren, kommen zunehmend in Mode. In Deutschland, so berichtet die FAZ, arbeiten inzwischen eine halbe Million in diesem Sektor. DGB-Bundesvorstand Annelie Buntenbach, die auch Vorsitzende des BA-Verwaltungsrates ist, hat jetzt verlangt, dass Portale wie Myhammer Sozialabgaben für diejenigen bezahlen sollen, die auf ihrer Plattform Aufträge entgegennehmen. Sie gehörten in den „Schutz der Sozialversicherungen“. Ob die Selbstständigen dies wollen, mag man bezweifeln. Die allermeisten habe ihre Selbstständigkeit ja freiwillig gewählt.

Die Nachfrage von Handwerksunternehmen nach ausgebildeten Gesellen ist besonders hoch. Daher haben die Selbstständigen, die Portale nutzen, um Aufträge zu gewinnen, ihr Geschäftsfeld selbst gesucht und gewählt. Der Gesetzgeber hat gutgetan, bislang die Einbeziehung von Selbständigen in die Sozialversicherungen nur sehr behutsam zu veranlassen. Die Freiheit der Selbständigkeit beinhaltete historisch auch die Freiheit, seinen Krankenversicherungsschutz frei zu wählen oder auch seine Altersvorsorge. Wer diese Freiheit einschränken will, schafft Markteintrittshürden für Existenzgründer und verhindert so die Flexibilität in einer Marktwirtschaft. Das schadet allen. Nicht nur den Existenzgründern selbst, sondern auch den Kunden. Sie müssen in einem engeren Markt mehr für die angeforderte Dienstleistung bezahlen. Dem Millionär mag das egal sein, dem Arbeiter jedoch nicht. Er muss für eine eingekaufte Dienstleistung einen höheren Anteil seines Nettogehalts aufwenden. Er bezahlt also die Regulierungswut des Staates. Dabei profitiert der klassische Arbeitnehmer mit geringen oder durchschnittlichen Einkünften besonders von innovativen Konzepten wie Myhammer und anderen.

Erstmalig kann er ohne aufwändige Ausschreibung Aufträge vergeben und so qualitative oder preisliche Bewertungen vornehmen. Der Dienstleistungsmarkt wird so für viele Privatkunden transparenter und erschwinglich. Mehr Marktwirtschaft hilft daher dem kleinen Mann, er ist dann wirklich als Kunde König.

Photo: Pascal from Flickr (CC 1.0)

Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim. Von Prof. Vaubel erschien kürzlich das Buch „Das Ende der EUromantik – Neustart jetzt“.

Geld weckt Begehrlichkeiten. Jüngstes Beispiel ist die „Roadmap“ der Kommission zur Umgestaltung des sogenannten „Europäischen Stabilitätsmechanismus“. (In Wirklichkeit ist der ESM ein Destabilisierungsmechanismus, denn die Aussicht auf seine subventionierten Kredite schwächt den Anreiz, Überschuldungskrisen zu vermeiden.) 500 Mrd. Euro sind ein stattliches Kapital. Damit kann man sich viele Wünsche erfüllen. Aber der ESM darf seine verbilligten Kredite nur vergeben, „um die Stabilität des Eurogebiets insgesamt zu wahren“ – und auch das nur unter „strengen Auflagen“ (Art. 136 Z. 3 AEUV). Eine neue Finanzkrise ist für die Eurozone insgesamt nicht in Sicht. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich Macron, Juncker und die Schäuble-CDU immer neue Vorschläge ausdenken, wie das Kapital des ESM auf andere Weise eingesetzt werden könnte. Mit der Annahme, dass die Mittel des ESM für diese anderen Zwecke zur Verfügung stehen, wird übrigens stillschweigend eingestanden, dass er für seinen ursprünglichen Zweck nicht als Dauerinstitution gebraucht worden wäre.

Der ESM ist nicht nur reich, sondern auch gefährdet. Er könnte leicht wieder abgeschafft werden. Er beruht nicht auf EU-Recht, sondern auf einem eigenständigen völkerrechtlichen Vertrag, der von jedem einzelnen Unterzeichnerstaat mit Hinweis auf die grundlegende Änderung der Umstände gekündigt werden kann. Die FDP zum Beispiel hat in ihrem Wahlprogramm die Forderung aufgestellt, dass „die Ausleihekapazität des ESM kontinuierlich wieder zurückgefahren wird und dieser langfristig ausläuft“. Für die Europapolitiker geht es daher nicht nur darum, die Mittel des ESM stärker auszuschöpfen, sondern zunächst einmal zu verhindern, dass er wieder abgeschafft wird.

