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Photo: James Vaughan from Flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Die Werbung steht mal wieder im Fokus der Kritik. Die Alternative zu vermeintlich oder tatsächlich manipulativer Werbung ist jedoch nicht „Mutter Staat“, die ihre Kinder von allen Bedrohungen und Verlockungen abschirmt. Die Alternative ist der selbstbestimmte Bürger.

Wutbürger auf allen Seiten des politischen Spektrums

Im April dachte der Justizminister laut über ein Verbot sexistischer Werbung nach. In den vergangenen Tagen beschäftigt eine schlüpfrige Werbekampagne der Firma „true fruits Smoothies“ nicht mehr nur den Werberat und die Mitglieder der Wirtschaftsredaktionen, sondern inzwischen auch massenweise Feuilletonisten und Wortwitzkünstler. Und in der letzten Woche ließ sich das „Forum Rauchfrei“ eine Anzeige in der FAZ sportliche 33.000 € kosten, um ein „umgehendes Verbot der Außenwerbung für Tabakprodukte“ zu fordern. Hand in Hand, so könnte die Erzählung lauten, kämpfen Zivilgesellschaft und Politik gegen die übermächtige Interessenmacht der Industrie und ihrer Vermarkter. Die Realität sieht wohl anders aus.

Wutbürger finden sich mitnichten nur auf Pegida-Demonstrationen oder in den Wahlkabinen in Pforzheim und Greifswald. Es gibt sie in den verschiedensten Färbungen und Variationen. Den Wutbürger macht wesentlich aus, dass er sich einer Macht gegenübersieht, die ihn verkauft und verraten hat. Er kann sich kaum gegen sie wehren, weil sie größer und mächtiger ist als er. Aber er will es sich nicht mehr länger gefallen lassen. Darum erhebt er seine Stimme und wirft sich dem Gegner entgegen wie einst David dem Goliath. Im Falle der politisch nach rechts tendierenden Wutbürger sind die Gegner dann „die Eliten“ oder „die Meinungsmacher“. Der auf die linke Seite neigende Wutbürger sieht sich im Kampf gegen Großkonzerne und neoliberale Ausbeuter. Mehr Unterschied ist nicht.

Man muss sexistische Werbung nicht gut finden

Im Wut-Weltbild der Gegner des Neoliberalismus sind die „Gewinnmaximierer“ der Feind Nummer eins. Menschen, die nur nach ihrem eigenen Vorteil streben und das Wohl ihrer Mitmenschen auf dem Altar des Profits opfern. Die Begeisterung über die eigene moralische Erhabenheit in Verbindung mit fanatischem Eifer führt freilich oft dazu, dass Zusammenhänge falsch dargestellt, Ursache-Wirkungs-Ketten verkehrt und Verantwortlichkeiten durcheinandergenbracht werden. Wer das intensiv genug betreibt, wird im Laufe der Zeit immun gegen Argumente.

Nehmen wir sexistische Werbung. Es muss kein Ausweis von Spießigkeit sein, wenn man es als unangemessen empfindet, dass gewisse Zeitschriften auf jedem dritten Cover nackte Menschen abbilden, egal ob es beim Heft-Thema um Altersvorsorge, den Brexit oder das Dritte Reich geht. Man muss nicht prüde und verklemmt sein, um der Meinung zu sein, dass 10jährige Kinder nicht am laufenden Band mit unbekleideten Damen und Herren auf XXL-Plakaten konfrontiert werden müssen. Und man kann sogar der Organisation „Pinkstinks“, die Minister Maas bei seinem Vorschlag beraten hat, zustimmen, wenn sie beklagt, dass „Produkte, Werbe- und Medieninhalte … Kindern eine limitierende Geschlechterrolle zuweisen“.

