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Von Sebastian Everding, Doktorand an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, und Dr. Johanna Jauernig, Postdoc am Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (iamo) in Halle.

Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sind Diesel-Fahrverbote grundsätzlich zulässig. Erste Straßenabschnitte in deutschen Städten wurden bereits für einige Dieselautos gesperrt. Diese Maßnahme ist der vorläufige Abschluss eines bisweilen erbittert geführten Schlagabtausches zwischen Umweltverbänden, Autoindustrie und Politik. Gerade das Lager der Diesel-Gegner argumentierte dabei äußerst polemisch. Ein Standpunkt zur Versachlichung war in der Debatte kaum zu finden. Deshalb plädieren wir hier für eine echte Folgenabschätzung.

Für Linken-Chef Bernd Riexinger unterstreicht das Urteil, dass „die Menschen ein Recht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit haben. „Zudem, so der Politiker weiter, sei es endlich ein „spürbarer Tritt vor das Schienbein der betrügerischen Autoindustrie“. Als vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge in Tausenden Fällen hat die deutsche Umwelthilfe (DHU) die Überschreitung der Grenzwerte bereits im Vorfeld des Urteils bezeichnet. Im Straßenverkehr nicht eingehaltene Abgaswerte seien vorsätzlicher Betrug, und die mangelnde Handlungsbereitschaft der Kommunen zeige, dass anstatt mit Geld „lieber mit dem Leben [der] Bürger“ bezahlt werde. Diese Zitate sind Beispiele für ein immer wiederkehrendes Problem in der Argumentation der Diesel-Gegner. Es werden nur die Kosten des Diesels betrachtet. Mögliche Vorteile bleiben unberücksichtigt.

Wenn die Politik eine gemeinwohlorientierte Entscheidung treffen will, darf sie nicht einseitig nur auf die Kostendimension starren. Vielmehr muss sie auch die Nutzendimension sorgfältig in Betracht ziehen. Häufig kann eine Gesetzesänderung zwar ein spezielles Problem lösen, doch ist stets damit zu rechnen, dass neue und insbesondere ungewollte Konsequenzen auftreten. Deshalb können vernünftige politische Eingriffe in der Regel nicht das Ziel verfolgen, Risiken komplett zu annullieren. In vielen Bereichen wäre dies schlichtweg unmöglich – oder zu teuer. Beispiel Straßenverkehr: Die Fahrzeuge werden zwar immer sicherer, dennoch wird es immer Gefährdungsrisiken für die Teilnehmer geben. Selbst wenn man den motorisierten Straßenverkehr abschaffen wollte, führte der Verzicht auf motorisierte Mobilität zu neuen Risiken. Man denke nur an den Nutzen, den man sich entgehen lassen würde, wenn man im ländlichen Raum für alltägliche Besorgungen oder für schnelle Krankentransporte auf Autos verzichten würde. Auch ein Verbot von Technologien wie dem Internet oder der Elektrizität würde zwar einerseits Risiken (z.B. Datenlecks, Kabelbrände) ausschließen, der Preis dafür wäre allerdings unverhältnismäßig hoch. Bei politischen Eingriffen mit dem Ziel, Risiken zu verringern, ist deswegen folgende Frage unerlässlich: Welche Einbußen wollen wir als Gesellschaft dafür in Kauf nehmen? Der Gesetzgeber ist folglich gut beraten, ein gesellschaftlich akzeptables Risikoniveau anzustreben, bei dem der Gesamtnutzen der Gesellschaft gesteigert und nicht gemindert wird.