Um das Überleben des ESM zu sichern, verfolgen seine Anhänger zwei verschiedene Strategien. Die erste besteht darin, den ESM in EU-Recht zu überführen. Wenn das durchkäme, wäre es nicht mehr möglich, den ESM zu verlassen, ohne aus der EU auszutreten. Das ist die Strategie von Juncker und Macron. Dagegen ist die Schäuble-CDU. Schäuble verfolgt die zweite Strategie. Auch er möchte den ESM – sein Werk – vor der Abschaffung bewahren. Aber wenn der ESM in EU-Recht überführt würde, bestünde die Gefahr, dass Deutschland überstimmt werden könnte. Die Kommission schlägt das zwar in diesem Fall nicht vor, aber normalerweise wird im EU-Recht mit (qualifizierter) Mehrheit entschieden. Außerdem soll der Ministerrat der 28 ein Vetorecht erhalten. Nach dem ESM-Vertrag besitzt der deutsche Finanzminister im Gouverneursrat ein Vetorecht. Anstatt den ESM in EU-Recht zu überführen, will die Schäuble-CDU sein Überleben sichern, indem sie  ihm wichtige zusätzliche Kompetenzen überträgt, die ihn für alle Zeiten unentbehrlich machen. Konkret geht es um zwei Zuständigkeiten:

  1. Der ESM soll anstelle der sogenannten Troika aus Kommission, EZB und IWF darüber wachen, dass die Empfänger der ESM-Kredite ihre wirtschaftspolitischen Auflagen einhalten.
  2. Der ESM soll anstelle der Kommission dafür zuständig sein, die Haushaltspolitik aller Euro-Staaten zu überwachen.

Diese Vorschläge laufen den Interessen der Kommission zuwider. Sie will nicht Kompetenzen abgeben, sondern neue hinzugewinnen. Deshalb möchte sie ja den ESM in EU-Recht überführen. Auf diese Weise könnte sie sich – wie sie ausdrücklich erwähnt – vielfältige neue Mitwirkungsrechte verschaffen. Aber das ist keine Begründung, die bei den Mitgliedstaaten verfängt. Um die anderen Mitgliedstaaten gegen Schäuble-Deutschland zu mobilisieren, muss die EU-Kommission für den ESM Verwendungszwecke vorschlagen, an denen Frankreich und seinen Bundesgenossen gelegen ist. Das hat sie am 6. Dezember getan. Konkret geht es um zwei Verwendungen:

  1. Der ESM soll seine billigen Kredite auch an den Bankenabwicklungsfonds der Eurozone vergeben dürfen. Da freuen sich die Länder, die die marodesten Banken haben: Italien, Spanien und natürlich Griechenland und Zypern.
  2. Der ESM soll – wenn auch nicht sofort – bei asymmetrischen makroökonomischen Schocks verbilligte Kredite zur Finanzierung von Investitionen vergeben. Für die Finanzierung von Investitionen gibt es aber bereits europäische Institutionen: die Europäische Investitionsbank und den sogenannten Juncker-Fonds. Außerdem betreffen asymmetrische makroökonomische Schocks per definitionem nicht die Stabilität des Euroraums insgesamt.

Die Kommission sieht weitere Verwendungszwecke vor: „The proposal refers to the possibility for the European Monetary Fund to develop new financial instruments. Over time, such instruments could supplement or support other financial instruments and programmes“. Dabei ist vor allem an zwei weitere Vorschläge aus dem Nikolaus-Paket der Kommission zu denken:

  1. Mitgliedstaaten, die wichtige Wirtschaftsreformen durchführen, sollen spezielle Finanzhilfen erhalten. Das ist für Macron und die Mittelmeerländer attraktiv. Auch Angela Merkel ist dafür. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte meint dagegen: „Wir in den Niederlanden haben ohne jede ausländische Hilfe zahlreiche Reformen ergriffen – und jetzt sollen wir denen, die Reformen unterlassen haben, dafür Geld geben?“
  2. Länder, die der Währungsunion beitreten wollen, sollen stärker gefördert werden. Dabei handelt es sich zurzeit um Kroatien, Bulgarien und Rumänien. Die Kommission wirbt also auch in Osteuropa um Unterstützung.