Gesetz erlassen – Problem beseitigt

Aber man sollte genauer hinsehen. Der Slogan „sex sells“ beruht eben auch auf sehr deutlicher empirischer Evidenz. Das liegt nicht nur an den Verkäufern, sondern auch an den Käufern. Offenbar ist der Einsatz von erotischer Bebilderung ein erfolgreiches Mittel, um Käufer anzulocken. Die sehr niedrige Hemmschwelle beim Gebrauch von nackter Haut hat zudem auch damit zu tun, dass die Käufer geprägt sind von einer Gesellschaft, in der es nur noch wenige Tabus auf dem Gebiet der Sexualität gibt. In den Marketing- und Werbe-Agenturen sitzen mitnichten lauter Machos, die konsequent den Masterplan verfolgen, die komplette Verdinglichung von Frauen zu erreichen. Es sitzen dort vielmehr Kinder ihrer tabulosen Zeit, die versuchen, einen möglichst breiten Geschmack zu treffen und sich deshalb an den Wünschen unserer Mitbürger orientieren. Und so platt das auch klingen mag: Wenn sie es nicht machen würden, würden es andere machen.

Werbung zu verbieten, die mit Nacktheit, Sexualität oder festgeschriebenen Rollenbildern operiert, löst keine Probleme. Ja, es kann sogar den Effekt haben, dass man die Augen vor tatsächlichen Problemen und vor allem vor deren Ursachen verschließt. Die Logik „Gesetz erlassen – Problem beseitigt“ gleicht der Vorstellung kleiner Kinder, dass sie nicht gesehen werden, wenn sie sich die Hände vor die Augen halten. Einem herablassenden Frauenbild kann man nur mit langfristiger Bewusstseinsveränderung entgegenwirken. Eine solche Veränderung kann Jahrzehnte dauern – da „wirkt“ ein Gesetz natürlich schneller. Aber es bleibt bei einer rein äußerlichen Veränderung. Jenseits der Frage, ob ein Gesetz ein wirksames Mittel sein kann, ist natürlich vor allem auch die Frage bedeutsam, ob es ein legitimes Mittel sein kann. Dürfen wir Gesetze nutzen, um unserem mitunter durchaus berechtigen Unmut über Sexismus Luft zu machen?

Aus der Herrschaft des Rechts in eine Herrschaft der Gesetze?

In unserer und anderen Gesellschaften hat es tiefgreifende Veränderungen gegeben in den letzten Jahrzehnten: von der Frauenemanzipation bis zur bewussteren Ernährung, von einer Verbesserung der Aufstiegschancen bis zum friedlichen Miteinander von Menschen unterschiedlichster Herkunft. Dass es zu diesen Veränderungen gekommen ist, liegt an Frauen und Männern, die dafür geworben haben; die ihre Ideale hochgehalten haben, zum Teil gegen massiven Widerstand; die Beharrungsvermögen und ein dickes Fell mitgebracht haben. Wenn in diesen Bereichen mit Gesetzen gearbeitet wurde (z. B. Frauenquote, Nichtraucherschutz, Antidiskriminierung), dann kamen diese oft lange nachdem die Veränderung bereits stattgefunden hatte und hatten kaum noch Einfluss auf das Verhalten, geschweige denn die Einstellung der Menschen.

Die Wutbürger, die heute für Werbeverbote kämpfen, sollten dringend abrüsten. Eine freie und offene Gesellschaft muss auf anderem Wege verändert werden. Aufklärung, öffentlicher Diskurs, Überzeugungsarbeit – das sind die einzigen Mittel, deren man sich in einer freiheitlichen Demokratie bedienen darf, wenn man dem Grundgedanken des selbstbestimmten, mündigen Bürgers treu bleiben möchte. Andernfalls drohen wir, aus der Herrschaft des Rechts in eine Herrschaft der Gesetze zu rutschen – aus der Gerechtigkeit in die Willkür. Und es kann übrigens auch sehr gut sein, dass die meisten Menschen in unserem Land nicht so einfältig, willenlos und manipulierbar sind, wie die Werbeverbots-Wutbürger meinen …

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Wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, hat nicht unbedingt etwas mit unverständlichen Zahlen- und Buchstaben-Salaten zu tun. Für eine funktionierende Demokratie und Marktwirtschaft sind freilich Grundkenntnisse über Ökonomie unerlässlich.