Das gilt auch für die Diesel-Debatte: Hier benötigen wir eine wissenschaftlich gestützte Risikobewertung, die die Vor- und Nachteile abwägt und dabei die unterschiedlichen Eintrittswahrscheinlichkeiten verschiedener Risiken in Rechnung stellt. Eine solche Folgenabschätzung ist in der Debatte um Fahrverbote bislang – wenn überhaupt – nur sehr bruchstückhaft vorgenommen worden. Ein Hauptargument gegen Dieselfahrzeuge in deutschen Städten ist das steigende Risiko von Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die DUH spricht von jährlich 10.600 Todesfällen durch Stickoxide. Bei der Berücksichtigung dieser Kosten müssen aber auch die Kosten alternativer Technologien betrachtet werden. Ein Umstieg aller Dieselfahrer auf Benzin- oder Elektromotoren würde den CO2-Ausstoß durch höheren Verbrauch bzw. energieaufwendige Produktion erheblich erhöhen. Das führt zu all den negativen hinlänglich bekannten Folgen für Umwelt und Gesundheit. Dazu kommen weitere hohe Umstiegskosten: Nimmt man den ehemaligen Justiz- und Verbraucherschutzminister Heiko Maas beim Wort, dann sollen die Autofahrer nicht „die Zeche zahlen.“ Aber wer kommt stattdessen in Frage? Betrachtet man die Auswirkungen von Dieselfahrverboten aus ökonomischer Perspektive, ist es wahrscheinlich, dass die Autobranche jetzt schon keinen volkswirtschaftlichen Gewinn (= Erlös minus Opportunitätskosten) erzielt und somit die Umrüstungskosten auf den Konsumenten übertragen muss. Auf einem perfekten Markt entspricht der Preis langfristig den Kosten der Produktion. Nimmt man dies als Ausgangspunkt, kann gefolgert werden, dass die höheren Produktionskosten für Euro 6 Diesel von der Autoindustrie an den Verbraucher weitergegeben wurden. Die Autohersteller können somit nicht auf große Reserven zurückgreifen, aus denen sie die Umrüstungskosten bezahlen können. Sie sind deswegen dazu gezwungen, die Kosten an ihre (zukünftigen) Kunden weiterzugeben (z.B. über höhere Preise für Neuwagen). Um das Abwälzen der Kosten auf die Konsumenten wirklich zu verhindern, müsste der Staat als Zechezahler der Autoindustrie deswegen unter die Arme greifen. Der Staat müsste – will er keine weiteren Schulden aufnehmen – die Umstiegskosten durch Einsparungen in anderen Bereichen finanzieren. Laut ADAC bewegen sich die Kosten für eine Umrüstung pro Auto zwischen 1.400 und 3.300 Euro. Bei 12,4 Millionen Alt-Dieselfahrzeugen in Deutschland entstehen also Gesamtkosten von bis zu 41 Milliarden Euro. Das sind ungefähr 8% des Ausgabenvolumens des Bundeshaushaltes im Jahr 2017. Diese Summe entspricht in etwa dem Betrag, den die Bundesregierung im letzten Jahr für Arbeitsmarktpolitik und Elterngeld ausgegeben hat. Eine derart hohe Belastung wirft naturgemäß die Frage der Steuergerechtigkeit auf. Summa summarum ist es also nicht gewiss, ob Fahrverbote positive Auswirkungen auf Gesundheit, Umwelt und Gesellschaft erzielen, da durch den Umstieg auf andere Technologien neue Umweltprobleme entstehen und zudem die Frage einer massiven Steuerbelastung aufgeworfen wird.