Wie schneiden im Vergleich Schäubles Vorschläge ab? Wenn in Zukunft nicht mehr die Troika, sondern der ESM dafür zuständig wäre, die Einhaltung der wirtschaftspolitischen Auflagen zu überwachen, hätten die Schuldnerländer noch leichteres Spiel. Denn das ESM-Personal ist nicht daran interessiert, Kreditprogramme wegen Nichterfüllung der Auflagen abzubrechen. Die ESM-Beamten wollen möglichst viele Kredite vergeben, denn über ihre Zinsmarge erzielen sie die Einkünfte, die sie zur Finanzierung ihrer Gehälter und sonstigen Ausgaben benötigen. Außerdem ist die Kreditvergabe ein Weg, Macht auszuüben und Prestige zu gewinnen. Dieses Anreizproblem ist aus der Geschichte des Internationalen Währungsfonds sattsam bekannt. Zwar hat der IWF zum Beispiel im Zeitraum 1991-2012 insgesamt 41 Kreditprogramme wegen Nichterfüllung der Auflagen abgebrochen, aber auf dreißig dieser Programme folgte innerhalb eines Jahres das nächste Programm (Urbaczka, Vaubel, Cato Journal 2013). Schäubles Vorschlag müsste daher bei den Schuldnerstaaten gut ankommen. Er ist nicht im Interesse Deutschlands.

Seinen zweiten Vorschlag hat Schäuble folgendermaßen begründet: „Der ESM würde die Haushaltsentwürfe nicht politisch, sondern streng nach den Regeln beurteilen“ (Stuttgarter Zeitung, 15.10.16). Das hören die deutschen Wähler gerne, aber es ist falsch. Der Gouverneursrat des ESM besteht aus den Finanzministern der Euro-Staaten – also den Politikern, die die Haushaltsdefizite höchstpersönlich zu verantworten haben. Sie haben kein Interesse daran gerügt zu werden oder gar Geldbußen zu zahlen. Ein Finanzminister hackt dem anderen kein Auge aus.  Man würde die Böcke zu Gärtnern machen. Insofern hat auch dieser Vorschlag in den notorischen Defizitländern gute Chancen. Er wird auch von der FDP unterstützt, obwohl doch Kompetenzübertragungen, die auf Dauer angelegt sind, die gewünschte langfristige Abschaffung erheblich erschweren würden. Im deutschen Interesse sind diese Pläne nicht, und die Kommission bekämpft sie.

Aber es gibt auch Punkte, bei denen Kommission und Schäuble übereinstimmen. Um das Überleben des ESM zu sichern, wollen sie den ESM nicht nur – jeder auf seine Weise -umfunktionieren, sondern auch optisch aufwerten. Dazu gehört, dass der ESM einen neuen Namen erhält: „Europäischer Währungsfonds“. Außerdem soll der Vorsitzende des Gouverneursrats zugleich Chef der Eurogruppe sein. Als neuer Vorsitzender der Eurogruppe ist gerade der Portugiese Mario Centeno gewählt worden. Er ist Finanzminister seines Landes und Mitglied der sozialistischen Fraktion. Nach den Vorstellungen der Kommission soll die Eurogruppe einen Vize-Präsidenten der Kommission zu ihrem Vorsitzenden wählen. Dieser soll – einem Vorschlag des französischen Präsidenten folgend – den Titel „Europäischer Finanzminister“ erhalten.

Wer könnte sich dem entgegenstellen?

Photo: StefanRohrbach from Flickr (CC BY 2.0)

Von Claus Vogt, Börsenbrief „Krisensicher investieren“.

Der Bundesrechnungshof hat vor einigen Monaten einen Bericht veröffentlicht, in dem er sich intensiv mit der finanziellen Dimension der Energiewende auseinandersetzt. In dem Bericht kritisieren die Finanzkontrolleure insbesondere, dass die Bundesregierung keinen Überblick über die finanziellen Auswirkungen der Energiewende habe. Auch würden bei der Umsetzung der Energiewende die Ziele Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit nicht gleichrangig mit den klimapolitischen Zielen behandelt.

Fragen der Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit spielen auch in den derzeitigen Verhandlungen zur Regierungsbildung nach der Bundestagswahl vom September 2017 keine Rolle. Da fragt man sich als interessierter Zeitgenosse schon, auf welcher Faktenbasis die zukünftigen Koalitionäre über weitere Verschärfungen der Energiewende verhandeln und dadurch der Gesellschaft zusätzliche Belastungen auferlegen wollen.

Als Energiewende bezeichnet die Bundesregierung den Übergang von der Nutzung fossiler Energieträger wie Erdöl, Kohle und Erdgas sowie der Kernenergie zu einer nachhaltigen Energieversorgung durch erneuerbare Energien. Die Energiewende soll dazu beitragen, die angestrebten Klimaschutzziele zu erreichen. Der Begriff „erneuerbare Energien“ ist streng genommen nicht korrekt, denn Energie lässt sich nach dem Energieerhaltungssatz der Physik weder vernichten noch erschaffen, sondern lediglich in verschiedene Formen überführen. Die Bezeichnung hat sich jedoch allgemein durchgesetzt und auch Eingang in die Gesetzessprache gefunden.

