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Photo: Thorsten Krienke from Flickr

Morgen ist es wieder da: Das Tanzverbot. Ein guter Anlass, sich einmal wieder der Frage des Verhältnisses zwischen freiheitlichem Rechtsstaat und Religion zu widmen.

Vom Brauch zum Gesetz

Es gibt, von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, eine ganze Reihe an Tagen, an denen Tanzveranstaltungen oder sportliche Großereignisse nicht erlaubt sind. Während vor allem die Stadtstaaten Regelungen haben, die möglichst wenig restriktiv sind, sind in traditioneller geprägten Ländern eher strenge Regeln anzutreffen. Am gravierendsten übrigens nicht etwa in Bayern, sondern in Hessen.

Entstanden sind diese Vorschriften in einer Zeit, in der Kirchen in Deutschland noch eine wesentlich gewichtigere Rolle im Leben der Bürger gespielt haben. Die allermeisten Bürger gingen vor einem Jahrhundert noch am Karfreitag in die Kirche und befolgten die Tradition, diesen Tag in Stille und Andacht zu begehen. Gerade die traditionelle Staatsnähe der evangelischen Kirchen führte dazu, dass derlei Traditionen im Zweifel auch ohne gesetzliche Grundlage mit staatlicher Autorität durchgesetzt wurden. Wenn es am Abend des Feiertages in einer Kneipe zu munter wurde, kreuzte mitunter auch mal der Schutzmann auf und sorgte für Ruhe und Ordnung. Mit der Weimarer Verfassung von 1919 wurden dann gesetzliche Feiertage eingeführt mit allen strafrechtlichen Konsequenzen.

Religion als Privatsache: Fundament moderner, freiheitlicher und offener Gesellschaften

Das sehr ambivalente Verhältnis von Staat und Religion hat in der Geschichte der Menschheit lange eine zentrale Rolle gespielt. Mal dient Religion der Legitimation von Herrschaft vom antiken Rom über die Kalifen bis zu „Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser“. Religion ist aber zugleich auch ein Hort der Machtkritik: Die Propheten im alten Israel, die Quaker im Großbritannien des 17. und 18. Jahrhunderts, der antikommunistische Widerstand in Polen, Litauen und Ungarn. Religion als Privatsache zu betrachten, ist das Fundament moderner, freiheitlicher und offener Gesellschaften. Diese Überzeugung steht am Beginn unseres Verständnisses von Toleranz, Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung, ist mithin die Wurzel des Individualismus.

Ein Staat, der sich der Religion bedient, maßt sich die absolute Herrschaft über den Menschen an, er dringt bis in seinen Kopf und sein Herz vor. Er kann seine Bürger manipulieren, indem er an deren innerste und tiefste Gefühle appelliert. Und natürlich gibt es auch die umgekehrte Situation. Das führt uns ja mit entsetzlicher Brutalität gerade der „Islamische Staat“ vor Augen: Eine religiöse Bewegung, die mit den Machtmitteln weltlicher Herrschaft ausgestattet ist, wird ebenso absolutistisch und gewaltsam wie ein Staat, der Religion benutzt. Gefahr droht überall dort, wo das Emotionale und Persönliche, das sich in der jeweiligen religiösen Überzeugung ausdrückt, verbindet mit den Instrumenten der Macht. Damit Macht beschränkt und Freiheit gewahrt wird, ist es unerlässlich, dass die Ordnung eines Gemeinwesens nach abstrakten Regeln und Maßstäben abläuft.

Geschmacksfragen sind kein Fall für das Recht

Das Tanzverbot ist keine substantielle Bedrohung individueller Freiheit. Und angesichts der stetig abnehmenden Religiosität ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass der Einfluss von Religionsgemeinschaften eher weiter abnehmen wird. Dennoch ist es natürlich eine Freiheitseinschränkung für viele Menschen, die mit abstrakten Regeln nicht vereinbar ist. Sie kommt lediglich dem Geschmack oder den Überzeugungen des religiösen Teils der Bevölkerung entgegen. Ähnlich übrigens wie die staatliche Ehe.