Entscheidet man sich für die vermeintlich billige Lösung und unterlässt eine Entschädigung der Dieselfahrer, dann hätte auch dies eine gravierende nicht-beabsichtigte Folge: Das Vertrauen in den Rechtsstaat könnte nachhaltig erodieren. Dieses Argument wurde in der Debatte bislang kaum berücksichtigt. Dabei bildet ein starker Rechtsstaat, in dem Gesetze verbindlich und Verstöße justiziabel sind, die Grundlage für eine funktionierende Marktwirtschaft. Nur wenn sich die Bürger ihrer Rechte sicher sein können, also den Schutz ihres Eigentums oder die Einklagbarkeit von Verträgen verlässlich erwarten, werden sie private Tauschbeziehungen eingehen. Das Vertrauen der Bürger in den Schutz ihrer Rechte durch den Staat ist also essentiell für die Marktwirtschaft. Enttäuschtes Vertrauen kann zu schwindendem Schuldbewusstsein bei Rechtsbrüchen und letztendlich zu Selbstjustiz führen und damit schlimmstenfalls eine Spirale der Aushöhlung des Rechtsstaats in Gang setzen. Fahrverbote, die für über 15 Millionen Halter von Dieselfahrzeugen eine De-facto-Enteignung bedeuten, gefährden dieses Vertrauen in den Rechtsstaat. Wer ein Fahrzeug kauft ‒ gleich ob für privaten oder geschäftlichen Gebrauch ‒ rechnet damit, den Wagen für dessen Lebensdauer uneingeschränkt nutzen zu können und ihn gegebenenfalls zum erwarteten Wert weiterverkaufen zu können. Ist das nun nicht mehr der Fall, birgt dieser Verlust eines sicher geglaubten Wertes ein erhebliches Verunsicherungspotenzial in sich. Sozialpsychologische Studien zeigen, dass Menschen ihrem aktuellen Besitz einen wesentlich höheren Wert zuschreiben als einem Besitz, den sie erst noch erwerben müssen. Der Verlust eines bereits im eigenen Besitz befindlichen Gutes wiegt also wesentlich schwerer als die entgangene Chance, ein Gut allererst zu erwerben. Deswegen stellen Enteignungen eine besondere Gefahr für das Rechtsempfinden der Bürger und damit auch für den Rechtsstaat dar. Gesetze sollten sich immer am Wohl der Gesellschaft orientieren. Wenn sie jedoch drastisch in die Eigentumsrechte der Bürger eingreifen, sollten die Konsequenzen besonders gründlich abgewogen werden. Insofern wäre es klug, die derzeit diskutierten Übergangsfristen an der realistischen Lebensdauer von bereits erworbenen und zugelassenen Fahrzeugen orientieren.

Eine differenzierte Betrachtung des Dieselfahrverbots mit Folgeabschätzung zeigt, dass die drohende Ad-hoc-Regeländerung keineswegs automatisch dem moralischen Anliegen dient, Mensch und Natur wirksam zu schützen. Ein Fahrverbot senkt zwar den Ausstoß von Stickoxiden in den Innenstädten und verhindert damit bestimmte negative Folgen. Allerdings schafft es auch neue Probleme. Und die sind so gewaltig, dass ein Fahrverbot sich als für das Gemeinwohl kontraproduktiv erweisen könnte.

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Die Zurückweisung des italienischen Haushaltsplanes durch die EU-Kommission klingt nach einem formalen Akt. Man empört sich, dass die italienische Regierung ein Budgetdefizit von 2,4 Prozent für 2019 plant. Auf den ersten Blick wirkt das etwas verwirrend. Liegt das Defizitkriterium im Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) doch bei 3 Prozent. Somit ist Italien unter der vereinbarten Grenze geblieben. Zwar liegt die gesamtstaatliche Verschuldung in Italien bei über 130 Prozent zur Wirtschaftskraft und damit über dem 60 Prozentkriterium im SWP, doch auch Frankreich, Spanien und selbst Deutschland liegen darüber.

Mit der Reform des SWPs im Jahr 2011 wurden durch das sogenannte Six-Pack die Regeln jedoch verschärft. Dabei steht die Erreichung eines strukturell ausgeglichenen Haushalts im Mittelpunkt. Unterschieden wird zwischen einem präventiven und einem korrektiven Arm des SWP. Der präventive Arm sieht vor, dass bei einer Verfehlung des geplanten Haushaltsziels die Kommission eine Abbaupfad verlangen kann. Weicht der Mitgliedsstaat davon erheblich ab, dann können die Euro-Finanzminister in letzter Konsequenz Strafen verhängen, die bis zu 0,2 % des Bruttoinlandsproduktes betragen können. Das wären für Italien maximal 3,4 Milliarden Euro.