Eine Gesamtkoordinierung findet nicht statt

Innerhalb der Bundesregierung ist das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) für die Gesamtkoordinierung der Energiewende zuständig. Das BMWi versteht die Energiewende als gesamtstaatliche Aufgabe und spricht in diesem Zusammenhang davon, dass durch seine Koordinierung Reibungsverluste verhindert und eine „Energiepolitik aus einer Hand“ ermöglicht werde. Die Feststellungen des Rechnungshofs zeigen allerdings, dass das BMWi bislang seine Rolle als Gesamtkoordinator nicht ausfüllt. Vielfach fanden weder innerhalb des BMWi noch mit anderen Bundesministerien koordinierende Absprachen statt. Beispielsweise wurden Fördermittel von verschiedenen Ressorts für ähnlich Programme zur Verfügung gestellt. Weiterhin hat der Bundesrechnungshof die mangelhafte Abstimmung zwischen Bund und Ländern bei der Umsetzung der Energiewende bemängelt.

Der Bund hat keinen Überblick über die Kosten der Energiewende

Angesichts der mangelnden Koordination verwundert es nicht, dass das BMWi keine belastbaren Zahlen über die finanzielle Dimension der Energiewende vorlegen konnte. Elementare Fragen wie zum Beispiel, was die Energiewende den Staat kostet bzw. kosten sollte, konnten nicht beantwortet werden. Für den Bundesbereich musste der Rechnungshof die entsprechenden Informationen bei den in Frage kommenden Bundesministerien erfragen. Maßnahmen zur Umsetzung der Energiewende finanziert der Bund aus dem Bundeshaushalt und aus dem Energie- und Klimafonds. Die entsprechenden Ausgaben lagen im Jahr 2011 bei 2 Milliarden Euro, im Jahr 2016 waren es bereits 4 Milliarden Euro. Der Rechnungshof hat gefordert, dass der Bund sich an zentraler Stelle einen umfassenden Überblick über die finanziellen Auswirkungen der Energiewende verschaffen müsse. Nur dann könne eine fundierte Entscheidung über Ausbau und Grenzen der Energiewende getroffen werden.

Bürger und Unternehmen werden mit hohen Milliardenbeträgen belastet

Viel gewichtiger als die Ausgaben der öffentlichen Haushalte für die Energiewende sind die Lasten, welche auf die Bürger und Unternehmen in diesem Zusammenhang zukommen. Insbesondere die von den Stromverbrauchern zu tragenden Aufschläge und Umlagen erreichen eine gewaltige finanzielle Dimension. Die von den Stromverbrauchern zu zahlenden Gesamtausgaben für die verschiedenen Aufschläge und Umlagen beliefen sich im Jahr 2016 auf schätzungsweise 24 Milliarden Euro. Darüber hinaus müssen die Bürger und Unternehmen die Energiewende aufgrund von gesetzlichen oder sonstigen Regelungen mitfinanzieren. Ein Beispiel hierfür ist die Energieeinsparverordnung, welche die Investitionsausgaben bei Gebäuden deutlich erhöht. Die energetisch relevanten Kosten bei Investitionen in den Gebäudebestand wurden vor einigen Jahren auf über 50 Milliarden Euro geschätzt.

Der Rechnungshof fordert Transparenz über die Kosten der Energiewende

Der Rechnungshof hat zu diesem Thema ausgeführt, dass der Bund Transparenz über die Auswirkungen der Energiewende auf Bürger und Unternehmen durch staatliche Maßnahmen wie Steuern, Abgaben, Umlagen usw. schaffen müsse. Das gleiche gelte für Regelungen wie beispielsweise das Gesetz über den Ausbau erneuerbarer Energien oder die Energieeinsparverordnung. Nur aufgrund einer ausreichend datenbasierten und umfassenden Grundlage sei eine Diskussion über die Weiterentwicklung der Energiewende möglich. Eine Entscheidung über Ausbau und Grenzen der Energiewende könne nur getroffen werden, wenn der Staat wisse, wie viel die Energiewende den Staat und die Verbraucher von Energie koste.

Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit müssten stärker berücksichtigt werden

Weiterhin geht der Rechnungshof auch auf die energiepolitischen Ziele der Bundesregierung ein. Die Ziele Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit (sogenanntes „energiepolitisches Dreieck“) stehen für die Bundesregierung gleichrangig nebeneinander. Der Bundesrechnungshof führt dazu aus, dass bei der Energiewende die Ziele Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit nicht gleichrangig mit den umweltpolitischen Zielsetzungen berücksichtigt würden. Es bestehe eine Dominanz der Umweltverträglichkeit. Der Rechnungshof fordert, dass die Ziele Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit genauso konkretisiert und quantifiziert werden müssten wie die bereits ausreichend quantifizierten umweltpolitischen Ziele. Dabei sollten Obergrenzen für die Kosten der Energiewende aufgezeigt werden. Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit müssten als begrenzende Faktoren für die Weiterentwicklung der Energiewende wahrgenommen werden.

