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Photo: University of Liverpool Faculty of Health & Life Sciences from Flickr (CC BY-SA 2.0)

2015 war der Euro-Club der „kranke Mann“ Europas. Er wird es 2016 wohl bleiben. Die Länder, die den Euro eingeführt haben, schwächeln. Sie schwächeln im Wachstum, bei den Arbeitsplätzen und beim Abbau des staatlichen Defizits. Die Folgen sind eine wachsende Verschuldung der staatlichen Ebenen, der privaten Haushalte sowie der Banken und Unternehmen. Nicht bei allen, aber bei der Mehrheit der Mitgliedsstaaten. Der Grund dieser Schwäche ist die Trägheit, Saturiertheit und Langsamkeit des gesamten Euro-Clubs. Das hat wiederum viel mit dem Umgang innerhalb der Währungsunion zu tun und weniger mit seinem Rechtsrahmen.

Die Gründerväter des Euros glaubten, dass die Einführung des Euro zu einer Angleichung der Ökonomien führen würde und zu einem wachsenden Wohlstand für alle. Die Maastricht-Kriterien, die fiskalische Disziplin erzwingen sollten, eine unabhängige Notenbank und eine EU-Kommission, die als Hüterin des Rechts, darüber wacht, sollte die Konvergenz schaffen. Diese These war und ist bei vielen Ökonomen in Deutschland beliebt. So formulierte bereits 1992 der spätere Bundespräsident und damalige Finanzstaatssekretär Horst Köhler im Spiegel-Interview: „Mit dem Maastrichter Ergebnis schreiben wir die soziale Marktwirtschaft als Ordnungsmodell für Europa fest. Das gibt uns die Möglichkeit, in Ruhe und Stabilität im Laufe der Zeit Entwicklungsunterschiede in Europa auszugleichen. Davon werden wir alle profitieren.“

Gemeinhin meint man in Deutschland andere in Europa hätten diese Logik nicht verstanden. Doch das ist nicht so. Der spanische Ökonom Jesús Huerta de Soto, einer der herausragenden und klugen Ökonomen Spaniens und Anhänger der Österreichischen Schule der Ökonomie, spricht sogar davon, dass der Euro wie der historische Goldstandard die Regierungen diszipliniere. Er meint sogar, der Euro treibe zu haushälterischer Strenge, tendenziell die Wettbewerbsfähigkeit erhöhenden Reformen und setze den Missbräuchen des Wohlfahrtsstaates und der politischen Demagogie ein Ende.

Was beide, Köhler und de Soto, völlig unterschätzten, ist das fehlende Verständnis in den Euro-Staaten, in der Kommission und erst recht in der EZB für den gemeinsamen Ordnungsrahmen. Dieser setzt nicht nur den gemeinsam ratifizierten völkerrechtlichen Vertrag voraus, sondern das gemeinsame Verständnis darüber, was man unterschrieben und welche Konsequenzen dies hat. Und gerade daran mangelt es. Besonders deutlich wurde dies vor Weihnachten im Parlament der Europäischen Union. Dort sagte EU-Kommissionspräsident Juncker mit Blick auf den Europäischen Stabilitätspakt und das erneute Hinausschieben des französischen Defizitabbaus: In der EU gehe es „nicht um Rechtsregeln oder Prozentzahlen, sondern um Menschen und die politischen Entscheidungen, die sie betreffen.“ Hier spricht der Pragmatiker, der von Fall zu Fall entscheiden will, was richtig und notwendig ist. So sieht in der Praxis die „Hüterin des Rechts“ aus. Und Mario Draghi, dem die Staatsfinanzierung über die Druckerpresse verboten ist, macht genau dies mit der EZB und verlängert sein Schuldenaufkaufprogramm nochmals.

Die Befürworter dieses Pragmatismus, betonten die Notwendigkeit der Maßnahmen, mit der benötigten Zeit für die entsprechenden Anpassungsmaßnahmen in den Problemländern. Doch halt: Im kommenden Jahr ist bereits das neunte Jahr nach der Bankenkrise, die 2007 ihren Beginn nahm. Seitdem hat sich die Verschuldung in den Krisenstaaten wie Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, Griechenland, Zypern massiv erhöht. Die Arbeitslosigkeit hat in diesen Ländern historische Höchststände erreicht. Bis auf Spanien ist das Wachstum überall mau und das staatliche Defizit groß.