Als korrektiver Arm enthält der SWP das „Verfahren bei einem übermäßigen Defizit“. Dieses Verfahren wird eingeleitet, wenn der Mitgliedsstaat die 3-Prozentgrenze über das Budgetdefizit reisst oder die Staatsverschuldung, wenn diese oberhalb der 60 Prozentgrenze liegt, nicht mindestens um ein Zwanzigstel jährlich abbaut. Auch hier können Sanktionen verhängt werden, die im Extremfall 0,5 Prozent des BIP betragen können.

Klar ist: Italien verstößt gegen den präventiven Arm des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Klar ist aber auch: Frankreich hatte 2013 noch ein gegenüber dem Vorjahr erhöhtes Defizit von 3,7 Prozent gemeldet. Es gab Proteste, aber am Ende drückte die EU-Kommission beide Augen zu. Erst in diesem Jahr wurde Frankreich aus dem Defizitverfahren entlassen. Die Verschärfung des SWP ist und war ein stumpfes Schwert. Er funktioniert nicht, da die Kommission auf die großen Volkswirtschaften zu viel Rücksicht nimmt, und im zuständigen Rat der Finanzminister (ECOFIN) keine Krähe der anderen ein Auge aushackt.

Aus dem Blick gerät aber völlig der seit 2012 bestehende Fiskalvertrag. Er ist ein gegenseitiger völkerrechtlicher Vertrag aller Euro-Mitgliedsstaaten zuzüglich Bulgarien, Dänemark und Rumänien. Bis 2014 waren alle Vertragspartner verpflichtet, eine Regel für einen ausgeglichenen Haushalt mit dauerhafter und verbindlicher Natur in nationales Recht umzusetzen. Vorbild dieser Regelung war die Schuldenbremse im deutschen Grundgesetz, die faktisch einem Neuverschuldungsverbot gleichkommt. Inzwischen haben alle Vertragsstaaten die Regelung umgesetzt. Sie ist die andere Seite des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Die Mitgliedsstaaten, die dem ESM beitraten, verpflichteten sich gleichzeitig, eine Schuldenbremse im nationalen Recht zu verankern. Das eine sollte es nur mit dem anderen geben.

Jetzt schert sich Italien nicht um den Fiskalpakt. Die Regierung verstößt gegen die eigenen Haushaltsregeln. Dagegen können nur das Parlament in Italien selbst, das italienische Verfassungsgericht oder der Staatspräsident Italiens vorgehen. Dennoch ist der Verstoß nicht nur ein unfreundlicher Akt, sondern auch ein Bruch der Vertragsgrundlagen des ESM. In einem Erwägungsgrund des ESM-Vertrags wird die Gewährung von Finanzhilfen an die Ratifizierung des Fiskalvertrags, das Erreichen eines ausgeglichenen Haushalts und die Einführung einer Schuldenregel gebunden. Im Fiskalvertrag wird die Bedeutung der Einrichtung des ESM ausdrücklich hervorgehoben. Allen Seiten war dieser Zusammenhang bewusst, auch Italien. Die italienische Regierung bricht diese Regeln jetzt auf offener Bühne. Das darf eine deutsche Bundesregierung nicht einfach laufen lassen und sich einfach hinter der EU-Kommission verstecken. Der ESM-Vertrag und der Fiskalvertrag sind völkerrechtliche Verträge, deren Geschäftsgrundlagen jetzt von einem Vertragspartner gebrochen wurden. Völkerrechtliche Verträge können gekündigt werden, wenn wesentliche Voraussetzungen entfallen sind oder sich geändert haben. Dies ist hier der Fall. Deutschland sollte daher den ESM wegen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage kündigen und wieder verlassen.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

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Von Justus Lenz, Leiter Haushaltspolitik bei Die Familienunternehmer/Die Jungen Unternehmer