Neue Lasten werden auf die Bürger zukommen

Goldene Worte, die der zur Objektivität verpflichtete Rechnungshof der Politik da ins Stammbuch geschrieben hat. Die äußerst vernünftigen Forderungen der Finanzkontrolleure werden aber vermutlich bei der Politik kein Gehör finden. Hierfür spricht, dass klimapolitische Ziele in den bisherigen Verhandlungsrunden zur Bildung einer tragfähigen Regierungskoalition nach der Bundestagswahl einen hohen Stellenwert hatten, während Aspekte der Versorgungssicherheit bzw. Bezahlbarkeit nicht im Vordergrund standen. An diesem Vorrang für den Klimaschutz dürfte sich auch bei weiteren Koalitionsverhandlungen nichts ändern. Vor diesem Hintergrund steht zu befürchten, dass die Politik uns Bürgern weitere finanzielle Lasten zur Durchsetzung ihrer klimapolitischen Ziele auferlegen wird.

Photo: HEN-Magonza from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Als Luther-Jahr präsentierten sich die zurückliegenden zwölf Monate. Angemessener wäre es gewesen, die gesamte Reformation in den Fokus zu rücken. Denn auch wenn er eine beeindruckende Persönlichkeit war: Luther steht wahrhaft nicht für das Beste an dieser Bewegung, die vor einem halben Jahrtausend die Welt veränderte. Andere Akteure hätten weitaus mehr Aufmerksamkeit und Würdigung verdient.

Des Deutschen Liebe zum Helden

Der Deutsche liebt seine Helden. Ob Hermann der Cherusker und Siegfried, Bismarck und Hindenburg oder in jüngster Zeit Helmut Schmidt – wir sehnen uns nach Persönlichkeiten, zu denen wir aufschauen können. Bedauerlicherweise sind das in der Regel selten Menschen, die das Penicillin erfunden haben, sich für Frauenrechte eingesetzt haben oder ein Unternehmen gegründet haben, das einen wichtigen Beitrag zur sharing economy leistet. Meist sind es Politiker und sogenannte Staatsmänner (bemerkenswert, dass sich der Begriff Staatsfrauen noch nicht durchgesetzt hat), die in den Bann ziehen.

Luther war schon immer ein solcher Held. Geschichten gab es genug von dem Mann, der es mit Papst und Kaiser aufgenommen hatte und uns nebenbei noch die Sprache der Dichter und Denker geschenkt hat. Ein wackerer Deutscher, der sich wie einst Hermann im Teutoburger Wald für Selbstbestimmung einsetzte – gegen den Papst in Rom und den „spanischen“ Kaiser. Als Projektionsfläche diente er gerade in dieser Deutung nicht selten den Mächtigen und Herrschern. Auch den zwei Diktaturen auf deutschem Boden.

Luther – ein Pessimist und Anti-Rationalist

Im vergangenen Jubiläumsjahr haben sich die protestantischen Kirchen und auch die staatlichen Akteure wieder voll auf die Person Luther konzentriert. Bis hin zu einem vollkommen bizarren Luther-Musical, das das ZDF mit mehreren tausend Sängern veranstaltete. Zwar wurden pflichtschuldig auch heikle Aspekte wie sein eklatanter Anti-Judaismus thematisiert. Aber am Ende des Tages wurden die Schattenseiten des Reformators eher noch zu seinem Vorteil gewendet, indem man nun auch herausstellen konnte, dass Luther ja auch nur ein Mensch und ein Kind seiner Zeit gewesen sei. Das mache ihn doch gerade so sympathisch …

Er habe, so könnte man meinen, nun einmal diese eine problematische Seite gehabt. Darüber hinaus sei er aber eine bedeutende Persönlichkeit gewesen – ein deutscher Held –, den man getrost seinem Kind als Playmobil-Figur in die Hand drücken kann. Darüber wurde viel zu sehr ignoriert, was für eine hochproblematische Gestalt er war, auch unabhängig von seiner Aversion und Gehässigkeit gegenüber den Juden. So vertrat Luther ein sehr negatives Bild vom Menschen und nicht zuletzt von dessen Rationalität. Die Vorstellung von Luther als dem Ersten der Aufklärer ist also nicht nur unpassend, sondern glattweg falsch. Viel eher könnte man in ihm einen wichtigen Vertreter jener Stimmung des Anti-Intellektualismus sehen, der heute noch ein definierendes Moment populistischer Bewegungen ist. Seine Ablehnung Roms war nicht nur gegen den päpstlichen Pomp gerichtet, sondern war auch eine Ablehnung der Renaissance und deren optimistischer Sicht auf den Menschen.