Man könnte durchaus die abstrakte Regel des Rechts auf freie Religionsausübung so auslegen, dass während eines Karfreitagsgottesdienstes kein Techno Rave unmittelbar vor der Kirche stattfinden sollte. So wie man keine Grillpartys auf dem Friedhof veranstaltet. Das Tanzverbot geht freilich weit darüber hinaus. Es verpflichtet alle Bürger darauf, den Geschmack und die Überzeugung eines Teiles der Bevölkerung zum eigenen Verhaltensmaßstab zu machen. Das ist im Übrigen nicht nur unvereinbar mit einem freiheitlichen Rechtsstaat, sondern trägt auch nicht gerade zum Sympathiegewinn für die Kirchen bei.

Das Verhältnis von Staat und Religion wieder auf den Prüfstand stellen

Es würde den Vertretern der verschiedenen Kirchen in Deutschland sehr gut zu Gesichte stehen, wenn sie sich auch für eine Aufhebung des Tanzverbots am Karfreitag und anderen kirchlichen Feiertagen einsetzen würden. Ganz im Sinne dessen, was Papst Benedikt XVI. vor fünf Jahren in Freiburg sagte: „Die von ihrer materiellen und politischen Last befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“

Es ist, gerade auch angesichts der Bedrohung durch einen politisierten Islam, höchste Zeit, das Verhältnis von Religion und Staat auf eine solide Basis zu stellen, die konsistent ist mit dem freiheitlichen Rechtsstaat. So wenig dieser einen Menschen an seiner Religionsausübung hindern darf, so wenig darf er auch religiöse Überzeugungen durchsetzen. Tanzverbote, staatliche Definitionen von Ehe, staatlich geförderter Religionsunterricht und ähnliche Maßnahmen gehören auf den Prüfstand und in die öffentliche Debatte.

Tanz am Kreuz statt Tanz gegen das Kreuz

Den gläubigen Christen, denen die Heiligkeit des Karfreitags am Herzen lieg, mag ein Lied des englischen Dichters Sydney Carter zu ein wenig Tanztoleranz verhelfen, der Jesus diese Worte in den Mund legt:

I danced on a Friday when the world turned black.
It’s hard to dance with the devil on your back.
They buried my body they thought I was gone,
But I am the dance, and the dance goes on.

Dance, dance wherever you may be.
I am the Lord of the dance, said he.
And I lead you all wherever you may be,
And I lead you all in the dance said he.

Trends kommen oft von der Insel. Der mechanische Webstuhl zu Beginn der industriellen Revolution, das Sandwich im 18. Jahrhundert und packende Agententhriller à la James Bond waren es in den 1950er Jahren. Jetzt kommt ein neuer Trend aus Großbritannien: die Strafsteuer auf Limonade. „Ein fünf Jahre altes Kind nimmt heute jährlich so viel Zucker zu sich wie es selbst wiegt“, zitiert die FAZ den britischen Finanzminister George Osborne.

Osborne rechnet mit Einnahmen von 660 Millionen Euro aus der Steuer und will damit den Sportunterricht an Schulen fördern. Wahrscheinlich mit dem Ziel, dass die einstige Weltmacht zumindest im Sport wieder auf das Treppchen kommt. Im ewigen Medaillenspiegel der Olympischen Spiel nimmt der Inselstaat derzeit nur einen undankbaren vierten Platz ein. Deshalb ist „Saufen für Olympia“ die Flucht nach vorne für die britische Regierung. Der legendäre britische Premierminister Winston Churchill dreht sich im Grabe um. War doch sein Lebensmotto: no sports.