Wirtschaft ist nicht nur etwas für Spezialisten

„Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen“, klagte vor anderthalb Jahren eine Schülerin auf Twitter und löste damit eine Diskussionslawine aus. Machen wir unsere Kinder in unserem Bildungssystem lebenstauglich genug? Brauchen wir mehr Wirtschaftsunterricht in der Schule? Und ganz speziell: Muss nicht vielleicht im Unterricht eine detaillierte und umfassende Vorbereitung auf die Herausforderungen der modernen Welt gewährleistet werden (Stichwort: „Steuern, Miete oder Versicherungen“)?

Gerade diese praktischen Fragen sind eigentlich mit einer Nachfrage bei den Eltern oder Freunden und im Zweifel fast immer mit einer Google-Suche zu lösen. Viel wichtiger und grundlegender als Steuererklärung und Mietvertrag sind aber eigentlich Grundkenntnisse darüber, wie der Markt funktioniert. Ist das nicht eher etwas für die Spezialisten, könnte man einwenden, für die Zeitungsleser und Politiker? Reicht es für den Normalbürger denn nicht, wenn er die Klippen des täglichen Lebens in Bürokratie und Geschäftswelt umschiffen kann? Nein, sicher nicht!

Wirtschaft: menschliches Handeln schlechthin

Beim Mietvertrag übers Ohr gehauen zu werden, kann sehr weh tun. Wochen mit der Steuererklärung zuzubringen, kann viele Nerven kosten. Die falsche Versicherung abgeschlossen zu haben, kann mitunter sogar ruinös sein. Sich in all diesen Fragen zu informieren und zu bilden, ist sehr wichtig. Aber es ist auch naheliegend. Gerade weil man unmittelbar von einer fehlerhaften Kaufvereinbarung betroffen sein kann, sehen viele Menschen da genau hin. Sie verwenden aber meist viel weniger Sorgfalt auf die Beurteilung wirtschaftlicher und politischer Zusammenhänge. Entweder aus einer grundfalschen Bescheidenheit heraus, aus Frustration oder schlicht aus Desinteresse.

Wirtschaft – das ist nicht eine Domäne, die nur von Großfürsten der DAX-Konzerne und ihren entsprechenden politischen Gegenspielern beherrscht wird. Wirtschaft – das ist auch nicht nur das, was schlaue Wissenschaftler sich ausdenken und in immer komplexere Formeln packen bis sie endlich den Nobelpreis in Händen halten. Wirtschaft – das ist zunächst einmal, wie der Ökonom Ludwig von Mises es formulierte, „menschliches Handeln schlechthin“. Unser ganzes Leben ist bestimmt von Handlungen, die wir mit einem bestimmten, von uns selbst gewählten Ziel ausführen. Die Logiken von Tausch, Arbeitsteilung und Unternehmertum bestimmen letztlich alle Bereiche unseres Lebens. Der Ökonomie-Nobelpreisträger Gary Becker hat in seinen Forschungen diese Logiken sogar auf Bereiche ausgedehnt, die mit Wirtschaft im Verständnis der meisten Menschen gar nichts zu tun haben wie etwa Familienstrukturen, Rassendiskriminierung und Drogenabhängigkeit.