Luther – der Wegbereiter des absoluten Staates

Was genau der Vielschreiber Luther beabsichtigt haben mag, ist Gegenstand für seine Biographen. Die Auswirkungen seiner oft mit heißer Nadel gestrickten Texte waren freilich über die Jahrhunderte fatal. So liest sich seine 1523 erschienene Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ in der Rückschau wie eine Bedienungsanleitung für absolutistische Herrscher. Zwei bedeutende Historiker des 19. Jahrhunderts, Lord Acton und Jacob Burckhardt, ziehen eine direkte Linie von Luther und seinem Umfeld zum Entstehen von Absolutismus und Totalitarismus als definierenden Staatsformen der Neuzeit.

Viele Aspekte des Staates, die uns heute noch Schwierigkeiten bereiten, können auch auf Luther zurückgeführt werden. Etwa das Entstehen von mächtigen Bürokratien und die Verdrängungen privater Solidarität durch einen ausufernden Wohlfahrtsstaat. Der Reformator begründet auch, warum und wie ein anständiger Bürger der Obrigkeit hörig sein sollte: „Nun das Schwert aber aller Welt ein großer nötiger Nutzen ist, daß Friede erhalten, Sünde gestraft und den Bösen gewehrt werde, so ergibt er [der rechte Christ] sich aufs allerwilligste unter des Schwertes Regiment, zahlt Steuern, ehrt die Obrigkeit, dient, hilft und tut alles, was er kann, das der Gewalt förderlich ist, auf daß sie im Schwang und in Ehren und Furcht erhalten werde“.

Luther geht weit zurück vor die schon zu seiner Zeit üblichen rechtsstaatlichen Standards, indem er einer archaischen Unterscheidung zwischen Gut und Böse huldigt und eine „angemessene“ Bestrafung den ordentlichen Prozessen vorzieht – auch hier ein Vorläufer der Populisten heutiger Tage. Der philippinische Präsident Duterte könnte das wohl so unterschreiben: „Wenn die Gewalt und das Schwert ein Gottesdienst ist, wie oben erwiesen ist, so muß auch das alles Gottesdienst sein, was der Gewalt nötig ist, um das Schwert zu führen. Es muß ja einer sein, der die Bösen fängt, verklagt, erwürgt und umbringt, die Guten schützt, entschuldigt, verteidigt und errettet.“ Diese simple Weltsicht kulminiert schließlich in der Rechtfertigung des Krieges, die wahrlich verstörend ist: „Und in solchem Krieg ist es christlich und ein Werk der Liebe, die Feinde getrost zu würgen, zu rauben und zu brennen und alles zu tun, was (den Feinden) schädlich ist, bis man sie nach Kriegsbräuchen überwinde, nur daß man sich vor Sünden hüten, Weiber und Jungfrauen nicht schänden soll.“

Die Wiege der offenen Gesellschaft stand nicht in Wittenberg

Man kann und sollte vielleicht auch Luthers Leistungen anerkennen. Aber jegliche Verehrung seiner Person ist mehr als unangebracht. Die vielen im Zorn und Eifer des Gefechts geschriebenen und gesprochenen Worte waren damals schon schwer vereinbar mit der christlichen Botschaft wie mit den sich langsam entwickelnden Ideen der Aufklärung. Ihre Wirkung ist, wenngleich von Luther so vielleicht nicht intendiert, noch viel fataler gewesen. Luther ist eine wichtige und spannende Figur. Aber er gehört nicht auf einen Sockel.

Das vergangene Jahr hätte man besser nutzen sollen, um der Personen und Denktraditionen in der Reformation zu gedenken, die einen wesentlichen Anteil daran haben, dass unsere offene und freiheitliche Gesellschaft erstehen konnte. Deren Wiege stand nicht in Wittenberg, sondern in Straßburg, Basel und im westfriesischen Pingjum, im polnischen Luslawice und in Philadelphia jenseits des Atlantik. Toleranz und Individualismus, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit entstanden weder an den Fürstenhöfen, bei denen Luther Unterschlupf fand, noch in Genf, wo Calvin eine Theokratie errichtete, die es mit den Taliban aufnehmen könnte. Sie wurden vorgedacht und erstritten von Männern und Frauen, die auch heute noch oft abseits der Geschichte stehen. Darum sollen hier in Kürze fünf jener Persönlichkeiten vorgestellt werden, die wichtige Rollen gespielt haben bei der Entwicklung der Ideen und Institutionen, die heute zum geistigen und moralischen Kernbestand unserer Gesellschaft gehören. Dies sind die Reformatoren, die wirklich einen Sockel verdient hätten …