Die Maßnahme passt aber in den allgemeinen Trend, der wiederum auch von Großbritannien ausgeht. Die britische Regierung war die erste, die verhaltensökonomische Gesichtspunkte in das Regierungshandeln aufgenommen hat. Eine „Nudge Unit“ von Experten berät seit einigen Jahren die Londoner Regierung, wie die Briten zu „richtigem“ Verhalten erzogen werden können. In dieser Woche war der „Nudging-Papst“ Cass Sunstein von der Harvard University bei einer Tagung der Humboldt-Uni in Berlin. Im Rahmen dieser Tagung wurde ausführlich über die Möglichkeiten des „Anstupsens“ und der Verhaltensbeeinflussung der Bürger diskutiert.

Die Verbindung von Big Data und Nudging war dabei ein wichtiges Thema. Kann man die vielen Daten, die der Staat über seine Bürger gesammelt hat, nicht auch für die Verhaltensänderung im Sinne des Regierung nutzen? Die Beeinflussung könnte so viel zielgenauer und damit effizienter sein. Für freiheitsliebende Menschen klingt dies nach einer Horrorvorstellung. Doch so weit sind wir davon nicht mehr entfernt. Auf der gerade stattfindenden Cebit in Hannover wurde ein Chip vorgestellt, der buchstäblich unter die Haut geht, weil er dort implantiert wird. Er macht künftig Haustür- und Autoschlüssel überflüssig, weil Schlösser damit die Nutzungsberechtigung überprüfen können. Wahrscheinlich ist dann irgendwann auch wie beim Smartphone eine „Suchfunktion“ hinterlegt, falls man verloren geht.

Doch wer garantiert dem Bürger, dass dies nur zu seinem Wohle geschieht? Und was ist richtig oder falsch, was ist gesund oder ungesund für den Bürger? Gibt es hier eindeutige Antworten? Diese Anmaßung von Wissen, die sich Experten im Auftrag einer Regierung zu eigen machen, hat niemand.  Eigentlich brauchen wir nicht eine Verhaltensänderung der Bürger, sondern eine Verhaltensänderung der Regierung! Sie muss den Einzelnen wieder ernst nehmen, ihn nicht zu vermeintlich gutem Verhalten erziehen wollen. Der Nanny-Staat ist das Gegenteil einer offenen Gesellschaft. Er vernichtet Freiheit.

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Photo: Gage Skidmore from Flickr

Die Vorwahlen zur Bestimmung der Präsidentschaftskandidaten in den USA sorgen mal wieder auf dem ganzen Globus für Schlagzeilen. Neben den Damen und Herren, die oft in den Medien präsent sind, gibt es auch einen sehr spannenden Außenseiter: Wer ist dieser Gary Johnson?

Republikaner: Das Überleben der Rabauken

Insbesondere die Vorwahlen bei den Republikanern erregen große Aufmerksamkeit, weil das Kandidatenfeld nicht nur erheblich größer ist als bei den Demokraten, sondern auch ein ganzes Stück volatiler. Hinzu kommt noch der Unterhaltungsfaktor: Donald Trump sorgt weltweit für Erstaunen, Entsetzen, Kopfschütteln und ungläubige Heiterkeit, dass selbst ein Berlusconi neidisch werden muss. Eine Zeit lang sah es so aus, als ob der konsequent liberale Senator Rand Paul gute Chancen haben könne. Dieser Streiter für einen schlanken Staat, Ausgabendisziplin und Zurückhaltung bei staatlicher Überwachung und Militäreinsätzen hätte den USA sicher guttun können. In den letzten Monaten ist er inmitten eines zunehmend schrillen Wahlkampfs und vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise und der Bedrohungen durch den Terror leider zunehmend zwischen die Fronten geraten. Nach den ersten Vorwahlen in Iowa hat er seine Kandidatur zurückgezogen.