Bildung schützt gegen Parolen und leere Versprechungen

So berechtigt die hochkomplexen Forschungen der Ökonomen auch sind, so kann man doch schon auf einem wesentlich einfacheren Niveau wirtschaftliches Geschehen verstehen. Der Verfasser selbst hat seine ersten ökonomischen Einsichten als Achtjähriger bei Bergwanderungen mit seinem Vater gewonnen, der ihm am Beispiel des Bonbonfabrikanten Tausch und Arbeitsteilung erklärte. Zentral ist das Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge vor allem aus zwei Gründen: Wirtschaftliches Handeln bestimmt und prägt unser ganzes Leben vom Kindergarten bis ins Altenheim. Wer es besser versteht, wird die Potentiale und Möglichkeiten, die sich ihm bieten, besser nutzen können. Und insbesondere ist es auch unverzichtbar, um als verantwortlicher Bürger in einem demokratischen Gemeinwesen Entscheidungen treffen zu können.

Populismus verfängt, weil viele Bürger darauf verzichten, sich in Bezug auf Wirtschaft zu bilden und zu informieren: Der Protektionismus von Trump und LePen genauso wie die Freihandels-Feindlichkeit von Attac und Campact. Aber auch schon im weniger extremen politischen Spektrum können nachhaltig schädliche Entscheidungen vor allem deswegen getroffen werden, weil die Einsicht in wirtschaftliche Zusammenhänge nicht weit genug verbreitet ist: von der Rettung Griechenlands in der Euro-Krise bis zur Mietpreisbremse. Wir brauchen für das Funktionieren unserer freiheitlichen Demokratie zwar nicht mehr promovierte Volkswirte. Aber wir brauchen Menschen, die einfach nur ihren gesunden Menschenverstand bewusst einsetzen, um keinen Parolen und leeren Versprechungen zum Opfer zu fallen.

Prometheus bietet Wirtschafts-Kurs für Schüler an

Es hat im Laufe der Geschichte der modernen freiheitlichen Demokratien immer wieder Menschen gegeben, die es geschafft haben, diese wirtschaftlichen Zusammenhänge allgemeinverständlich zu formulieren: Etwa Frédéric Bastiat im 19. Jahrhundert, Henry Hazlitt und Milton Friedman im 20. Jahrhundert und Johan Norberg in unserer Zeit. Zu diesen Vermittlern gehört auch Leonard Read, der Gründer der Foundation for Economic Education (FEE). Er verfasste 1958 die berühmte Kurzgeschichte „I, pencil“ – „Ich, der Bleistift“. Hier bekommt der Leser einen Einblick darein, wie ein Bleistift hergestellt wird, und vor allem, welches Ausmaß an Kooperation und Zusammenarbeit hinter einem so einfachen Gegenstand steckt.

Die Geschichte des Bleistifts greift auch der Kurs „Unsere Wirtschaft. Verständlich erklärt an einem Tag“ auf, der jungen Menschen auf spielerische Weise wirtschaftliches Grundverständnis nahebringen kann. Dieser Kurs wird von Prometheus ab heute zum kostenlosen Download zur Verfügung gestellt und ist der Beginn einer Serie, die wir unter „Prometheus Akademie“ anbieten werden. Konzipiert von Mitarbeitern der FEE haben wir den Kurs ins Deutsche übersetzt und entsprechend angepasst. Wir laden alle unsere Leser herzlich ein, sich den Kurs einmal anzusehen (sie finden ihn hier: https://prometheusinstitut.de/akademie/). Und besonders freuen wir uns natürlich, wenn Sie ihn weiterempfehlen an Lehrer und andere Personen, die sich in der Jugendarbeit engagieren!

Photo: Wikimedia Comons

Sechs Millionen Deutsche machten im vergangenen Jahr Urlaub in Polen. Zwei Millionen Polen und Polnisch-Stämmige leben dauerhaft in Deutschlands. Polen ist unser siebtwichtigster Handelspartner. Aber nur wenige wissen um die leuchtende Vergangenheit des Landes.

