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Von  Prof. Dr. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, Professor für Volkswirtschaftslehre an der University of Applied Sciences Europe (UE) in Berlin und Vorsitzender der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft.

Die Marktwirtschaft hat ein Problem: Immer wieder wird ihr der eigene Erfolg zum Verhängnis. Die gewaltigen Wohlstandsgewinne, die sie hervorbringt, rufen regelmäßig Interventionisten auf den Plan, die in diesem Reichtum vor allem die Manövriermasse für soziale Großexperimente sehen. Der Antrieb hierzu erwächst meist aus edlen Motiven, er beruht aber immer auch auf Unverständnis ökonomischer Zusammenhänge und unerfüllbaren kollektivistischen Sehnsüchten.

Das marktwirtschaftliche Erfolgsrezept beruht auf Eigentum, Tausch und Wettbewerb und damit auf Koordinationsmechanismen, die den Bedingungen komplexer Großgesellschaften angepasst sind. Diese können nur gedeihen, wenn sie die Kreativität der Menschen in produktiver Weise freisetzen und das unter ihnen dezentral verteilte Wissen vernetzen. Marktpreise als soziale Anreiz- und Informationsträger leisten genau das. Die der marktwirtschaftlichen Ordnung zugrundeliegenden abstrakten Prinzipien sind in ihrer sozialen Wirkung oftmals nicht auf Anhieb verständlich. Mehr noch: sie sind vielen suspekt. Den meist als Gesinnungsethikern auftretenden Gegnern der Marktwirtschaft öffnet sich damit ein breites Einfallstor. Sie verheißen eine staatliche Wohlfahrtsgarantie, bei der die ihrer Natur nach ergebnisoffenen Wettbewerbsprozesse des Marktes mehr als Bedrohung denn als Chancenreichtum gelten.

Dem österreichischen Ökonomen Friedrich August v. Hayek (1899-1992) kommt das Verdienst zu, diesen Befund in all seiner Vielschichtigkeit herausgearbeitet zu haben. Zugleich verdanken wir ihm die Einsicht, dass die Grenzen in der Sozialphilosophie nicht zwischen links und rechts verlaufen, sondern zwischen Individualismus und Kollektivismus oder – in den Worten Karl Poppers – zwischen offener und geschlossener Gesellschaft. Kollektivisten setzen darauf, die für Kleingruppen stabilisierenden Verhaltensweisen wie Altruismus und Zusammenhalt auf eine anonyme Großgesellschaft zu übertragen, wo sie allerdings aufgrund der sozialen Komplexität ins Leere laufen. Insofern handelt es sich bei diesem Versuch eher um einen vergeblichen Rückschritt hin zum sozialen Kitt der Stammesgesellschaft als um ein progressives Gesellschaftsmodell. In einem marktwirtschaftlichen System, in dem individuelle Handlungsfreiheit und persönliche Verantwortung durch Eigentum und Haftung gekoppelt sind, bilden sich demgegenüber Institutionen heraus, die in einer anonymen Großgesellschaft besser funktionieren (z. B. Vertragstreue, Reputation), hinsichtlich der individuellen Motive aber moralisch minderwertiger erscheinen und weniger soziale Wärme ausstrahlen.

Je stärker eine die Wirtschaftspolitik leitende Wirtschaftstheorie von den individuellen Akteuren abstrahiert und diese in Großgruppen aufgehen lässt, desto übersichtlicher erscheint das verbleibende Gesamtsystem. Dies suggeriert zugleich eine höhere sozialtechnische Beherrschbarkeit und hat immer wieder zu konstruktivistischen Versuchungen geführt. Die damit geschürten Erwartungen können in der Praxis nur enttäuscht werden. Unterbleiben solche Versuche aus diesem Grunde im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung, werden gleichwohl diejenigen unzufrieden sein, die entsprechende Interventionen für aussichtsreich halten. Gerade unter meinungsbildenden Intellektuellen ist die Einsicht in die beschränkten Gestaltungsmöglichkeiten mit Blick auf soziale Phänomene oftmals sehr unpopulär, was die Skepsis gegenüber interventionistischer Zurückhaltung und der marktwirtschaftlichen Ordnung als offener Gesellschaftsform nährt.

Linke und rechte Kollektivisten eint, die Gruppe über das Individuum zu stellen. Die Führungsrolle der gesellschaftlichen Entwicklung weisen sie dem Staat zu, nicht den sich auf dezentraler Ebene vollziehenden evolutionären Entdeckungsprozessen. Lediglich im Klassenbegriff unterscheiden sie sich zuweilen. Im Ergebnis führt dies immer wieder zu Parallelen im politischen Handeln. So finden Rechte und Linke in der Globalisierungsskepsis zueinander. Die einen wollen die heimische Wirtschaft vor ausländischem Wettbewerb und einem vermeintlichen Ausverkauf bewahren, die anderen wollen der übrigen Welt ihre Vorstellungen von richtiger Sozialpolitik aufzwingen, um heimische Arbeiter vor ihren Kollegen im Ausland zu schützen. Im Ergebnis läuft beides darauf hinaus, dass der Kern der Globalisierung – die Möglichkeit, den Tauschpartner weltweit frei wählen zu können – auf der Strecke bleibt. Kollektivismus bedeutet eben immer auch Abschottung an den Grenzen des Kollektivs. Von echter kosmopolitischer Moral ist links wie rechts wenig zu spüren.