Diejenigen Republikaner, die übriggeblieben sind, stimmen nicht gerade hoffnungsfroh: Die meisten von ihnen sind geneigt, eine robuste Außenpolitik zu betreiben – dazu gehört dann in der Regel auch komplementär eine Neigung zum Überwachungsstaat. Überhaupt ist individuelle Freiheit für die meisten von ihnen kein Herzensanliegen. In rein ökonomischer Hinsicht finden sich bei ihnen in der Regel freiheitsfördernde Ideen, die in Richtung Steuersenkungen und Deregulierungen weisen. Allerdings sind die Spielräume der Präsidenten auf diesem Gebiet traditionell ohnehin eher eingeschränkt, weil sie von den Mehrheitsverhältnissen in den beiden Kammern des Kongresses abhängig sind. Entscheidend für die politischen Entscheidungen sind dann ohnehin mehr Image und Rhetorik eines Kandidaten als die im Wahlkampf vorgetragenen Standpunkte. Und da sind die drei derzeitigen Top-Favoriten Cruz, Trump und Rubio allesamt nicht auf der zurückhaltenden und mithin freiheitlichen Seite.

Ein Überzeugunstäter

Ein ehemaliger Republikaner, der sich auch um die Präsidentschaft bewerben will, hat freilich in vielerlei Hinsicht eine sehr eindrucksvolle Bilanz vorzuweisen: Gary Johnson. Als Student finanzierte er sich als Gelegenheitsarbeiter. Die Firma, die er mit 23 gründete, war keine 20 Jahre später eine der größten Baufirmen in seiner Heimat New Mexiko. Mit Anfang 40 wurde der Politikneuling 1995 mit dem Wahlkampfmotto „People before politics“ auf Anhieb zum Gouverneur von New Mexiko gewählt – und zwar mit sehr deutlicher Mehrheit in einem Staat, in dem die Demokraten traditionell sehr stark sind. In den ersten sechs Monaten im Amt hat er aus der festen Überzeugung heraus, dass man Probleme nur selten durch staatliche Intervention lösen kann, 200 von 424 Gesetzesinitiativen durch sein Veto blockiert. Am Ende hatte er 750 von Demokraten wie von Republikanern eingebrachte Gesetze abgewiesen, und damit mehr als all seine 49 Kollegen zusammen. Beständig und erfolgreich arbeitete er daran, Staatsausgaben und Staatsaufgaben zu reduzieren.

Nach seiner sehr klaren Wiederwahl 1999 versuchte er, ein System von Schulgutscheinen durchzubringen, um die Bildungsprobleme in seinem Staat in den Griff zu bekommen, der zu den ärmsten der USA zählt. Die demokratische Mehrheit in den beiden Kammern des Staates haben dieses Vorhaben jedoch verhindert. Schon damals, als das Thema noch bei weitem nicht so prominent war wie heute, sprach er sich klar für eine Legalisierung von Marihuana aus und dafür, den Krieg gegen die Drogen durch mehr Prävention und Betreuung Suchtkranker zu ersetzen. Parteiübergreifend wurde sein Krisenmanagement bei einem desaströsen Flächenbrand in den höchsten Tönen gelobt, der den Staat 2000 heimsuchte. Am Ende seiner Amtszeit war der Staat nicht nur substantiell verschlankt, sondern konnte im Haushalt einen Überschuss von 1 Milliarden Dollar vorweisen.

Konsequent freiheitliche Politik

Nach seiner Amtszeit widmete sich der begeisterte Sportler wieder intensiver seinem Ehrgeiz auf diesem Gebiet, nahm an Marathons, Triathlons und Fahrradrennen teil und bestieg die höchsten Berge der sieben Kontinente. Natürlich ließ ihn auch seine Unternehmerleidenschaft nicht los – jetzt in Verbindung mit seinen politischen Überzeugungen: 2009 gründete er die „Our America Initiative“, um seine Ideen weiter zu verbreiten. Zu den Grundanliegen dieser Denkfabrik gehören in seinen Worten „eine effiziente Regierung, Steuererleichterungen, ein Ende des Kriegs gegen die Drogen, der Schutz bürgerlicher Freiheiten und die Förderung von Unternehmertum“. Er engagierte sich auch bereits sehr früh bei der freiheitlichen Studentenorganisation „Students for Liberty“, die in den vergangenen Jahren zu einem großen weltweiten Netzwerk angewachsen ist.