Eine Ausnahmeerscheinung in finsteren Zeiten

Entgegen der üblichen Wahrnehmung war das Mittelalter gar nicht eine so finstere Zeit. Dagegen war die darauffolgende frühe Neuzeit in einer Weise düster, die sich oft durchaus mit den finsteren Zeiten des 20. Jahrhunderts messen kann. Die Epoche zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert war in Europa geprägt von blutigen Glaubenskämpfen, von der zunehmenden Konzentration von Macht im Absolutismus und vom rasanten Wachstum des starken Staates. Inmitten dieser erstickenden Atmosphäre war die „Adelsrepublik Polen“ ein einzigartiges Phänomen, in dem jene Werte gedeihen konnten, die erst heute, etliche hundert Jahre später, in ganz Europa unser Selbstverständnis prägen.

Das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen bildeten bereits ab 1385 eine Personalunion. 1569 wurden die bisher gemeinsam regierten beiden Reiche in einer Realunion zusammengeführt. Gleichzeitig gab es eine massive Verfassungs-Revision, die aus dem neu entstandenen Reich ein Staatswesen mit beispielloser Freiheit machte. Das erbliche Königtum wurde abgeschafft zugunsten eines Wahlkönigtums. Damit einher ging eine deutliche Schwächung der Stellung des Königs, der mehr ein oberster Beamter war als ein klassischer Herrscher. Diese Entwicklung war dem absolutistischen Trend im Rest Europas diametral entgegengesetzt. (Ausnahmen bildeten nur noch die Vereinigten Niederlande und, mit Abstrichen, ab der „Glorious Revolution“ von 1688 auch Großbritannien.)

Demokratie und Toleranz

Gewählt wurde der König vom Adel sowie von Vertretern der freien Städte. Der Adel war freilich in Polen nicht eine kleine Elitenkaste. Ihm gehörten etwa 15 % der Bevölkerung an. Zum Vergleich: In Großbritannien, dem selbsterklärten „Mutterland der Demokratie“ durften erst nach der großen Reform von 1832 vergleichbar viele Bürger wählen. Die Adligen fanden sich alle zwei Jahre für sechs Wochen zusammen im Sejm, einem der ältesten Parlamente der Welt. Ausgestattet mit umfangreichen Veto-Möglichkeiten bestimmten sie über Gesetzgebung und Fiskalfragen sowie über außenpolitische Angelegenheiten. In der Zeit zwischen den Sejm-Sitzungen wachten 16 gewählte Senatoren darüber, dass der König sich an die Beschlüsse des Parlaments hielt. Außerdem gab es ein verbrieftes Recht zum Widerstand, sollte der König gegen „Recht, Freiheit, Privilegien und Gebräuche“ verstoßen.

Seit dem „Warschauer Religionsfrieden“ von 1573 gab es in der Republik auch garantierte Religionsfreiheit. In einer Zeit höchster Intoleranz zwischen den großen Konfessionen, gegenüber freikirchlichen „Sekten“ und „Ketzern“ und natürlich gegenüber Juden lebten in Polen Angehörige unterschiedlichster Konfessionen und Religionen friedlich zusammen: Katholiken, Protestanten, Orthodoxe, Juden und Muslime. Für viele verfolgte Anhänger protestantischer Freikirchen war Polen der einzige Zufluchtsort in Europa. Neben den religiösen Traditionen konnten sich auch kulturelle Eigenheiten in dem Vielvölkerstaat halten: Polen, Litauer, Ukrainer, Weißrussen, Esten, Letten, Slowaken, Ungarn, Moldauer, Juden, Deutsche, Armenier und Tataren fanden sich in einem föderalistisch organisierten Gemeinwesen zusammen.

Friedliche Koexistenz, wenn Macht begrenzt ist

Inmitten der zentralstaatlich organisierten, absolutistischen und kriegslüsternen europäischen Monarchien hatte es die Freiheitsinsel Polen-Litauen zunehmend schwer. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde es aufgerieben zwischen den Großmächten in der Umgebung: Russland, Preußen, Österreich und Schweden bedrohten es von außen und durch Intrigen auch von innen. Auch der Versuch einer Verfassungsreform im Jahr 1791, die das Land modernisieren und noch weiter demokratisieren sollte, konnte den Untergang nicht abwenden. Nachdem bereits bei der ersten Polnischen Teilung 1772 bedeutende Teile des Landes von Russland, Preußen und Österreich annektiert worden waren, verschwand der Staat 1793 bis 1795 vollständig von der Landkarte. Die als „Goldene Freiheit“ bezeichnete Epoche war unwiderruflich vorbei.