Deutschland hat ein Problem. Jedenfalls dann, wenn die zunehmende Regeldichte und der mit ihr einhergehende Erfüllungsaufwand nicht als selbstverständlich angesehen werden. So gute Gründe es auch für viele einzelne Regeln geben mag – in der Summe hat die Belastung längst überhand genommen. Betroffen sind natürlich alle Bürger im Land. Besonders hart trifft es viele Unternehmer, die immer mehr Zeit und Geld in die Erfüllung bürokratischer Auflagen stecken müssen. Noch einmal besonders betroffen sind Gründer: Eigentlich müssten sie jede freie Minute in den Aufbau ihres Geschäftsmodells und die Akquirierung neuer Kunden stecken. In der Realität verbringen sie einen erheblichen Teil ihres Zeitbudgets mit Bürokratie.

Unbekannt ist das Problem wirklich nicht. Das Thema gehört vielmehr zum Standardrepertoire der Sonntagsreden. Nur in der Realität kommt trotzdem immer noch eine Schippe drauf. Nach den Mindestlohndokumentationspflichten und der Datenschutzgrundverordnung geht es aktuell um ein Rückkehrrecht aus Teil- in Vollzeit. Offensichtlich gelingt es uns in Deutschland nicht, auf neue Regeln zu verzichten. Aus ordnungspolitischer Sicht ist ein Rahmen für die wirtschaftlichen Aktivitäten der Marktteilnehmer unerlässlich. Bei vielen Regeln darf aber zumindest ein Zweifel angebracht sein, ob sie wirklich noch Spielregeln sind, oder nicht vielmehr in die Marktergebnisse eingreifen. Diese Diskussion müssen wir führen. Kurzfristig werden wir so aber nicht zum Ziel kommen, die bürokratischen Lasten zu senken.

Wenn man auf der Ebene der Regelsetzung nicht weiterkommt, bietet sich noch der Versuch an, den Erfüllungsaufwand zu reduzieren. Zum Glück bringt die Digitalisierung neue technische Möglichkeiten, an diesem Punkt anzusetzen. Für die staatlichen Verwaltungskosten hat der Normenkontrollrat in einem Gutachten 2015 berechnet, dass sich 30 Prozent der Kosten durch eine konsequente Umsetzung von E-Government-Lösungen einsparen lassen würden. Auf Seite von Unternehmern und Bürgern wären die Einsparungen sicher ebenfalls enorm. So geht die Bundesregierung laut der Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP beispielsweise davon aus, dass deutsche Arbeitnehmer mit einfachen Steuererklärungen rund 54 Millionen Stunden Arbeitsaufwand haben, um diese auszufüllen und abzugeben.

Das Beispiel von Estland zeigt, dass es auch anders geht. Normale Steuererklärungen brauchen dort nur wenige Minuten. Estland beweist, wie sehr eine konsequente Digitalisierung der Verwaltung das Leben für Bürger und Unternehmen vereinfachen kann.

Umso bedenklicher ist es, dass Deutschland auch bei der Verwaltungsdigitalisierung nicht vorankommt. Eine hohe Regeldichte, bei gleichzeitig hohen Kosten der Regeldurchsetzung und -erfüllung, ist eine äußerst schlechte Kombination. Bürger und Unternehmen werden so maximal belastet. Dabei ist die Reduzierung des Erfüllungsaufwandes eigentlich der Minimalkonsens, der sich zwischen Liberalen, Konservativen, Sozialdemokraten und Grünen beim Thema Bürokratie erzielen lassen müsste. Doch leider bleibt es bisher, trotz aller Ankündigungen, bei halbherzigen bis katastrophalen Versuchen. Dabei zeigt Estland, dass es technisch und organisatorisch geht – was in Deutschland fehlt, ist anscheinend der politische Wille.