Menno Simons (1496-1561) – Pazifismus

Eine der bekanntesten reformatorischen Bewegungen waren die sogenannten „Täufer“, deren radikale Vertreter in den 1520er und 1530er Jahren in Münster und Thüringen Aufstände anzettelten. Dagegen wandten sich viele friedfertige Anhänger dieser Theologie, unter ihnen auch der westfriesische Pfarrer Menno Simons. Er und seine Mitstreiter in der Bewegung propagierten ein Christentum, das jeglicher Form von Gewalt widersagte. In ihrem Pazifismus gingen sie so weit, jeglichen Gebrauch von Waffen abzulehnen. Gleichzeitig setzten sie sich ein für allgemeine Religionsfreiheit, was in Zeiten, in denen der jeweilige Landesherr über die Konfessionszugehörigkeit der Untertanen entscheiden konnte, einer Revolution gleichkam. Entsprechend fühlten sich auch katholische, lutherische und reformierte Autoritäten gleichermaßen provoziert und verfolgten die kleine Minderheit blutig. Es ist Leuten wie Menno zu verdanken, dass die Gemeinden dennoch unerschütterlich zu ihren Prinzipien standen und so den Ideen von Gewaltlosigkeit und Meinungsfreiheit als leuchtende Beispiele dienten.

Sebastian Franck (1499-1542) – Aufklärung

Auch der nordschwäbische Publizist Sebastian Franck war den weltlichen und geistlichen Autoritäten ein Dorn im Auge, wo auch immer er sich gerade aufhielt. Er fand kaum Unterstützung oder Sympathie für seine Ansichten, die heute fast durchgängig akzeptiert sind – in den verschiedenen Kirchen wie auch in der gesamten Gesellschaft. So postulierte er etwa, dass selbstverständlich auch „Türken und Heiden“ ein rechtes und gottgefälliges Leben führen könnten – eine Vorstellung, die die wenigsten damals auch nur ihren Mit-Christen in einer anderen Konfession einräumen wollten. Franck war tatsächlich ein Vorreiter der Aufklärung, weil er sich gegen das strukturell konservative Verständnis von Luther wandte, allein die Bibel sei eine Quelle der Offenbarung. Im Gegenteil: für Franck spielte das „innere Wort“ des Menschen, also sein Gewissen und seine Vernunft, die wesentliche Rolle bei der immer besseren Erkenntnis des Glaubens. Entsprechend wandte er sich auch vehement gegen jegliches Wahrheitsmonopol. Aus seiner Sicht war absolute Gewissensfreiheit unumgänglich, weil sie allein garantierte, dass keine Autorität den Fortschritt der Erkenntnis hemmen konnte und es zu einem echten Wettbewerb der Ideen kommt. Francks Welt- und Menschenbild war so anti-autoritär und pluralistisch wie unsere Gesellschaft erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde.

Sebastian Castellio (1515-1563) – Toleranz

Nur ganz wenige Zeitgenossen brachten Sebastian Franck Wertschätzung entgegen. Einer von ihnen war Sebastian Castellio. Im Jahr 1553 ließ der Reformator Jean Calvin den spanischen Arzt und Theologen Michael Servetus verbrennen. Der protestantische Theologe Castellio war entsetzt über diese Eskalation des religiös verbrämten Terrorregimes, das in Genf errichtet worden war, und wandte sich in sehr deutlichen Worten gegen die Rechtfertigung von Gewalt zur Durchsetzung religiöser Ziele. So schrieb er den für die damalige Zeit wahrhaft revolutionären Satz: „Einen Menschen töten, heißt nicht, eine Lehre zu verteidigen, sondern einen Menschen zu töten.“ Er wird heute als einer der ersten systematischen Vordenker des Toleranz-Gedankens gesehen. So wundert es nicht sehr, dass eines seiner Alterswerke den Titel trägt: „Über die Kunst zu zweifeln“. Wie Franck war er auch ein Vordenker der Aufklärung und scharfer Kritiker des Antirationalismus, der insbesondere in der lutherischen und calvinistischen Tradition fröhliche Urstände feierte.