Auch nationalen und europäischen Champions bieten linke wie rechte Protektionisten gerne staatlichen Flankenschutz. Zugleich stoßen weltweit tätige multinationale Unternehmen beiderseits auf Ablehnung. Für die einen höhlen sie den Gestaltungsanspruch des Staates aus, für die anderen sind sie Ausdruck eines heimatlosen Internationalismus und gelten daher als unzuverlässige Kantonisten. Der Gedanke, dass in den „Multis“ Menschen aus aller Herren Länder miteinander kooperieren (als produktive Variante von „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“) sind bislang wenige gekommen.

Selbst in Fragen der Zuwanderung sitzen linke und rechte Kollektivisten nicht selten in einem Boot. So schlägt sich der rot-rot-grüne Berliner Senat in der Wohnungspolitik ganz auf die Seite der Gebietsansässigen, denen er mit Mietpreisstopps und Wohnraumverstaatlichung ihre Besitzstände erhalten will. Die Mieten in Ballungsräumen steigen nicht, weil böse Vermieter plötzlich ihre Gier nicht mehr zäumen können, sondern weil der Zuzug die Nachfrage anschwellen lässt. Zusammenrücken und Neubau wäre jetzt das Gebot der Stunde, und steigende Marktpreise würden beides anreizen. Mieten einzufrieren ist hingegen ökonomisch nichts anderes als primitive Fremdenfeindlichkeit. Die Einheimischen genießen ihre Privilegien, Neubürger müssen draußen bleiben.

Im kollektivistischen Denken verödet das Individuum zum bloßen Träger seiner Gruppenmerkmale. Die Persönlichkeit muss dahinter zurücktreten. Darin liegt eine weithin unterschätzte Gefahr, umso mehr, als sich ihre Urheber hehre Motive zugutehalten. Der Marsch in die durchquotierte Gesellschaft lässt Schlimmes befürchten. Je weniger die Person als Person zählt, desto unfreier wird die Gesellschaft. Und mit jeder neuen Quote verliert der einzelne Mensch ein Stück seiner Würde. Die liegt nicht in seinem Geschlecht, seiner Herkunft oder Religion, sondern nur in seiner Individualität.

Hayek hat immer wieder vor den Gefahren des Kollektivismus gewarnt. Im „Weg zur Knechtschaft“ (1944) ebenso wie in „Die verhängnisvolle Anmaßung“ (1988). Heute würde er wohl wieder zur Feder greifen.

Erweiterte Fassung eines Beitrags, der am 14. Juni 2019 in der Wirtschaftswoche unter dem Titel „Das Problem der Marktwirtschaft ist ihr Erfolg“ erschienen ist (Rubrik „Denkfabrik“, S. 43).

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„Eine starke europäische Gemeinschaft kann es nur in den Bereichen geben, in denen die Mitglieder der Europäischen Union gemeinsame Interessen haben.“ Als überzeugter und liberaler Europäer setzte sich Ralf Dahrendorf für einen realistischen Blick auf die EU ein und arbeitete gegen die politisch vagen Hoffnungen, die viele auf die EU projizierten, an. Zehn Jahre nach dem Tod Dahrendorfs lohnt sich der Blick auf das theoretische und praktische Vermächtnis des ehemaligen EU-Kommissars.

Unter dem Pseudonym Wieland Europa verfasste Dahrendorf 1971 als EWG-Kommissar in der ZEIT den Artikel „Ein neues Ziel für Europa“, der bis heute an Aktualität nichts verloren hat. Hier trifft er die Kernprobleme der EU ins Mark. Denn schon damals lag es in der Identität der EWG, stetig mehr Kompetenzen an sich zu reißen und zu harmonisieren, wo eigentlich das Subsidiaritätsprinzip greifen muss; um dem großen und gut gemeinten Ziel, den Vereinten Staaten von Europa, peu à peu näher zu kommen. Das lag weit vor Maastricht, vor Amsterdam und vor Lissabon und die Europäische Union hat sich seither weiterentwickelt, doch als Kommissar für den europäischen Außenhandel, erkannte Dahrendorf die Trugschlüsse der europäischen Idealisten – die sich bis heute halten.

Europäische Lösungen seien nicht allein deshalb gut, „weil sie europäisch sind“, so Dahrendorf in dem Artikel. In seiner Vorstellung ist der Europäische Gedanke immer mit Vielfalt und mit Differenzen verknüpft. Dieses bunte Europa muss dann gemeinsam handeln, wenn es im nationalen Interesse aller ist. Die Bereiche in denen das zutrifft sind offenkundig. Der gemeinsame Handel, die gemeinsame Außenpolitik – heute würde man noch die Umweltpolitik hinzuzählen. Vor allem dort kann Europa stark sein, wo nationale Interessen auf gemeinsame Ziele treffen. „Denn es geht – um das Glatteis des Begriffsstreites für einen Augenblick zu betreten – im zukünftigen Europa weder um supranationale Fiktionen noch um eine bloße Addition der Nationen; […] es geht weder um Souveränitätsverzicht, noch um unveränderte Ausübung von Souveränität. Es geht um den Versuch der gemeinsamen Ausübung der Souveränität der europäischen Länder“, konstatiert Dahrendorf.