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Die Schwäche der Europäischen Union liegt auch in ihren Institutionen begründet. Sie sind im Zuge der Erweiterung der EU vielfach zu schnell gewachsen. Aber nicht nur. Es sind auch prinzipielle Konstruktionsfehler, die ein „Checks and Balances“ zwischen Kommission, Rat und Parlament der EU und den Organen der Mitgliedstaaten verhindern. In wesentlichen Fragen stehen Parlament und Kommission gemeinsam gegen die Mitgliedstaaten. Es geht ihnen um mehr Macht, um gegenüber den Mitgliedstaaten, deren Parlamenten und Regierungen mehr Rechte und Einfluss zu gewinnen. Dies geschieht nicht durch die Änderung der EU-Verträge, sondern meist durch eine großzügige Auslegung der Verträge. Das ist eigentlich nicht verwunderlich. In einer Demokratie gibt es immer ein Spannungsfeld zwischen Regierung und Parlament um Einfluss und Macht. Auch zwischen den staatlichen Ebenen in Deutschland findet diese Auseinandersetzung statt. Die Bundesebene strebt aktuell nach mehr Einfluss in der Bildungspolitik. Über Umwege hat der Bund in der Vergangenheit die baulichen Investitionen an Schulen gefördert, obwohl dafür eigentlich die Länder zuständig sind. Jetzt will der Bund das Grundgesetz ändern, um noch stärker in die Bildungsfinanzierung einsteigen zu können. Eine Machtverschiebung zugunsten des Bundes geht damit einher.

Auf EU-Ebene kommt jedoch noch eine weitere Institution in den Blick, die die Zentralisierungstendenz entscheidend fördert. Gemeint ist der Gerichtshof der EU in Luxemburg. In Fragen der gemeinsamen Währung, des Euro, wird es immer wieder deutlich, dass das Gericht alles durchwinkt, was die Europäische Zentralbank an unorthodoxer Geldpolitik beschließt und durchführt. So hat der EuGH den OMT-Beschluss zum unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen bestimmter Mitgliedsstaaten gebilligt und auch beim jüngsten Anleihenkaufprogramm der EZB über 2,5 Billionen Euro zeichnet sich eine Billigung des EuGH ab, nachdem Generalanwalt Melchior Wathelet in einem Gutachten das Ankaufprogramm gutgeheißen hat. Viele andere Beispiele für diese Tendenz sind seit Jahren bekannt. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter und spätere Bundespräsident Roman Herzog beklagte vor Jahren, dass der EuGH mit immer erstaunlicheren Begründungen den Mitgliedstaaten ureigene Kompetenzen entziehe und massiv in ihre Rechtsordnungen eingreife.

Der Grund für diese Zentralisierungstendenzen und die Unterstützung des EuGHs liegt auch in der Zusammensetzung und der Auswahl des EuGH. Die Organe des EuGH bestehen derzeit aus dem Gerichtshof und dem Gericht. Jeder Mitgliedsstaat kann derzeit einen Richter an den Gerichtshof und ab 1.10.2019 sogar zwei Mitglieder an das Gericht entsenden. Für die Richter ist das durchaus auch wirtschaftlich attraktiv. Ein verheirateter Richter mit zwei Kindern erhält am Gerichtshof ein Grundgehalt von 21.322,52 Euro, eine Haushaltszulage von 598,53 Euro, eine Kinderzulage von 751,18 Euro, einer Erziehungszulage von 509,66 Euro, eine Residenzzulage von 3.199,88 Euro und eine Aufwandsentschädigung von 607,71 Euro. Summa summarum macht dies eine Vergütung von 26.999,48 Euro. Bei den Richtern am Gericht liegt die vergleichbare Vergütung nur unwesentlich niedriger bei 25.060,15 Euro. Die besondere steuerliche Behandlung bei Beschäftigten von EU-Institutionen macht das Ganze zusätzlich attraktiv. Ein Richteramt in Luxemburg ist nicht nur für Juristen aus den Schwellenländern Malta, Zypern, Griechenland oder Rumänien attraktiv. Aber Richter aus diesen Ländern können in Luxemburg ein Vielfaches dessen verdienen, was sie sonst am Verfassungsgericht ihres Landes bekämen.