Die beispiellose Freiheit, die über 200 Jahre hinweg in Polen-Litauen herrschte, sollte uns heute viel stärker wieder ins Bewusstsein kommen. Gerade in einer Zeit, in der sich nach dem Brexit-Votum die Gewichte innerhalb der EU verschieben könnten. Und gerade in einer Zeit, in der in vielen Staaten des östlichen Europas die Traditionen der Toleranz und Offenheit einen schweren Stand haben. Die Geschichte der „Goldenen Freiheit“ kann uns Warnung und Inspiration zugleich sein: Die Warnung lautet, dass die Freiheit immer bedroht ist durch die Macht. Die Entwicklungen in Russland in den letzten Jahren und in der Türkei in der jüngsten Zeit darf Europa nicht ignorieren. Zugleich zeigt die Geschichte aber auch vorbildhaft, dass eine friedliche Koexistenz vieler unterschiedlicher Lebensentwürfe möglich ist – gerade dann, wenn Macht nicht zentralisiert und absolutistisch ist. Das sei insbesondere den Verantwortlichen in Brüssel ans Herz gelegt …

Der Philosoph Karl Popper, dessen Geburtstag sich gestern jährte, stellte schon 1958 in einem Vortrag zum Thema „Woran glaubt der Westen“ (und die Geschichte Polen-Litauens beweist: auch der Osten glaubt daran!) fest:

„Unser Stolz sollte es sein, dass wir nicht eine Idee haben, sondern viele Ideen; dass wir nicht einen Glauben haben, nicht eine Religion, sondern viele, gute und schlechte. Es ist ein Zeichen der überragenden Kraft des Westens, dass wir uns das leisten können. Die Einigung des Westens auf eine Idee, auf einen Glauben, auf eine Religion, wäre das Ende des Westens, unsere Kapitulation, unsere bedingungslose Unterwerfung unter die totalitäre Idee.“

Verletzte Polizisten, brennende Autos und bundesweite Aufmerksamkeit. Was die Hausbesetzer in der Rigaer Straße in Berlin und ihre Mitkämpfer veranstalten, kann es eigentlich nur in einem marktwirtschaftlichen System geben. Überall sonst würde gnadenlos niedergeknüppelt.

Perfide Selbstinszenierung als „Widerstand“

Im Internet feiern sich die Hausbesetzer der Rigaer Straße 94 als „Teil des radikalen Widerstandes gegen Verdrängung und Vertreibung“. Sie sprechen von „Belagerung“ und „polizeilicher Besetzung“ (privat scheint das in Ordnung zu gehen) und drohen, „Berlin ins Chaos zu stürzen“. Jeder, der halbwegs bei Sinnen ist, findet dieses groteske Schauspiel abstoßend. Die hass- und wuterfüllte Rhetorik und die sich daraus ergebende Gewalt unterscheidet sich nur in den Parolen und Feindbildern vom gewaltbereiten Rechtsradikalismus – phänotypisch sind sie sich zum Verwechseln ähnlich.

Widerstand – das ist ein schwerwiegendes Wort, gerade in dieser Stadt. Wenn der Berliner sich eine Vorstellung davon machen möchte, was Widerstand bedeutet, kann er in die Gedenkstätte Plötzensee fahren, wo die Nationalsozialisten im Akkord Widerstandskämpfer an Fleischerhaken gehängt haben (unter anderem auch einen früheren Bewohner des besetzten Hauses: Ernst Pahnke). Oder man kann nach Hohenschönhausen fahren, wo einem ehemalige Insassen des Stasi-Gefängnisses aus erster Hand die Zelle zeigen können, in der sie Jahrelang eingesperrt waren, weil sie einen Witz über Walter Ulbricht weitererzählt hatten. Widerstand – davon können die Menschen in Russland berichten oder in den sozialistischen Vorzeigestaaten Kuba und Venezuela.