Doch die vagen Hoffnungen, die die Idealisten mit dem Projekt verbinden, führen zu Souveränitätsverzicht und zu mehr Integration im Verborgenen – das ist bis heute so.  Da ist zum Beispiel die ungelöste Griechenlandkrise, die schleichend zu mehr Kompetenzen für die EU geführt hat. Die Rettung der Griechen hat gezeigt: „Europäische Solidarität“ übertrumpft europäisches Recht und die Maastrichter Kriterien wurden beiseite gewischt. Die Idealisten verlautbarten: „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ – was als Argument genügte, die Nichtbeistandsklausel (No-Bailout-Klausel), als einen elementaren Bestandteil des Maastrichter Vertrages, direkt außer Kraft  zu setzen. Um für die Zukunft gewappnet zu sein, wurde durch den folgenden Europäischen Rettungsschirm (ESM) aus der Not eine Tugend gemacht. Nun haftet die europäische Gemeinschaft für einzelne europäische Haushalte. Die Antwort auf die Krise lautet also „Ever Closer Union“. Es wurde europäische Integration durch die Hintertür betrieben. Aus der Haftung und der „engeren“ Union ergeben sich nun neue Probleme und Forderungen, die die Souveränität der einzelnen Länder schmälern.

Diese Methode kritisierte bereits Dahrendorf in einem ZEIT Interview von 1993 und sagte: „Dieser funktionalistische Ansatz, […] daß man Resultate erzwingen kann, indem man auf einer bestimmten Schiene abfährt, ist […] falsch“. Denn die Schraube dreht sich immer weiter und das konsequente Resultat dieser Politik,  das die Idealisten nun sehen wollen, ist ein europäischer Finanzminister, der dem Getümmel der Finanzminister in den Mitgliedstaaten ein Ende setzt. Das würde schließlich auch die Kritiker besänftigen, die sich seither über die illegale what-ever-it-takes Politik, der EZB echauffiert haben. Schritt für Schritt wird die Integration von den Idealisten so vorangetrieben. Dem europäischen Wahlkampf war jetzt zu entnehmen, nun müssten die nächsten europäischen Lösungen folgen: Eine gemeinsame Arbeitslosenversicherungen, ein europäischer Mindestlohn. Danach wird es den Ruf nach dem europäischen Wirtschaftsminister geben.

Weiterhin hieß es in den Wahlprogrammen, die EU müsse effizienter sein, und einige wenige Länder dürften den europäischen Prozess nicht aufhalten. Damit ging die Forderung einher, das Einstimmigkeitsprinzip der EU aufzulockern. Hierzu sagte Dahrendorf: „Europa kann nur dort real sein, in dem es getragen wird von seinen Gliedern,  ein Mehrheitsbeschluss […] kann einstweilen nur bedeuten, dass die Überstimmten eigene Wege gehen.“ Ein eigentlich logisches Phänomen, das wir spätestens seit dem Brexit kennen. Wenn sich eine Mehrheit – egal ob absolut, qualitativ dazu berufen fühlt, über die Interessen von einzelnen Ländern hinweg zu entscheiden, mit dem Argument, die EU sei eine Solidargemeinschaft, führt dies zur Spaltung der Europäischen Union. Das Argument „wer a sagt, muss auch b sagen“ wird derweil auch benutzt, wenn die rechtlichen Grundlagen dafür nicht gegeben sind. Einstimmigkeit ist zwar mühsam und ineffizient, aber es wird die EU-Gemeinschaft beisammen halten und die Aufgabenbereiche auf die Wesentlichen konzentrieren: Dort wo wir gemeinsame Interessen haben. Die gemeinsamen Interessen liegen weder in der Wirtschaftspolitik, noch in der Finanzpolitik.  Sie liegen dort, wo wir uns gegenseitig stärker machen – in der Handelspolitik und in der internationalen Präsenz. Die „Kollateralschäden“ der Mehrheitsbeschlüssen schwächen hingegen die europäische Gemeinschaft und unsere grundlegende Stärke.

Wie soll es zu Exits kommen, wenn wir unsere nationalen Interessen bewahren können? Wenn sich kein schleichender nationaler Souveränitätsverlust durch die Hintertür breit macht? Nur wenn Europa bunt und vielfältig ist und sein darf, ist es stark. Dahrendorf hat Kernprobleme der EU früh erkannt. Als europäische Stimme fehlt er heute.

Erstmals veröffentlicht auf Tichys Einblick.

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Die politische Linke hat sich über die Zeit dem konservativen Menschenbild angepasst: Viele von ihnen glauben, dass der Einzelne kurzsichtig und eigensüchtig sei, weshalb es der ordnenden Hand des Staates bedürfe. Wenn sich Pessimismus und politischer Gestaltungswille treffen, wird es eng für die Sache der Freiheit.

Steuern, Verbote, Bürokratie? Das ist fortschrittliche Politik!