2011 kündigte er an, sich um die Präsidentschaftskandidatur bei den Republikanern zu bewerben, zog die Kandidatur jedoch einige Monate später zurück und ließ sich stattdessen für die Libertarian Party aufstellen, die für eine konsequent freiheitliche Politik eintritt. Bei der Wahl stimmten schließlich 1,3 Millionen Amerikaner für ihn. Vor einem Monat hat er nun angekündigt, auch bei der diesjährigen Wahl wieder für die Libertarian Party antreten zu wollen. Einer seiner innovativsten Vorschläge betrifft das Steuerrecht: An die Stelle aller Einkommens-, Körperschafts- und Kapitalertragssteuern soll eine FairTax treten. Diese Steuer soll mit einem Satz von 23 % auf alle Güter erhoben werden, die nicht lebensnotwendig sind. Ein entscheidender Pfeiler seiner Überzeugungen ist auch die hohe Skepsis gegenüber der US-Notenbank Fed, die er einer strengen Kontrolle durch das Parlament unterwerfen möchte.

Der Wind der Freiheit

Viele der Programme, die heute von der Regierung in Washington finanziert und organisiert werden, möchte er zurück auf die Ebene der einzelnen Bundesstaaten verlagern und somit auch einen Wettbewerb um die am besten funktionierenden Lösungen ermöglichen. Überhaupt sollen die Staaten seiner Meinung nach wieder mehr Verantwortlichkeiten übernehmen, dafür aber zugleich auch die Haftung tragen. Johnson ist ein erklärter Gegner militärischer Interventionen und würde das Militärbudget der Vereinigten Staaten radikal um über 40 % kürzen wollen. Auch auf dem Gebiet staatlicher Überwachung tritt er für eine erheblich stärkere Zurückhaltung ein als sie derzeit in den USA geübt wird. Johnson ist ein Gegner der Todesstrafe, tritt für eine offene Migrationspolitik ein und ist der Überzeugung, dass es nicht Sache des Staates sein kann, zu definieren, was eine Ehe ist.

Selbst wenn die zwei extremsten Protagonisten der beiden großen Parteien, Donald Trump und Bernie Sanders, sich durchsetzen würden, hätte Gary Johnson wohl keine Chance auf das Amt. Dennoch ist sein Beitrag für die nächsten Jahrzehnte amerikanischer Politik von großer Bedeutung. Die Bewegung, für die er und Politiker wie die Senatoren Rand Paul und Jeff Flake und die Abgeordneten Justin Amash und Thomas Massie stehen, wächst beständig. Diese libertäre Bewegung, die für weniger Staat und mehr Eigenverantwortung steht, findet gerade unter jungen Menschen immer mehr Anklang. Ein Mann wie Gary Johnson gibt dieser Bewegung eine Stimme und ein Gesicht. Der weltweite Trend zu mehr Staat, befeuert von Linken wie von Rechten, wird eines nicht allzu fernen Tages einem Gegenwind ausgesetzt sein, dem er sich letztlich nicht wird widersetzen können. Denn dieser Wind der Freiheit hat schon zu allen Zeiten die Menschen stärker bewegen können als die Last, die aus den süßen Verlockungen der Linken und Rechten erwächst.

 

Photo: Andrew Gomzyakov from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Wer sich mit Politik beschäftigt, ob professionell oder amateurhaft, spekuliert oft nur zu gerne über die Motive politischer Akteure. Die Gefahr ist groß, dass einem die Phantasie dabei durchgeht und man das eigentliche Problem und seine Lösungsmöglichkeiten aus dem Blick verliert.