In Venezuela wäre das Haus längst geräumt

Mit Widerstand hat das Treiben der Linksextremen rund um die Rigaer Straße nichts zu tun. Widerstand kann gegen ein Unrechtsregime nötig, vielleicht sogar geboten sein. Die Zeiten, in denen die Rigaer Straße auf dem Gebiet einer Diktatur liegt, sind allerdings seit 26 Jahren zum Glück vorüber. Das sollte auch den Hausbesetzern klar sein: Gerade erst haben sie vom Landgericht Berlin Recht bekommen mit ihrer Beschwerde gegen den letzten Versuch einer Zwangsräumung. Ein solcher Vorgang wäre vollkommen undenkbar in einem Unrechtsstaat. Seit Ende der 90er Jahre widersetzen sich Bewohner des Hauses einer Räumung. Welche venezolanische Polizei, welche Stasi-Einheit oder gar welcher kubanische oder nordkoreanische Funktionär hätte wohl einem solchen Treiben über anderthalb Jahrzehnte so geduldig zugesehen?

Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist die mit Abstand langmütigste und toleranteste Staatsform, die man sich denken kann. In keinem der von vielen dieser Linksradikalen so hochgejubelten sozialistischen Staat der Welt wäre ein solcher „Widerstand“ so lange geduldet worden – heute nicht und früher erst recht nicht. Dass die Besetzer und ihre Mitstreiter weder brutal niedergeknüppelt noch wochenlang ohne Prozess eingesperrt werden, liegt daran, dass wir in unserer Gesellschaft eine Kultur friedlicher Konfliktlösungen etabliert haben – mit Demokratie, Rechtsstaat und Offener Gesellschaft. Ein ganz wichtiges Fundament dieser Kultur ist jene Marktwirtschaft, die der Hauptfeind der Hausbesetzer ist.

Marktwirtschaft, Demokratie und Rechtsstaat bedingen sich

Die Marktwirtschaft als System hat sich erst im Laufe der letzten vier- bis fünfhundert Jahre etabliert. Die Vorstellung, dass man in größerer Dimension Handel treiben könne, ohne von politischen Autoritäten dabei gesteuert oder zumindest kontrolliert zu werden, hatte es natürlich schwer, sich gegenüber diesen Autoritäten durchzusetzen. Durchgesetzt hat sie sich aber ganz offensichtlich und zum Glück dann doch. Fast immer mit Kompromissen und Zugeständnissen – doch selbst die Autokraten Chinas haben inzwischen eingesehen, dass dieses System freiwilliger Kooperation einer Planwirtschaft offenbar überlegen ist. Mit der Einführung der Marktwirtschaft geht aber mehr einher als nur ökonomische Effizienz.

Grundsätzlich sind gewalttätige Konflikte für das Funktionieren des Marktes immer schädlich – Friedfertigkeit und gewaltfreie Konfliktlösung erhöhen signifikant die Profitmöglichkeiten aller Marktteilnehmer. Schon aus praktischen Gründen ist ein demokratisches System mit der Marktwirtschaft kompatibler als mit einer Planwirtschaft, der Gewalt oft als einziges Mittel bleibt, um den Plan durchzuführen. Auch der Rechtsstaat und die Marktwirtschaft bedingen einander: Marktprozesse profitieren in hohem Maße von Rechtssicherheit. Das Interesse, das die Marktakteure an dieser Rechtssicherheit haben, ist eine Lebensgarantie für den Rechtsstaat.