Es ist genau das Gegenteil eingetreten, was Köhler, de Soto und anderen vorausgesagt haben. Die Praxis des Euro hat nicht zur Konvergenz, sondern zur Divergenz der Ökonomien geführt. Nicht der Geist des Euros war daran Schuld, sondern das Schleifen des Rechtsrahmens durch die Institutionen selbst. Dadurch sind die Regeln beliebig geworden. Das ist zumindest historisch uneuropäisch. Die europäische Freiheitsidee hat sich vor Jahrhunderten gerade gegen die Allmacht der Herrschenden durchgesetzt, weil Bürger ihren Königen und Fürsten abtrotzten, dass diese nicht über dem Recht stünden, sondern ihm untergeordnet sind. Die Herrschaft des Rechts ist Teil der Kulturtradition Europas. Eine Rückbesinnung auf diese Tradition ist gleichzeitig die Überlebenschance für die gemeinsame Währung – vielleicht ihre einzige.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: big-ashb from flickr (CC BY 2.0)

In diesen Tagen der europäischen Krise werden wieder die europäischen Werte beschworen. Europa sei eine Wertegemeinschaft, betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel neulich im Parlament der Europäischen Union. Merkel bezog diese floskelhafte Aussage auf die Flüchtlingskrise. Sie forderte, Europa müsse sich an Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, der Achtung von Minderheiten und Solidarität orientieren.

Kampf um Werte in Europa – banalisiert

Zweifelsohne sind dies wichtige Werte, die Europa historisch verbinden. Es waren spanische Dominikaner, die im 16. Jahrhundert beim Anblick der Unterdrückung der Bevölkerung in Mittel- und Südamerika die Menschenwürde als universelles Grundrecht gegenüber dem spanischen König einforderten. Es war im 13. Jahrhundert die Magna Charta, die die Willkür des englischen Königs beschnitt und den Weg zum Rechtsstaat bahnte. Schon im 16. Jahrhundert wurden die Werte Toleranz und Achtung von Minderheiten eindrücklich verwirklicht, als etwa das Königreich Polen-Litauen verfolgten Protestanten aus ganz Europa eine neue Heimat gab. Und es war der als Sankt Martin verehrte Bischof von Tours, der im 4. Jahrhundert seinen Mantel aus freien Stücken mit einem Bettler am Wegesrand geteilt hat.

Ob Angela Merkel wohl an diese historischen Ereignisse gedacht hat? Es spricht nicht viel dafür. Doch da ist sie nicht alleine. Heute werden die Werte Europas umgedeutet und in Sonntagsreden banalisiert. In der real existierenden Europäischen Union wird unter Menschenwürde der Beschäftigung vernichtende Mindestlohn und unter Rechtsstaatlichkeit die Vertragsbrüche von Maastricht und Dublin verstanden, unter Toleranz die Regulierung von Kerzen, Ölkännchen und Glühbirnen, unter der Achtung von Minderheiten die Förderung der Nomenklatura in Brüssel und unter Solidarität die Rettung europäischer Banken. Die europäische Wertegemeinschaft ist ein Wieselwort. Erst durch konkrete Institutionen werden abstrakte Werte real und fassbar.

Die Trennung von Kirche und Staat, Marktwirtschaft, individuelle Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie sind Institutionen, die diese Werte Wirklichkeit werden lassen. Die Trennung von Kirche und Staat ist das Ergebnis eines über Jahrhunderte ausgetragenen Machtkampfes zwischen den Kirchen und den weltlichen Herrschern. Der Drang der Kaiser und Könige, sich in innerkirchliche Belange einzumischen, und das Ansinnen der Päpste und Bischöfe, sich die weltlichen Herrscher zu ihren Untertanen zu machen, hat eine Machtbalance hervorgebracht, deren Ergebnis die tatsächliche Trennung der beiden Bereiche war. Anders als etwa in den meisten islamischen Staaten, die keine Trennung zwischen Religion und Staat kennen. Ein entscheidender Unterschied ist, dass in unseren Breitengraden das kirchliche Recht nicht über dem staatlichen Recht steht, sondern ihm untergeordnet ist. Zwar entstammt die europäische Rechtstradition auch dem kanonischen, also kirchlichem Recht, aber auch dies entstammt letztlich griechisch-römischer Rechtstradition.