Der Niedergang der Sozialdemokratie in Deutschland und weltweit hat wilde Debatten losgetreten: Sollte man den „dänischen Weg“ gehen und gesellschaftspolitisch einen deutlichen Rechts-Schwenk vollziehen? Sollte das Thema Umwelt stärker auf die Agenda, um die grüne Konkurrenz einzudämmen? Oder doch lieber Industriepolitik? Eine Ausweitung des Wohlfahrtsstaates, um die Scharte der „neoliberalen Agenda“ zwischen 1980 und 2010 endgültig wieder auszuwetzen? Ein Feld, auf dem man den Grünen den pflanzlichen Aufstrich vom Brot nehmen könnte, wäre womöglich eine Renaissance des Obrigkeitsstaates. So scheint das zumindest Hans Peter Bull, ehemaliger Innenminister Schleswig-Holsteins, zu sehen. Letzte Woche veröffentlichte er in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel unter der Überschrift „Das Land braucht mehr Verbote“. Er beklagt darin, dass die Begriffe Steuererhöhung, Verbot und Bürokratie heutzutage im politischen Diskurs verpönt seien. Er dagegen wünscht sich einen starken Staat, der massiv umverteilt und unerwünschtes Verhalten einschränkt – im Namen einer „fortschrittlichen Politik“.

Welche Einstellung seinen Forderungen zugrunde liegt, offenbart Bull im dritten Absatz seines Artikels überdeutlich: „Wer … darauf setzt, dass alle Menschen freiwillig ihre Lebensweise ändern, auf Komfort verzichten und Opfer für die Allgemeinheit erbringen, hat einen erheblichen Teil der Mitmenschen aus dem Blick verloren“. Die meisten Menschen wissen nicht, was gut für sie ist, und sind letztlich unfähig zur Empathie und Solidarität. Das ist die Begründung, die Politiker wie Robespierre und Lenin genutzt haben, um ihr Tun zu rechtfertigen. Es ist die fatale Mischung aus linkem Weltverbesserungswillen und konservativem Misstrauen gegenüber dem Menschen; eine sehr unbekömmliche Mischung zweier schon in sich problematischer Weltsichten.

Als die Linke die Emanzipation verriet

Die Linke hat auf diesem Gebiet eine sonderbare Wandlung durchgemacht. Sie stand anfangs durchaus in der Tradition der Aufklärung; also der Vorstellung, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt und die Möglichkeit haben sollte, sich „aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu befreien. Das emanzipatorische Element stand auch am Beginn der Arbeiterbewegung. Der Arbeiter sollte ermächtigt werden, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, er sollte sich nicht nur von der Unterdrückung durch Ausbeuter befreien, sondern auch die paternalistischen Fesseln von Staat und Kirche abwerfen. Folgerichtig setzte man sich dann auch für die Emanzipation der Frau und anderer unterdrückter Gruppen ein. Man verachtete die uralten Narrative, die behaupteten, es müsse eine Obrigkeit geben, die dem Leben der Menschen Richtung und Sinn verleiht. Stattdessen waren sich diese Menschen sicher, dass ein einfacher Arbeiter oder eine Frau sehr wohl Verantwortung für ihr Leben übernehmen könnte und sollte.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts und ganz besonders seitdem sie im 20. Jahrhundert vielerorts Regierungsverantwortung übernommen hat, ist die Linke scharf rechts abgebogen. Der Staat, den ihre intellektuellen Vorfahren noch mit größter Skepsis gesehen hatten, wurde für sie zum Mittel der Wahl. In ihrer Begeisterung für diese Machbarkeits-Maschine übertrafen sie oft die Konservativen. Ein Metternich und ein Bismarck würden sich verwundert die Augen reiben, wenn sie heutzutage mitansehen könnten, wie sich die Nachfolger ihrer schärfsten Gegner zu den Herolden eines starken, ordnenden, invasiven und omnipräsenten Staates gewandelt haben. Wer im heutigen modernen linken Spektrum glaubt denn noch an das Individuum? Gar an die Fähigkeit des „kleinen Mannes“, sein Leben im Griff zu haben und dabei auch noch verantwortlich mit Mitmenschen und Umwelt umgehen zu können? Die Linke hat den Glauben an den Menschen verloren und ihn durch ein tiefgehendes Vertrauen in die herrschende Klasse ersetzt. An die Stelle von Emanzipation ist ein geharnischter Paternalismus getreten.

Adam Smith, der Menschenfreund

Am kommenden Sonntag jährt sich zum 296. Mal der Geburtstag des großen Menschenkenners und Menschenfreundes Adam Smith. Anders als seine französischen Kollegen war dieser schottische Aufklärer durchaus skeptisch bezüglich der Fähigkeiten des Menschen: er kannte die Grenzen unserer Vernunft – und deshalb auch ganz besonders die Grenzen jener Vernunft, die sich aufschwingt, besser und klüger zu sein als andere, also der Vernunft von Politkern und Bürokraten. Zugleich war er aber auch zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch von Natur aus ein auf Gemeinschaft ausgerichtetes Wesen ist und dass in dieser „interpersonellen Vernunft“, wie sie Hayek nannte, das Geheimnis seines Erfolgs liegt. So schrieb er in seinem Werk „Theorie der ethischen Gefühle“:

„Man mag den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein. … Und so kommt es, dass, viel für andere und wenig für uns selbst zu fühlen, unseren selbstischen Neigungen im Zaune zu halten und unseren wohlwollenden die Zügel schießen zu lassen, die Vollkommenheit der menschlichen Natur ausmacht, und allein in der Menschheit jene Harmonie der Empfindungen und Affekte hervorbringen kann, in der ihre ganze Würde und Schicklichkeit gelegen ist.“

„Das Gefühl der Verbundenheit mit dem ganzen Universum“

Wie anders klingen diese Zeilen als die bitteren Worte des alten Sozialdemokraten, der die kalte und durchdringende Macht des Staates ausweiten möchte, um nun endlich eine bessere Welt zu erschaffen. Der vorsichtige Optimismus und die unprätentiöse Menschenliebe der Schottischen Aufklärer gründet nicht zuletzt in dem Bewusstsein, dass die Genialität und Energie, die sich aus der ungelenkten, freiwilligen Kooperation von Menschen ergibt, am Ende mehr zu einer besseren Welt beiträgt als jede noch so gut gemeinte staatliche Maßnahme. Armut hierzulande und weltweit, der menschliche Anteil am Klimawandel, adipöse Kinder und einsame Alte – all das sind massive Probleme, denen wir uns dringend stellen müssen. Wer die Lösung beim Staat sucht, verdrängt freilich, dass es auch Staaten waren, die Minderheitenrechte beschnitten, Großunternehmen bevorzugt, Kriege angezettelt, Innovationen verhindert, Generationensolidarität verdrängt und Atomkraftwerke gebaut haben.

Es ist an der Zeit, den Menschen wieder etwas zuzutrauen. Das Grundproblem unserer Zeit ist nicht die mangelnde Verantwortlichkeit der Menschen, sondern dass der Staat dem Menschen die Selbstverantwortung abgenommen und abtrainiert hat. In uns steckt nämlich durchaus das Bewusstsein, dass wir unser eigenes Leben in die Hand nehmen sollten und auch eine Verpflichtung gegenüber anderen Menschen haben. Aber in dieses Bewusstsein muss man hineinwachsen, man muss es sich aneignen – indem man Verantwortung zugetraut bekommt und übernimmt. Am kommenden Donnerstag ist noch ein 296. Geburtstag: des großen schottischen Philosophen Adam Ferguson, der kurz nach seinem Namensvetter Smith zur Welt kam. Seine Sicht des Menschen sollte sich die Linke zu Herzen nehmen, wenn sie ihr altes emanzipatorisches Erbe doch einmal auszumotten gedenken sollte. Er sah in uns Menschen ein „Prinzip der Liebenswürdigkeit, das keine einseitigen Unterscheidungen kennt und an keine Grenzen gebunden ist. Es kann seine Wirkung über das uns persönliche bekannte Umfeld hinaus ausdehnen. Es kann uns, zumindest in unserem Denken und unseren Vorstellungen, das Gefühl der Verbundenheit mit dem ganzen Universum gewähren.“

Der große Vordenker des starken Staates, Thomas Hobbes, hatte recht, als er feststellte, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei – denn Wölfe sind Rudeltiere, die miteinander kooperieren zum Besten der Herde. Was die Befürworter des starken Staates tatsächlich wollen, sind Schafe, die mitlaufen. Der Bürger im 21. Jahrhundert muss wieder weniger Schaf und mehr Wolf werden: mehr eigenverantwortliche Kooperation und freiwillige Solidarität als blindes Folgen. Das wäre auch eine spannende Agenda für eine Linke, die ihre emanzipatorischen Wurzeln wiederentdeckt.

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Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Doktorand der Volkswirtschaftslehre.

Berlin ist sexy – keine Frage. Die Vorzüge Berlins lockten von 2011 bis 2017 jährlich etwa 40.000 neue Einwohner an. Neuankömmlinge können sich sogleich auf ein Erlebnis der besonderen Art freuen: die Berliner Verwaltung. Ob Wohnsitz oder Auto anmelden, Heirat oder neuer Personalausweis – Berliner müssen warten, oft mehrere Wochen, bis sie einen Termin bei der zuständigen Stelle bekommen. Zur Verwaltung Berlins titelt der Tagesspiegel: „Jeden Tag eine neue Katastrophe“. Der umtriebige Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer spottet gar: „Vorsicht, Sie verlassen den funktionierenden Teil Deutschlands!“

Die Gründe für das Berliner Verwaltungsdesaster werden häufig in der zu dünnen Personaldecke der Verwaltung gesehen und zur Lösung des Schlamassels eine Aufstockung des Personals gefordert. Doch Berlin setzt seit Jahren mit deutlichem Abstand mehr Personal in der Verwaltung ein als jedes andere Bundesland, die anderen beiden Stadtstaaten eingeschlossen. Nicht Personalnot, sondern eine schlechte Organisation scheint das Problem zu sein.

Mehr Personal nicht unbedingt schlecht

Ein relativ hoher Personaleinsatz ist nicht unbedingt schlecht. Wie Unternehmen müssen auch staatliche Organisationen abwägen, wie viel Personal sie einsetzen, um Leistungen zu erbringen. Führt ein hoher Einsatz von Personal etwa zu schnelleren Verwaltungsverfahren, profitieren die Bürger unmittelbar davon und ein hoher Personaleinsatz kann gerechtfertigt sein.