Wer es einmal geschafft hat, dort Richter zu werden, will es auch bleiben. Anders als beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, wo die Amtszeit 12 Jahre beträgt und Richter nicht wiedergewählt werden können, ist die Wiederernennung der Richter am Gericht und am Gerichtshof nach sechs Jahren Amtszeit möglich. Dies führt dazu, dass beispielsweise der Luxemburger Marc Jaeger seit 1996 dem Gericht angehört und der Finne Allan Rosas seit 2002 dem Gerichtshof.

Wer die EU-freundlichen Urteile des EuGH ändern will, muss daher an der Auswahl und der Institution an sich ansetzen. Besser wäre es, wenn der EuGH sowohl am Gerichtshof als auch am Gericht, lediglich Richter einsetzt, die von den nationalen Verfassungsgerichten und den obersten Gerichten der Mitgliedsstaaten für eine bestimmte Zeit entsandt werden. Sie sollten also am nationalen Gericht angesiedelt sein, dort auch vergütet werden und gegebenenfalls über eine Zulage den erhöhten Aufwand in Luxemburg erstattet bekommen. Gleichzeitig sollte eine Wiederernennung der Entsendung ausgeschlossen werden, um die Unabhängigkeit der Richter und des Gerichts zu stärken. Wer die Zentralisierungstendenz in der EU bremsen will, muss auch hier ansetzen.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

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Die Bereitschaft zum Experiment ist einer der wesentlichen Gründe dafür, dass unser Leben besser wird. Deshalb sind die Vorschläge des diesjährigen Wirtschafts-Nobelpreisträgers Paul Romer so wichtig. Wenn man ihnen folgen würde, könnten Inkubatoren des Fortschritts entstehen, die das Gesicht der Welt verändern würden.

Städte: Motoren der Zivilisation

Die Entwicklung von offenen Gesellschaften, technologischer Fortschritt, die Herrschaft des Rechts und der Wohlstand für alle sind meist in den Städten entstanden. Die großen Stadtkulturen – vom alten Griechenland über die Hanse und die italienischen Stadtstaaten bis hin zu den modernen Metropolen – waren von jeher Ausgangspunkte menschlicher Zivilisation. Es waren, wie die Ökonomin Deirdre McCloskey in einer dreibändigen Buchreihe beschreibt, die „bürgerlichen“ Tugenden und Werte, die letztlich dazu geführt haben, dass wir heute in einer Welt mit Gesundheitsversorgung, allgemeiner Bildung und Internet leben. Denn diese Städte haben nicht nur dem aufstrebenden Bürgertum politische Freiheit geschenkt, sondern auch als Zentren des Handels dazu geführt, dass deren Bewohner dem zähen Überlebenskampf eines Landlebens entkommen konnten.

Paul Romer, dem Anfang der Woche der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften zugesprochen wurde, hat dieses Phänomen in einem seiner Lieblingsprojekte aufgegriffen. Er schlägt vor, in Entwicklungsländern die Gründung sogenannter „Charter Cities“ zu ermöglichen. Die Regierung des Landes würde in diesem Projekt ein Stück des eigenen Staatsgebietes – möglicherweise gegen Zahlung einer Pacht – einem anderen Staat oder einer Staatengemeinschaft zur Nutzung überlassen. Ähnlich wie es bis 1997 bei Hongkong der Fall war. Die Stadt würde dann unter der Gesetzgebung und Rechtsprechung eines Landes wie Kanada oder auch der EU stehen, was zu einer sehr viel höheren Rechtssicherheit führen würde als dies in den Ländern der Fall ist.