Wachsende Kluft zwischen Werten und Institutionen

Die Marktwirtschaft und der Kapitalismus haben ihre Verankerung im Privateigentum und im Individualismus. Beides verdanken wir der schottischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, dessen prominentester Vertreter Adam Smith war. Einige wesentliche Erkenntnisse über deren Funktionieren haben sogar bereits die scholastischen Philosophen im 13. Jahrhundert und die Gelehrten der Schule von Salamanca im 16. Jahrhundert gewonnen und formuliert.

Die individuelle Freiheit folgt der Erkenntnis, dass nicht das Streben nach gemeinsamen Zielen eine freie und offene Gesellschaft ermöglicht, sondern, dass die größtmögliche Verwirklichung individueller Freiheit am Ende auch die Freiheit einer ganzen Gesellschaft mehrt.

Der Rechtsstaat sichert in der Tradition eines Immanuel Kant die Gleichheit vor dem Gesetz. Sein kategorischer Imperativ: “Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde” hat nicht nur die europäische Verfassungsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert maßgeblich beeinflusst, sondern auch die amerikanische.

Das Aufbegehren gegenüber den Königen und Fürsten durch das Volk brachte letztlich auch die Demokratie hervor, deren Wurzeln wir in der Schweiz verorten können wie in Großbritannien, in den Niederlanden wie in Polen. Bald erkannte man, dass es nicht genügt, nur dem reinen Mehrheitsprinzip zu folgen, sondern, dass man Demokratie einhegen muss in einen Grundrechtskatalog, der das Individuum vor der Despotie der Mehrheit schützt. Heute wissen wir, dass Fortschritt darin besteht, dass die Wenigen die Vielen überzeugen. Neue Ideen treten zuerst bei Einzelnen auf, bevor sie zur Mehrheitsmeinung werden können.

Diese Institutionen entstammen einer europäischen Wertetradition, die längst vergessen scheint, weil Werte und Institutionen immer wieder auseinander klaffen. Sie wieder an das Tageslicht zu bringen, würde Europa helfen, seine Krise zu überwinden und der europäischen Wertegemeinschaft wieder einen Sinn zu geben.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Tichys Einblick.

Photo: George Redgrave from Flickr. (CC BY-ND 2.0)

In der Euroschuldenkrise sitzt Deutschland in der Falle. Zwar versucht die Bundesregierung seit der Ursünde von 2010, der ersten Rettung Griechenlands vor der Insolvenz, den Prozess zu gestalten. Tatsächlich wird sie aber von den Schuldenländern vor sich hergetrieben. Immer mehr kommt es zu einer vollständigen Vergemeinschaftung der Schulden. Diese Sozialisierung vollzieht sich jedoch nicht nur bei der Einstandspflicht jedes Mitgliedsstaates des Europäischen Währungsraumes im Rahmen des 2012 geschaffenen Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, sondern geht weit darüber hinaus.

Es ist ein perfides Machwerk, dass sich die Eurokraten in Brüssel dafür ausgedacht haben. Die „Bankenunion“ ist das Vehikel nicht nur für die Vergemeinschaftung der Schulden, sondern bald auch der Spareinlagen im Euro-Club. Das ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Doch wer die Situation in den Krisenländern Südeuropas betrachtet, kommt nicht herum, die Lage als zutiefst besorgniserregend zu erkennen. Hier reicht schon ein Blick nach Italien. Immerhin die drittgrößte Volkswirtschaft im Euro-Raum. Die Staatsschulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung der Italiener sind mit 136 Prozent so hoch wie noch nie seit 90 Jahren. Die italienischen Banken haben über 200 Milliarden Euro fauler Kredite von Unternehmen und private Haushalten in ihren Büchern. Das sind über 12 Prozent der Kredite, die an diese Gruppen ausgegeben wurden. Beide Kennzahlen, die Staatsverschuldungsquote und die Quote der faulen Kredite, steigen weiterhin Monat für Monat an. Die Situation Italiens ist erschreckend schlecht. Jedoch sinkt die Rendite italienischer Staatsanleihen seit 2012 kontinuierlich – aktuell auf 1,44 Prozent bei 10jährigen Staatsanleihen.