Niemand setzt mehr Personal als Berlin ein

Stadtstaaten wie Berlin nehmen auch Aufgaben wahr, die in anderen Bundesländern von kommunalen Verwaltungen übernommen werden. Für einen sinnvollen Vergleich aller Bundesländer müssen daher bei Flächenstaaten auch die Stellen der kommunalen Gebietskörperschaften berücksichtigt werden. Ein Blick auf diese aggregierte Beschäftigungsstatistik des öffentlichen Dienstes offenbart, dass Berlin im Vergleich der Bundesländer relativ zur Einwohnerzahl am meisten Personal einsetzt.

Im Jahr 2017 beschäftigten das Land Berlin und die 12 Berliner Bezirke pro 1.000 Einwohner das Äquivalent von gut 50 Vollzeitmitarbeitern, während das Land Schleswig-Holstein und seine Kommunen mit gut 37 Vollzeitmitarbeitern auskamen.

Zwar ging der Personaleinsatz bis zum Jahr 2008 zurück. Trotzdem wurden auch bei diesem Tiefstand in Berlin 5 Vollzeitstellen pro 1.000 Einwohner mehr eingesetzt als im zweit personalintensivsten Bundesland, nämlich Sachsen-Anhalt. Seit 2008 wurden in Berlin umgerechnet gut 20.000 zusätzliche Vollzeitmitarbeiter im öffentlichen Dienst eingestellt. Das Berliner Bevölkerungswachstum der letzten Jahre hat deshalb nicht dazu geführt, dass dort heute weniger Angestellte im öffentlichen Dienst pro 1.000 Einwohner eingesetzt werden. Vielmehr ist der Personaleinsatz gestiegen und hat sich auf einem hohen Niveau stabilisiert. Ein „Kaputtsparen am Personal“ lässt sich aus diesen Daten nicht ableiten.

Sonderrolle Stadtstaat?

Gewiss ist Berlin als Stadtstaat in einer Sonderrolle. So kann eingewendet werden, dass Berlin das Nachbarland Brandenburg teilweise mit Verwaltungsaufgaben mitversorgt. Doch dies gilt ebenso für Hamburg und Bremen. Der Stadtstaat Bremen kommt mit deutlich weniger Personal aus als Berlin und liegt im Mittelfeld aller Bundesländer.

Auch der Abstand Berlins zum zweitplatzierten Bundesland, Hamburg, ist beachtlich. Berlin setzt pro 1.000 Einwohner knapp 6 Vollzeitmitarbeiter beziehungsweise 13 Prozent mehr Personal ein als Hamburg.

Vergleich mit Hamburg: Mehr Personal, mehr Leistung?

Für die Verwaltung der Verkehrs- und Nachrichteninfrastruktur werden mehr als doppelt so viele Beschäftigte pro 1.000 Einwohner eingesetzt als in Hamburg. Es könnte sein, dass Berlin seinen Bürgern eine bessere und umfangreichere Infrastruktur zu Verfügung stellt als Hamburg. Dann wäre ein höherer Personaleinsatz durchaus gerechtfertigt. Es ist schwierig den Umfang und die Qualität beider Stadtstaaten im Bereich Verkehr anhand eines Indikators zu vergleichen. Doch es gibt Indizien, dass die zusätzlichen Beschäftigten in Berlin im Bereich Verkehr nicht mehr Dienstleistungen bereitstellen, als ihre Kollegen in der Hansestadt.

So muss Hamburg 2.485 Brücken instand halten, das sind 1,4 Brücken pro 1.000 Einwohner, während in Berlin 916 Brücken, also 0,3 Brücken pro 1.000 Einwohner unterhalten werden müssen. Die Berliner Verkehrsgesellschaft beförderte im Jahr 2017 pro Einwohner Berlins 294 Fahrgäste. Der Hamburger Verkehrsverbund beförderte pro Einwohner Hamburgs 426 Fahrgäste im Jahr 2017. Berlin betreibt allerdings mehr Flughäfen. Hamburg hat nur einen funktionierenden Flughafen, Berlin zwei und den BER.

Im Bereich Soziales setzt Berlin 1,7 Vollzeitmitarbeiter pro 1.000 Einwohner mehr ein als Hamburg. Dies ist zunächst nicht verwunderlich, da die Berliner im Vergleich zu den Hamburgern weniger wohlhabend sind und die Arbeitslosenquote höher ist. Während die Arbeitslosenquote in Berlin um 28 Prozent höher ist als in Hamburg, wird in Berlin 83 Prozent mehr Personal im Bereich Soziales eingesetzt. Auch wenn als Indikator für den Umfang der im Bereich Soziales erbrachten Leistungen die Hartz-4-Quote Berlins, die gut 50 Prozent über dem Niveau von Hamburg liegt, herangezogen wird, setzt Berlin für Soziales überproportional mehr Personal ein als Hamburg.