Die neoliberale Weltverschwörung

Als Margaret Thatcher zwischen 1979 und 1990 Politik und Ökonomie Großbritanniens einem radikalen Wandel unterwarf und massive Reformen durchführte, da sahen die allermeisten ihrer Kritiker eine neoliberale Verschwörung am Werk. Ausbeuterische Großkonzerne und deren Helfershelfer in der Politik wollten in dieser Erzählung die Arbeiter ausplündern und das ganze Land zurück in die finsteren Zeiten des 19. Jahrhunderts katapultieren. Wer sich etwas eingehender mit Thatcher beschäftigt, wird sich ein sehr anderes Bild machen müssen. Zumindest in der Außendarstellung und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch in ihrer Selbstwahrnehmung sah das ganz anders aus. In einer Rede, die sie 1977 in Zürich hielt, sagte sie:

„In unserer Weltsicht ist das Ziel des Einzelnen nicht, ein Diener des Staates und von dessen Zielen zu sein, sondern seine Talente und Begabungen so gut wie möglich zu entfalten. Das Gefühl der Selbständigkeit, eine Rolle zu spielen innerhalb einer Familie, selber Eigentum zu besitzen, für sein eigenes Leben aufzukommen – all das ist Teil des spirituellen Gewichts, das die Verantwortlichkeit der Bürger erhält. Und es stellt das solide Fundament bereit, von dem aus Menschen um sich blicken könne, um zu erkennen, was sie darüber hinaus noch tun können: für andere und für sich selbst. Das meine ich mit einer moralischen Gesellschaft. Nicht eine Gesellschaft, wo der Staat für alles Verantwortung trägt und keiner für das Gemeinwesen.“

Tatort-Kommissare auf heißer Spur

Wer von vornherein bereits „weiß“, dass Thatcher Teil der neoliberalen Weltverschwörung ist, der wird auch diese Worte für eine glatte Lüge halten, obwohl sie die Freiheit des einzelnen ebenso hochhalten wie die Forderung nach einem Gefühl gegenseitiger Verantwortlichkeit. Dieses Wissen über die Motive von Akteuren ist wahrlich eindrucksvoll. Der Wissende scheint bisweilen einen tieferen Einblick zu haben als andere Menschen. Er weiß, dass Großkonzerne TTIP nutzen, um uns ihre lebensgefährlichen Produkte und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen aufzudrücken. Er weiß, dass Angela Merkel mit ihren einwanderungspolitischen Entscheidungen Deutschland islamisieren möchte. Und er weiß – mitunter zeitigt die Motivjagd unbeabsichtigt Satire –, dass die EU den ganzen Kontinent ihrer neoliberalen Agenda zu unterwerfen trachtet.

Woher rührt dieses Bedürfnis, Politik wie einen Sonntagabend-Tatort zu behandeln, bei dem die Suche nach dem Motiv den Ermittlern des nachts den Schlaf raubt? Wahrscheinlich sind unterschiedliche Faktoren dafür verantwortlich: Die Liebe zum Drama und zur gut erzählten Geschichte, die den Menschen immer schon fasziniert hat – von Homer bis „House of Cards“. Die Beobachtung, dass Politiker ja tatsächlich nicht immer Vorreiter an der Wahrhaftigkeitsfront sind, und das (durchaus sehr nachvollziehbare) Gefühl einer Entfremdung von der Politik. Und nicht zuletzt das dringende Bedürfnis, ein überschaubares Weltbild zu haben, das man selber immer gut unter Kontrolle hat. Denn indem man über das Motiv eines Akteurs spekuliert oder gar behauptet, es zu kennen, sichert man sich die Deutungshoheit und überkommt das Gefühl der Ohnmacht, das einen angesichts politischer Entscheidungen und Entwicklungen zuweilen überkommen kann.