Dieses Paradoxon, immer mehr Schulden zu machen, aber immer weniger dafür bezahlen zu müssen, hat zwei wesentliche Ursachen. Zum einen die Intervention in die Anleihemärkte der Euro-Staaten durch den Italiener im Amte des EZB-Präsidenten, Mario Draghi. Zum anderen hat das Inkrafttreten des ESM ebenfalls dazu beigetragen, dass Italien sich billiger refinanzieren kann. Der ESM fungiert als eine Art Versicherung. Er sichert den Gläubigern Italiens zu, dass deren Anleihen weniger stark ausfallgefährdet sind. Als Garantiegeber fungiert dafür das ESM-Eigenkapital der Eurostaaten. Dies ist zwar der Höhe nach auf die jeweiligen Einlagen begrenzt (für Deutschland rd. 190 Mrd. Euro), doch diese Begrenzung ist nur momentan fix, sie kann durch die Mitgliedsstaaten bei Bedarf an- oder sogar aufgehoben werden. Dass dies auch die Marktteilnehmer so sehen, kann an der Entwicklung der Renditen kurzlaufender Anleihen bereits beobachtet werden. Dort ist die Beistandspflicht Deutschlands für andere Euro-Staaten eingepreist.

Die Bankenunion ist neben dem ESM die entscheidende Schlinge. Schritt für Schritt zieht sie sich zu. Die Konzentration der Bankenaufsicht bei der EZB, die Schaffung eines zentralen Restrukturierungs- und Abwicklungsmechanismus für Banken und bald auch eine gemeinsame Einlagensicherung aller Banken vollenden diesen Prozess. Wenn dieser Dreiklang umgesetzt ist, dann kann die EZB einseitig die Schieflage einer Bank feststellen, sie mit Geld aus dem Abwicklungsfonds, in die alle Banken des Euro-Clubs eingezahlt haben, abwickeln und die Einlagen der Sparer retten durch den gemeinsamen Einlagesicherungsfonds, in den wiederum alle Banken, Sparkassen und Volksbanken einzahlen müssen.

Damit wird der Kreis der Zahler vom Steuerzahler in den Geberstaaten auf die Sparer in den Geberstaaten erweitert. Gegen diese Entwicklung kann die Bundesregierung faktisch nur noch begrenzt etwas unternehmen. Denn die EU-Kommission stellt sich bei ihrem Verordnungsvorschlag für eine einheitliche Einlagensicherung auf den Standpunkt, dass für die Beschlussfassung im Europäischen Rat lediglich eine doppelte Mehrheit notwendig ist. Mindestens 55 Prozent der Mitglieder müssen zustimmen, die wiederum mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren müssen. Angela Merkel kann die Vergemeinschaftung der Spareinlagen nicht ohne Verbündete stoppen. Doch die sind rar und müssen mit der Lupe gesucht werden.

Wolfgang Schäuble kann noch so laut Zeter und Mordio rufen, das Kind ist bereits viel früher in den Brunnen gefallen. Die Einführung des ESM und die Konzentration der Bankenaufsicht bei der EZB waren die entscheidenden Weichen. Was jetzt kommt, sind lediglich Folgen dieser Fehlentscheidungen. Sämtliche Rückzugsgefechte Schäubles sind daher nur Schattenboxen auf höherem Niveau. Sie sollen den Sparkassen, Volksbanken und den Sparern in diesem Land das Gefühlt geben, der Finanzminister nehme ihre Sorgen erst. Insgeheim hat er sie auf dem Altar in Brüssel geopfert.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Tichys Einblick.