Fausto Sozzini (1539-1604) – Trennung von Religion und Staat

Zu den Opfern zunächst katholischer und anschließend innerprotestantischer Verfolgung zählten auch Fausto Sozzini und dessen Onkel Lelio Sozzini. Zuflucht fand der gebürtige Italiener, wie viele Verfolgte damals, in der außergewöhnlich toleranten polnisch-litauischen Adelsrepublik. Dort übte er großen Einfluss auf die Bewegung der Polnischen Brüder aus, die ähnlich wie die Anhänger Menno Simons‘ für eine Trennung von Staat und Religion, Gewissensfreiheit und bedingungslose Toleranz eintraten. Der englische Historiker Lord Acton formulierte einmal, die große Errungenschaft jener Reformatoren sei es gewesen, dass sie den Anspruch erhoben, „die Freiheit der anderen zu hegen wie die eigene, sie zu verteidigen aus Liebe zu Rechtschaffenheit und Menschenfreundlichkeit und nicht nur als einen Anspruch“. Toleranz sollte also nicht mehr als ein Sonderrecht einer Minderheit gegenüber der Mehrheit begriffen werden, sondern als ein allgemein gültiges Prinzip. Dies war ein kaum zu überschätzender Schritt hin zu einer friedvollen Gesellschaft und zu einem Rechtsstaat, der jeden gleichbehandelt. Theologisch war Sozzini – im Gegensatz zu Luther und Calvin – ein glühender Vertreter der These, dass der Mensch einen freien Willen hat.

William Penn (1644-1718) – Gleichheit der Menschen

Als William Penn geboren wurde, war Luther schon fast hundert Jahre tot. Dennoch gehört er in diese kleine Aufzählung, weil er einen wesentlichen Anteil daran hatte, dass die hier vorgestellten reformatorischen Ideen, die bis dahin nur in marginalisierten kleinen Gruppen eine Rolle spielten, eine nachhaltige Wirkung entfalten konnten. Ideen wie die Gleichheit aller Menschen, revolutionäre Veränderungen wie die Abschaffung der Sklaverei und viele Prinzipien des politischen Liberalismus verdanken sich wesentlich der von ihm groß gemachte Bewegung der Quaker. Zu den wesentlichen Kennzeichen dieser religiösen Gruppierung zählen ihr radikaler Pazifismus und ihre Forderung nach bedingungsloser politischer Toleranz. George Fox, einer der Gründer der Bewegung schrieb 1661 in einem Brief an den damaligen englischen König: „Mögen es Juden, Papisten, Türken, Heiden, Protestanten oder sonst etwas sein, oder solche, die Sonne, Mond, Stöcke und Steine anbeten, gib ihnen Freiheit, so dass jeder von ihnen zeigen kann und davon sprechen darf, worin er seine Stärke sieht.“ Indem William Penn in Nordamerika die Kolonie Pennsylvania gründete, schuf er einen sicheren Hafen für Verfolgte aus der ganzen Welt, die dort unter den Prinzipien der Meinungsfreiheit und demokratischen Selbstbestimmung Zuflucht finden konnten. Auch die einheimischen Indianerstämme wurden wie vollwertige Mitbürger behandelt. Mit dem von ihm so genannten „heiligen Experiment“ hatte Penn erstmals die Möglichkeit geschaffen, die Prinzipien der Reformatoren Wirklichkeit werden zu lassen. Die Anziehungskraft, die diese Prinzipien von dort über die Amerikanische Unabhängigkeit in die ganze Welt bis heute ausstrahlen, ist überwältigend.

Wir müssen uns an die richtigen erinnern!

Moderne, offene und freie Gesellschaften gründen sich ganz wesentlich auf den Gedanken dieser Männer und Frauen, denen in der Geschichtsschreibung der Reformation eine so viel unbedeutendere Rolle zugewiesen wird als Leuten mit einer sehr gemischten Bilanz wie Martin Luther oder veritablen Diktatoren wie Calvin. Simons, Franck, Castellio, Sozzini, Penn und ihre Mitstreiter haben standgehalten in der Verfolgung, die für viele von ihnen auch grausame Ermordung bedeutete. Diesem unbeirrbaren Idealismus hätte man im zurückliegenden Jahr Aufmerksamkeit zukommen lassen müssen. Er war der Motor, der den Fortschritt in Richtung individueller Freiheit in Gang hielt.

Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig hat im Jahr 1936, natürlich vor den historischen Hintergründen seiner Zeit, ein Buch verfasst mit dem Titel „Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt“. Aus diesem Werk sei hier schließlich noch zitiert. Er bringt es genau auf den Punkt:

Gerade dies aber, daß Sebastian Castellio von Anfang an die Aussichtslosigkeit seines Kampfes vorauswusste und ihn, gehorsam gegen sein Gewissen, dennoch unternahm, dies heilige Dennoch und Trotzalledem rühmt für alle Zeiten diesen ‚unbekannten Soldaten‘ im großen Befreiungskriege der Menschheit als Helden; schon um solchen Mutes willen, als einzelner und einziger leidenschaftlichen Protest gegen einen Weltterror erhoben zu haben, sollte die Fehde Castellios gegen Calvin für jeden geistigen Menschen denkwürdig bleiben.

Erstmals erschienen auf dem Blog der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.