Die Suche nach dem Motiv als Ersatzhandlung für echtes Engagement

Dabei ist die Motivsuche in sehr vielen Fällen kaum wirklich möglich. Wer wirklich finstere Motive hat, wird diese oft genug selbst vor den engsten Vertrauten verschleiern. Da jeder Mensch gerne gut dastehen möchte vor anderen und auch vor sich selbst, werden auch die allermeisten für sich in Anspruch nehmen, nur aus ganz und gar hehren Motiven heraus zu handeln. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Menschen handeln ja in den meisten Fällen aus mehreren unterschiedlichen Motiven: da sind solche, die man als altruistisch bezeichnen würde, ebenso vertreten wie solche, die die Brandmarke „egoistisch“ tragen. Darüber hinaus sind die Handlungen von politischen Akteuren häufig abhängig von vielen anderen Faktoren. Pfadabhängigkeiten spielen eine herausragende Rolle. Aber auch Verpflichtungen gegenüber anderen Akteuren, taktische Entscheidungen und auch der reine Zufall beeinflussen das Handeln (und das Denken) der Entscheidungsträger.

Wer sich zu intensiv damit beschäftigt, in der Politik Muster aus Macbeth oder „Verbotener Liebe“ zu identifizieren, gerät leicht in Gefahr, sich in seiner Phantasiewelt zu verlieren. Die Suche nach dem Motiv kann zu einer Ersatzhandlung für echtes Engagement werden. Viel wichtiger ist die Beschäftigung mit den tatsächlichen Folgen und Auswirkungen der politischen Entscheidungen. Ganz egal, ob man die Einführung des Mindestlohns für fatal hält, Waffenexporte ablehnt oder Deregulierung für Teufelswerk ansieht – Einsicht in die Motive der Urheber würde einen keinen Schritt weiterbringen. Was aber leicht passiert, wenn solche Motive vermeintlich identifiziert werden, ist eine massive Vergiftung der Atmosphäre. Als Margaret Thatcher vor drei Jahren starb, gab es tatsächlich Freudentänze auf den Straßen in Großbritannien. Den Motivjägern in allen Parteien ins Stammbuch: In der Realität zählt nicht, warum jemand etwas tut, sondern was er tut und welche Folgen das hat. Wer sich darauf konzentriert, hat nicht nur die reelle Chance, etwas zu verändern, sondern trägt auch dazu bei, den zivilisierten Rahmen des politischen Diskurses zu bewahren.

Photo: big-ashb from flickr (CC BY 2.0)

In diesen Tagen der europäischen Krise werden wieder die europäischen Werte beschworen. Europa sei eine Wertegemeinschaft, betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel neulich im Parlament der Europäischen Union. Merkel bezog diese floskelhafte Aussage auf die Flüchtlingskrise. Sie forderte, Europa müsse sich an Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, der Achtung von Minderheiten und Solidarität orientieren.

Kampf um Werte in Europa – banalisiert

Zweifelsohne sind dies wichtige Werte, die Europa historisch verbinden. Es waren spanische Dominikaner, die im 16. Jahrhundert beim Anblick der Unterdrückung der Bevölkerung in Mittel- und Südamerika die Menschenwürde als universelles Grundrecht gegenüber dem spanischen König einforderten. Es war im 13. Jahrhundert die Magna Charta, die die Willkür des englischen Königs beschnitt und den Weg zum Rechtsstaat bahnte. Schon im 16. Jahrhundert wurden die Werte Toleranz und Achtung von Minderheiten eindrücklich verwirklicht, als etwa das Königreich Polen-Litauen verfolgten Protestanten aus ganz Europa eine neue Heimat gab. Und es war der als Sankt Martin verehrte Bischof von Tours, der im 4. Jahrhundert seinen Mantel aus freien Stücken mit einem Bettler am Wegesrand geteilt hat.