Photo: Christopher L. from Flickr. (CC BY 2.0)

Von Robert Nef, Stiftungsratsmitglied des Liberalen Instituts der Schweiz, Zürich.

Die EU beruht auf einem veralteten, territorialen, etatistischen und korporatistischen Konzept, dessen Ursprünge in die Nachkriegszeit und in die Zeit des Kalten Krieges zurückreichen. Sie verfolgt explizit und implizit sechs Hauptziele: Friedens- und Verteidigungsunion, aussenpolitische Union, Wirtschafts-, Währungs-, Fiskal- und Sozialunion. Von den sechs Zielen sind aus liberaler Sicht lediglich das erste und dritte — und von diesem auch nur die Deregulierung, nicht aber die Harmonisierung und das organisierte Zusammenwirken von Lobbyisten und EU-Bürokratie (Crony Capitalism) — interessant. Die andern vier gefährden nicht nur die nationale Eigenständigkeit der Mitglieder, sondern grundlegende liberale Werte. Aufgrund der allzu ambitiösen Ziele hat die EU unabsehbare zentralistische Entwicklungstendenzen. Und weil wichtige Mitgliedsländer derzeit in Finanznöten stecken, übt sie deswegen zunehmend Druck auf die Schweiz aus.

Die EU ist von ihrer Entstehungsgeschichte und von ihren Strukturen her ein Versuch, die Krisen des national strukturierten, sozialdemokratischen Industriezeitalters auf supranationaler bzw. kontinentaler Ebene zu überwinden. Eigentlich werden aber die durch eine allgemeinverbindliche demokratisch legitimierte nationale Gesetzgebung auf den ersten Blick nicht mehr lösbaren Probleme, zum Beispiel in der Währungspolitik, in der Migrationspolitik und in der tickenden Zeitbombe der kollektiven Altersvorsorge, einfach auf die europäische Ebene gehoben. Die grosse Schwäche der EU im Bereich der Legislativen hängt mit der Tatsache zusammen, dass in einem Staatenverbund, der an sich noch weniger zentralistisch sein sollte wie ein Bundesstaat, mit der EU- Kommission eine einzige schlecht legitimierte zentralistische Institution geschaffen wurde, die angeblich die auf den Verfassungsvertrag abgestützten allgemeinverbindlichen Gesetze erlassen soll. Der Streit um die Gewichtung der nationalen Stimmenanteile bei der kollektiven Meinungsbildung lässt nichts Gutes ahnen. Was daraus folgt, ist eine Verstärkung der heutigen Exekutiv- und Richterherrschaft. Dies täuscht darüber hinweg, dass man einem Kontinent einen Zentralstaat aufzwingen will, dessen historisch-politische Strukturen allenfalls eine nach aussen offene Freihandelsassoziation und allenfalls noch einen auf Frieden und gemeinsame Sicherheit ausgerichteten Staatenbund nahelegen. Schon ein Bundesstaat mit einem funktionierenden Zweikammersystem, in dem die Kleinen, Bevölkerungsschwachen gleiche Mitbestimmungsmöglichkeiten hätten wie die Grossen, wäre – anders als in den USA und in der Schweiz – in der EU nicht konsensfähig. Weder die USA noch die Schweiz kennen übrigens die höchst fragewürdige Praxis des zentralstaatlichen „bail out“ eines bankrotten Gliedstaates.

Die EU ist mithin ein rückwärtsgewandtes Projekt, das im strukturkonservativen Denken des Merkantilismus, der korporatistisch gezähmten bzw. gefesselten Marktwirtschaft, des Kalten Krieges und des entmündigenden Daseinsvorsorgestaates verhaftet geblieben ist und das für die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts schlecht gerüstet ist. Die Europäer stehen vor der Wahl, ob sie durch noch mehr Regulierung, Zentralisierung, Umverteilung und Harmonisierung eine Legitimitätskrise und eine Vollzugskrise ansteuern wollen, oder ob sie noch rechtzeitig den Aufbruch wagen zu offenen Strukturen, in denen autonome Zivilgesellschaften mit kleinen, eigenständigen, schlanken und kostengünstigen politischen Strukturen und in grundsätzlich benutzerfinanzierten oder privatisierten Infrastrukturen friedlich konkurrieren und kooperieren, um unter vielfältigen Lösungen die jeweils adäquateste zu ermitteln und kontinuierlich zu adaptieren.