Doppelzuständigkeit und Schwächen in der internen Verwaltung

Berlin setzt in vielen Bereichen mehr Personal ein als Hamburg, ohne seinen Bürgern erkennbar bessere Dienstleistungen bereit zu stellen – zahlreiche Beispiele sprechen für das Gegenteil. Berliner Verwaltungsangestellte sind wohl kaum weniger begabt oder fleißig als ihre Kollegen in Hamburg, München oder Mainz. Naheliegender ist es, dass ihre Produktivität durch eine mangelhafte Organisation ausgebremst wird.

Eine mangelhafte Organisation offenbart sich beispielsweise in Doppelzuständigkeiten. Für den Bereich Verkehr sind in Berlin teilweise sowohl Polizei als auch das Ordnungsamt zuständig. Auch die Zuständigkeiten zwischen Senat und Bezirksverwaltungen sind in Berlin nicht optimal verteilt. So dauert die Einrichtung eines Zebrastreifens drei Jahre und bedarf 18 Verfahrensschritten, weil Prüfvorgänge sich doppeln und zwischen den verschiedenen Verwaltungsebenen abgestimmt werden müssen.

Im Vergleich zu Hamburg setzt Berlin im Bereich innere Verwaltung gut 3 Vollzeitstellen weniger ein. Die innere Verwaltung übernimmt Aufgaben und stellt Ressourcen bereit, die für die Funktion der Verwaltung essentiell sind. Sie ist unter anderem für Personalfragen, Haushalts- und Rechnungswesen, Controlling, Beschaffung und Kosten-Nutzen-Analysen verantwortlich. Vielleicht sollte Berlin an genau dieser kritischen Stelle der inneren Organisation mehr und anderswo weniger Personal einsetzen.

Dass es auch in Berlin besser geht, zeigt das Land übrigens auf der Einnahmenseite. In der Finanzverwaltung setzt Berlin pro 1.000 Einwohner fast eine halbe Vollzeitstelle weniger ein als Hamburg, dennoch können sich die Berliner über eine relativ schnelle Bearbeitung freuen. Nur das Saarland bearbeitet Steuererklärungen schneller als die Berliner Verwaltung. Wo ein Wille ist, scheint auch in Berlin ein Weg zu sein.

Verwaltung: Berlin kann es auch!

Die gute Nachricht: Der Stadtstaat Hamburg zeigt, dass es möglich ist, unter ähnlichen Bedingungen wie in Berlin mit weniger Personal staatliche Dienstleitungen tendenziell höherer Qualität bereitzustellen.

Der Ruf nach (noch) mehr Personal für die Berliner Verwaltung ist politisch nachzuvollziehen, aber nicht zielführend. Nicht die Ausstattung mit Personal, sondern die Organisation des Arbeitseinsatzes der Mitarbeiter scheint das Problem zu sein. Berlin sollte sich zum Ziel nehmen, von den Vorteilen des deutschen Föderalismus zu profitieren, indem die Stadt von anderen Bundesländern lernt, wie Verwaltungsverfahren besser organisiert werden können.

Erstmals erschienen bei IREF

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Klima, Migration, Upload-Filter: Eine Empörungswelle jagt aktuell die nächste. Dass die sozialen Medien den Individuen eine lautere Stimme geben ist gut, erfordert aber ein Umdenken bei Aktivisten und Politikern.

Beim politischen Wellenreiten bleibt das konstruktive Diskutieren auf der Strecke

„Das ist die perfekte Welle, Das ist der perfekte Tag, Lass dich einfach von ihr tragen, Denk am besten gar nicht nach“, sang die Deutsch-Pop-Band „Juli“ im Jahr 2004. Was als Surfer-Hommage gedacht war, eignet sich aktuell wie kein anderes Lied, um den Zustand der deutschen Debattenkultur zu beschreiben. Egal ob Klima, Migration oder Upload-Filter: geradezu aus dem Nichts türmen sich immer wieder neue Empörungswellen in Deutschland auf und schlagen über dem politischen Marktplatz zusammen. Politiker und Medien gleichermaßen hoffen derweil wie Surfer auf die perfekte Welle, auf der sie zum Erfolg reiten können. Die kommt – wie gerade für die Grünen – nur unregelmäßig, und selbst wer eine optimale Welle erwischt, kann doch von der nächsten überrascht und unkontrolliert durch die Gegend geschleudert werden. Das für eine Demokratie elementare aber zeitraubende Abwägen und konstruktive Diskutieren bleibt beim politischen Wellenreiten, ganz getreu dem Juli-Song, zumeist vollkommen auf der Strecke.

Die aktuellen Aufmerksamkeitswellen haben eine andere Intensität und Richtung

Sicher, mediale Aufmerksamkeitszyklen gab es schon immer. Erst wird wochenlang täglich mit Sonderberichten aus aktuellen Krisengebieten wie Libyen, Syrien oder Sri Lanka berichtet, nur um im nächsten Moment die kollektive Aufmerksamkeit auf ein Sportgroßereignis oder eine boulevardeske Räuberpistole zu lenken. Geändert hat sich jedoch die Wucht, mit der Aufmerksamkeitswellen über uns hinwegrollen und – wohl am Wichtigsten – wo diese Wellen herkommen. Stimmungen werden heutzutage viel weniger im Springer-Haus erzeugt als in den sozialen Medien. Da reicht es, wenn ein vielen Menschen bis dato, vermutlich zu Recht, vollkommen unbekannter Youtuber mit blauen Haaren über die CDU herzieht, um Deutschlands mächtigste Partei in den Grundfesten zu erschüttern. Da tourt eine Luisa Neubauer durch Deutschlands Talkshow-Landschaft und wird vielleicht doch nur eingeladen, um in regelmäßigen Abständen „Klimawandel!“ und „Panik!“ zu sagen, und den versammelten Kabinettsmitgliedern die Möglichkeit zu geben, beim Zuhören besonders einfühlsam und aufmerksam zu gucken.