Ob Angela Merkel wohl an diese historischen Ereignisse gedacht hat? Es spricht nicht viel dafür. Doch da ist sie nicht alleine. Heute werden die Werte Europas umgedeutet und in Sonntagsreden banalisiert. In der real existierenden Europäischen Union wird unter Menschenwürde der Beschäftigung vernichtende Mindestlohn und unter Rechtsstaatlichkeit die Vertragsbrüche von Maastricht und Dublin verstanden, unter Toleranz die Regulierung von Kerzen, Ölkännchen und Glühbirnen, unter der Achtung von Minderheiten die Förderung der Nomenklatura in Brüssel und unter Solidarität die Rettung europäischer Banken. Die europäische Wertegemeinschaft ist ein Wieselwort. Erst durch konkrete Institutionen werden abstrakte Werte real und fassbar.

Die Trennung von Kirche und Staat, Marktwirtschaft, individuelle Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie sind Institutionen, die diese Werte Wirklichkeit werden lassen. Die Trennung von Kirche und Staat ist das Ergebnis eines über Jahrhunderte ausgetragenen Machtkampfes zwischen den Kirchen und den weltlichen Herrschern. Der Drang der Kaiser und Könige, sich in innerkirchliche Belange einzumischen, und das Ansinnen der Päpste und Bischöfe, sich die weltlichen Herrscher zu ihren Untertanen zu machen, hat eine Machtbalance hervorgebracht, deren Ergebnis die tatsächliche Trennung der beiden Bereiche war. Anders als etwa in den meisten islamischen Staaten, die keine Trennung zwischen Religion und Staat kennen. Ein entscheidender Unterschied ist, dass in unseren Breitengraden das kirchliche Recht nicht über dem staatlichen Recht steht, sondern ihm untergeordnet ist. Zwar entstammt die europäische Rechtstradition auch dem kanonischen, also kirchlichem Recht, aber auch dies entstammt letztlich griechisch-römischer Rechtstradition.

Wachsende Kluft zwischen Werten und Institutionen

Die Marktwirtschaft und der Kapitalismus haben ihre Verankerung im Privateigentum und im Individualismus. Beides verdanken wir der schottischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, dessen prominentester Vertreter Adam Smith war. Einige wesentliche Erkenntnisse über deren Funktionieren haben sogar bereits die scholastischen Philosophen im 13. Jahrhundert und die Gelehrten der Schule von Salamanca im 16. Jahrhundert gewonnen und formuliert.

Die individuelle Freiheit folgt der Erkenntnis, dass nicht das Streben nach gemeinsamen Zielen eine freie und offene Gesellschaft ermöglicht, sondern, dass die größtmögliche Verwirklichung individueller Freiheit am Ende auch die Freiheit einer ganzen Gesellschaft mehrt.

Der Rechtsstaat sichert in der Tradition eines Immanuel Kant die Gleichheit vor dem Gesetz. Sein kategorischer Imperativ: “Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde” hat nicht nur die europäische Verfassungsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert maßgeblich beeinflusst, sondern auch die amerikanische.

Das Aufbegehren gegenüber den Königen und Fürsten durch das Volk brachte letztlich auch die Demokratie hervor, deren Wurzeln wir in der Schweiz verorten können wie in Großbritannien, in den Niederlanden wie in Polen. Bald erkannte man, dass es nicht genügt, nur dem reinen Mehrheitsprinzip zu folgen, sondern, dass man Demokratie einhegen muss in einen Grundrechtskatalog, der das Individuum vor der Despotie der Mehrheit schützt. Heute wissen wir, dass Fortschritt darin besteht, dass die Wenigen die Vielen überzeugen. Neue Ideen treten zuerst bei Einzelnen auf, bevor sie zur Mehrheitsmeinung werden können.

Diese Institutionen entstammen einer europäischen Wertetradition, die längst vergessen scheint, weil Werte und Institutionen immer wieder auseinander klaffen. Sie wieder an das Tageslicht zu bringen, würde Europa helfen, seine Krise zu überwinden und der europäischen Wertegemeinschaft wieder einen Sinn zu geben.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Tichys Einblick.