Mit dieser durchaus in der bürgerlichen Tradition verankerten Option hat die europäische Idee Zukunft. Die Europäer müssen ihre Vielfalt wahren und pflegen und den Weg zu einer neuen EFTA im ursprünglichen Sinn einer – New European Free Trade Association = NEFTA – beschreiten, einer nach innen und aussen offenen Gemeinschaft in der die Mitglieder hohe Autonomie geniessen. Aus diesem Grund sollten wir Europäer die Ambitionen der politisch-administrativen nationalstaats-ähnlichen Megastruktur und allfällige Weltmachtträume hinter uns lassen. Europa braucht enge und flexible wirtschaftliche und kulturelle Kontakte auf der Basis des fremdherrschaftsfreien Tauschs. Europa braucht auch jenen Frieden, den es im Lauf der Jahrhunderte immer wieder selbst zerstört hat. Als Basis einer gemeinsamen Sicherheitspolitik genügt ein robustes Friedensbündnis gestützt auf nationale Streitkräfte, welche die Defensive sicherstellen und interne und allenfalls gegenseitig wieder aufflammende Aggressionsgelüste im Keim ersticken können und auf international vernetzten aber grundsätzlich autonom funktionierenden Geheimdiensten zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität.

Anstelle des unlesbaren Verfassungsvertrags von Lissabon wäre ein kurzes Dokument wie die Magna Charta Libertatum oder der Bundesbrief der alten Eidgenossen in Erwägung zu ziehen. Freihandel entsteht nicht durch neue komplizierte bilaterale und multilaterale Regeln, sondern durch den von den Beteiligten selbstbestimmten, im eigenen Interesse offerierten und vollzogenen schrittweisen Abbau bestehender Schranken.

 

Photo: Klaus Pagel from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Die Vorschläge des britischen Premiers David Cameron zur Reform der Europäischen Union sind ambitioniert, nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich. Zeitlich deshalb, weil er bereits in den ersten Monaten des kommenden Jahres Ergebnisse präsentieren muss, damit er möglichst noch 2016 die Wähler über den Verbleib Großbritanniens in der EU abstimmen lassen kann. Zwar hätte er Zeit bis Ende 2017, jedoch wollen die Briten vor der wichtigen Präsidentschaftswahl in Frankreich und vor der Bundestagswahl in Deutschland zu Potte kommen.

Schon deshalb ist zu befürchten, dass der große Wurf bei den Verhandlungen ausbleibt. Das wäre sehr schade. Ein großer Wurf täte der EU eigentlich sehr gut. Ihre Krise ist nicht in erster Linie eine Flüchtlings- oder Euroschulden-Krise, sondern das Fehlen eines Ordnungsrahmens. Es ist die brüchige Architektur, die das Haus Europa ins Wanken bringt.

Die Europäische Union ist wie ein Mehrfamilienhaus. Das Fundament des Hauses ist eigentlich ganz solide und stabil. Dieses Fundament sind die Grundfreiheiten der Römischen Verträge: Freier Waren- und Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr und die Personenfreizügigkeit. In diesem Mehrfamilienhaus gibt es viele Wohnungen, kleine und große. Was die Eigentümer der Wohnungen nicht alleine erledigen können, wird gemeinschaftlich gemacht. Gemeinsam finanziert man daher eine Hausverwaltung.