Im Grunde wäre einiges an dieser Entwicklung begrüßenswert; ja sogar erstrebenswert. Schließlich sollte Politik ja gerade vom einzelnen Individuum ausgehen. Die sozialen Medien machen die Demokratie und ihre Debatten unkontrollierbarer, lebendiger und zugänglicher. Die Eliten aus Politik und Medien können Themen kaum noch aussitzen, geschweige denn sie einfach totschweigen. Ja, unsere Volksvertreter müssen nun gut und genau zuhören, um nicht an ihren Wählern vorbeizureden oder gar auf dem falschen Fuß erwischt zu werden. Das wahre Problem liegt nicht darin, dass Menschen von ganz außerhalb des politischen Spektrums auf einmal mit ihren Meinungen Gehör finden. Das wahre Problem liegt darin, wie diese Menschen aber auch die Berufspolitiker unseres Landes ihre jeweiligen neuen Rollen ausfüllen.

Hauptsache erstmal Panik?

So mangelt es auf der Seite der Aktivisten an einem Bewusstsein für die mit der neuen Macht einhergehende Verantwortung. Da rufen junge Menschen allabendlich ihrer Generation zu, sie solle doch bitte auf der Stelle in Panik verfallen, und niemand fragt, was um alles in der Welt Panik uns bringen sollte. Denn anstatt endlich die spannende Frage zu diskutieren, welche klimapolitischen Instrumente wirklich effektiv und effizient sind, erzeugt dies tatsächlich bloße kopflose Panik. Politiker und Journalisten schwärmen panisch aus, um unbedingt „irgendwas mit Klima“ zu sagen, und können damit letztendliche ihre jungen Kritiker trotzdem nicht einfangen. Letztere nutzen zwar geschickt die Öffentlichkeit, um kurzfristige Aufmerksamkeit zu generieren. Die Verantwortung für die Entwicklung von tatsächlichen Lösungen schieben viele Aktivisten am Ende aber doch wieder an die zuvor kritisierte Politik zurück. Und dort hofft man insgeheim doch nur, dass sich möglichst bald eine neue Empörungswelle auftut, auf die man besser vorbereitet ist. Folglich gibt es ziellose Aufmerksamkeit, diesen oder anderen politischen Gewinnern aber vor allem nur große Schlagzeilen. Die sachliche Auseinandersetzung bleibt leider auf der Strecke.

Politiker sollten Entscheidungsfindungsexperten sein

Und auf der anderen Seite? Stimmungen und Debatten aufzunehmen, ist nicht gleichbedeutend damit, alle Überzeugungen über Board zu werfen. Die Rolle der Politik wäre es eigentlich, die Debatten zu ordnen und ihnen eine Struktur zu geben. Was müssen klimapolitische Instrumente leisten, wo gibt es Probleme und was sind nicht bedachte Folgen? Doch anstatt als Experten in der Entscheidungsfindung aufzutreten, lechzen die meisten Entscheidungsträger lediglich nach der Zustimmung der Luisa Neubauers unserer Zeit. Das macht es den mindestens genauso ideenlosen Kräften an den Rändern unseres politischen Spektrums besonders leicht, sich als einzig vernünftige Alternative „zwischen all den Altparteien“ zu gebären. Die Parteizentralen sollten endlich verstehen, dass Aufmerksamkeitswellen viel zu instabil sind, um darauf dauerhaften Erfolg zu gründen. Wie schnell sich die Stimmung drehen kann, erleben doch seit Jahren die Grünen, die als kleinste Oppositionspartei im Bundestag gerade zur neuen Volkspartei erklärt werden – und das nicht zum ersten Mal.

Segeln statt Wellenreiten

Die digitale Revolution ermöglicht dem Individuum eine ganz neue und potentiell einflussreichere Rolle in der politischen Debatte – und das ist auch gut so. Mit dem gesteigerten Einfluss muss jedoch auch ein gesteigertes Verantwortungsgefühl einhergehen. Dass man die gleichen Politikvertreter, die man auf Twitter und Youtube permanent vor sich hertreibt, für ihr Versagen beschimpft, nur um anschließend doch wieder alle Hoffnungen in sie zu setzen, ist beinahe grotesk. Gleichzeitig müssen Volksvertreter ihr Selbstbild anpassen. Viel mehr als Macher und Entscheider, sollten sie aufmerksame, aber prinzipientreue Moderatoren sein. Am Ende schaffen es vielleicht beide Seiten, die raue See der politischen Debatte so ganz anders zu nutzen – zum nachhaltigen Segeln statt zum kurzfristigen Wellenreiten.