Freiräume schaffen für die Entwicklung neuer Ideen

Diese Städte, so Romers durch historische Erfahrung auch gut begründete Hypothese, würden wie Fortschritts-Inkubatoren auf die entsprechenden Staaten wirken. Wer heute in Nigeria oder Nicaragua eine pfiffige Idee oder Unternehmergeist hat, wird oft durch Korruption, Behördenwillkür und ausbeuterische Steuern und verschwenderische Ausgaben in seinem Fortkommen gehemmt. Wenn sie oder er die Möglichkeit hätten, unkompliziert in eine Charter City zu ziehen, könnte sehr viel mehr Innovation auf fruchtbaren Boden fallen als dies heute der Fall ist. Gerade auch in einem Zeitalter, in dem mehr Menschen auf der Flucht sind als jemals, kann dieses Konzept leicht modifiziert, eine wirklich nachhaltige Lösung bieten. Was wäre alles möglich in von der EU verwalteten Charter Cities in Jordanien oder der Türkei – verglichen mit dem Elend und der Perspektivlosigkeit jetziger Flüchtlingslager!

Man könnte den Gedanken sogar noch etwas weiterspinnen: Während Entwicklungsländer oft das Problem mit mangelnder Rechtssicherheit haben, sind Länder wie Deutschland oder Staatenzusammenschlüsse wie die EU in der Gefahr, einer überbordenden Verrechtlichung. Ein Übermaß an Bürokratie und Regulierung verhindert, dass die Innovationsdynamik so effizient einsetzen kann, wie es die Mischung aus Unternehmergeist, Bildung und Ressourcen in unseren Breitengraden nahelegen würde. Warum kann man nicht auch innerhalb der EU Städte oder Ballungsgebiete ausweisen, in denen abweichende Regulierungen ausprobiert werden, wie es Frank Schäffler hier bereits vor zweieinhalb Jahren vorgeschlagen hat? Ist der Wettbewerb wirklich eine solche Bedrohung?

Am Ende profitieren alle

Die Herausforderungen für den Fortschritt sind derzeit viele: Während die einen Innovation verhindern wollen, um vermeintlich Arbeitsplätze zu retten, ersticken die anderen sie in Regulierungen, um vermeintlich Verbraucher zu schützen. Unternehmer und Erfinder müssen sich mühsam freischwimmen in einer wahrlich nicht gerade innovationsfreundlichen Welt. Eine geradezu groteske Entwicklung, denn noch nie in der Geschichte der Menschheit waren die Vorzüge von Innovation so offensichtlich wie heute. Noch nie konnten wir ihren segensreichen Beitrag so zeitnah mitverfolgen: Die Hälfte der Menschheit ist unter 30 Jahren alt; und zu ihren Lebzeiten wurde das Internet eingeführt und der „Goldene Reis“ entwickelt, wurden Smartphones erfunden und Medikamente gegen AIDS erforscht.

Wenn wir diesen Fortschritt nicht hemmen oder gar zurückdrehen wollen, müssen wir uns Gedanken darüber machen, in welchem politischen Kontext er am besten gedeiht. Und da scheinen die heutigen Groß-Demokratien, die häufig Opfer von Interessengruppen und Populisten werden, zunehmend ein ebenso ungesunder Kontext zu werden wie Entwicklungsländer. Hier wie dort wären die von Paul Romer und anderen Vordenkern wie Patri Friedman oder Titus Gebel ersonnenen Konzepte von „Charter Cities“, „Seasteading“ oder „Private Cities“ interessante und vor allem realistische Alternativen. Sollten diese freien Städte Erfolg haben, dürften davon – wie schon früher in der Geschichte – am Ende alle profitieren. Denn wie schon Ludwig von Mises 1927 schrieb: „Aller Fortschritt der Menschheit vollzog sich stets in der Weise, dass eine kleine Minderheit von den Ideen und Gebräuchen der Mehrheit abzuweichen begann, bis schließlich ihr Beispiel die anderen zur Übernahme der Neuerung bewog.“