Seit dem Bau des Mehrfamilienhauses ist es mehrfach umgebaut und erweitert worden. Neue Eigentümer sind eingezogen und die Hausverwaltung, die ursprünglich nur in einem kleinen Zimmer im Dachgeschoss untergebracht war, hat inzwischen mehrere Etagen in Besitz genommen. Vor einigen Jahren klopfte der Eigentümer einer kleineren Wohnung auf der Südseite an die Tür und bat um Hilfe, da er die Kreditzinsen für die Eigentumswohnung nicht mehr bezahlen konnte. Die übrigen Mieter steckten die Köpfe zusammen und beschlossen, ihm solidarisch zu helfen. Immerhin wohnt man ja im selben Haus. Doch nachdem dem einen geholfen wurde, kamen weitere und baten um Hilfe. Irgendwann hatten 15 der 28 Eigentümer das gleiche Problem oder befürchteten, dass sie bald in die gleiche Situation kämen und beschlossen mehrheitlich, dass die verbliebenen 13 die Kreditzinsen aller zu bezahlen hätten. So ähnlich ist die Situation in der Eigentümergemeinschaft der Europäischen Union. Die Eigentümer sind in unserem Beispiel die Mitgliedsstaaten und die Hausverwaltung die EU-Kommission.

Jetzt kommt der Wohnungseigentümer, der im westlichen Pavillon lebt, auf die Idee, dass er nicht mehr zu den 13 Zahlern gehören will, der die 15 anderen finanziert. Er droht mit Auszug und befragt seine Familienmitglieder. Der Gruppe der 15 ist es egal, ob der Exot im Pavillon auszieht oder nicht. Sie hoffen darauf dass die verbleibenden 12 Finanzierer den Wert der Wohngemeinschaft höher einschätzen als deren Verfall. Der Bewohner des Pavillons war eh derjenige, der am wenigsten solidarisch war. Er wollte immer eine Extrawurst. Soll er doch gehen und schauen, was er davon hat.

So ist die Situation Großbritanniens in der EU. Man ist Nettozahler, aber ungeliebt, weil man sich immer wieder Sonderrechte herausnimmt, sei es die Einschränkung der Personenfreizügigkeit, den Britenrabatt oder die Euro-Abstinenz. Berühmt ist deshalb der Satz der legendären britischen Premierministerin Margaret Thatcher, die 1984 in Richtung Brüssel rief: „I want my money back“, als es um die Finanzierung des EU-Subventionen für die europäische Landwirtschaft ging. Die Eiserne Lady sah nicht ein, das der britische Steuerzahler für die großzügigen „Eigentumswohnungen“ der anderen in Europa bezahlen sollte. Sie hat damit viel mehr als andere den Geist der Römischen Verträge durchdrungen. Die Grundfreiheiten der Römischen Verträge sind gerade nicht das Einfallstor für Umverteilung und Subventionen, sondern basieren auf individuelle Entscheidungen von Einzelnen, die mal richtig liegen und mal falsch. Doch Entscheidungen werden individuell verantwortet und nicht, kollektiviert, sobald Probleme auftauchen.

Deshalb ist das kurze Zeitfenster bis zum Referendum der Briten eine historische Chance, die Architektur der EU neu aufzusetzen. Das Prometheus-Institut hat dazu vor einer Woche in der FAZ Vorschläge für ein konföderales Europa gemacht. Wir wollen damit eine grundsätzliche Diskussion in ganz Europa beginnen, die über das Jetzt hinausgeht. Diese Vorschläge bauen auf der großen Tradition liberaler Denker in Europa auf. Bereits 1993 haben liberale Think Tanks und Wissenschaftler aus ganz Europa institutionelle Reformvorschläge in der European Constitutional Group gemacht, die auch mehr als 20 Jahre später ihre Richtigkeit nicht verloren haben.

Der eine oder andere wird meinen, dass das doch zu abstrakt sei, dass uns aktuell doch ganz andere Probleme bewegen. Wer das meint, verkennt, dass die derzeitigen Probleme bei der gemeinsamen Währung oder im Schengen Raum ihre Ursachen im falschen oder unzureichenden Ordnungsrahmen haben. Wenn wir das Haus Europa auch auf die Zukunft hin zu einem belastbaren Bau machen wollen, müssen wir es grundsanieren und können uns nicht damit abfinden, kleine Renovierungsarbeiten vorzunehmen.