Die Zivilisation des Vertrauens

Und schließlich kann die Marktwirtschaft auch zu Friedfertigkeit und Toleranz erziehen und ein Motor der Offenen Gesellschaft sein. Die Marktwirtschaft ermöglicht es uns, aus der kleinen Gruppe unserer unmittelbaren familiären Umgebung herauszukommen. Nicht mehr die gemeinsame Arbeit der kleinen Gruppe garantiert unser Überleben, sondern der Austausch mit zunächst fremden Personen. Diese Tauschprozesse aber erzeugen ein ganz neues Vertrauen: aus dem Fremden, der meine Ressourcen bedroht, wird ein Partner. Diese Zivilisation des Vertrauens steht im krassen Gegensatz zu dem Misstrauen, das zwischen den Horden vor vielen Jahrtausenden herrschte; das die Epoche des Feudalismus und der Leibeigenschaft prägte; das im Absolutismus und Nationalismus der Neuzeit präsent war; und das bis in die jüngste Vergangenheit die Länder unter kommunistischer Herrschaft heimsuchte.

Die Verachtung, die die Hausbesetzer diesem „System“ entgegenbringen, ist beschämend. Sie verdanken es einzig diesem System, dass sie Gerichte anrufen können, Brandstifter einen ordentlichen Prozess erhalten und eine freie Presse ihnen eine Bühne bietet, die eigentlich die Freiwillige Feuerwehr oder ehrenamtliche Flüchtlingshelfer verdient hätten. Was für eine Ironie: All das verdanken sie nicht zuletzt der Marktwirtschaft.

Photo: Katrin Gilger from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Der britische Finanzminister George Osborne hat nach der Brexit-Entscheidung angekündigt, dass Großbritannien die Unternehmensteuern senken werde, um die Attraktivität des Standortes auf der Insel zu erhöhen. Schon sprechen die Ersten von Steuerdumping und einem Wettbewerb nach unten, der ruinös für die jeweiligen Staatsfinanzen sei.

Doch mit dem Vorstoß Osbornes wird ein wesentlicher Vorteil des Brexits für Großbritannien deutlich. Sie gewinnen erheblich an Souveränität hinzu. Gerade das war ein entscheidendes Argument der Brexit-Befürworter. Die bisherige Entwicklung in der EU geht seit Jahren in die entgegengesetzte Richtung. Dort hält man einen Systemwettbewerb für grundfalsch. Dort will man die Unterschiede in den Steuersystemen, in den Sozialsystemen und in der Fiskalpolitik nivellieren. Seit Jahren versucht die EU-Kommission als Vorstufe die Mehrwertsteuersätze zu harmonisieren und die Bemessungsgrundlage für die Unternehmensteuern anzugleichen, um später mit einheitlichen Steuersätzen gänzlich die Unterschiede abzuschaffen.

Als Begründung wird dafür gerne das Bild des Rosinenpickens verwandt. Dahinter steckt der Vorwurf, dass sich hier Einzelne zu Lasten der Solidargemeinschaft bereichern würden. Auch Angela Merkel verwendet dieses gängige Bild, wenn sie den Briten zuruft: „Wir werden sicherstellen, dass die Verhandlungen nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei geführt werden.“ Egal ob die Briten Mitglied der EU sind oder nicht, wollen sie in den Binnenmarkt exportieren, dann müssen sie die wettbewerbsfeindlichen Regeln akzeptieren, oder sie bleiben draußen vor der Tür. So die einfache Logik der Kanzlerin.

Deshalb stellt sich auch Jean-Claude Juncker nicht selbst in Frage, sondern zieht aus dem Brexit-Votum den Schluss, die Europäische Union müsse nun noch intensiver und noch schneller die Zentralisierung vorantreiben und die letzten Reste eines Wettbewerbs der Ideen beseitigen. Manche meinen schon, Juncker habe den Schuss nicht gehört. Aber vielleicht kann er auch nicht anders in seinem schwankenden Elfenbeinturm.

Doch der Wettbewerb der Systeme ist gut für alle Teilnehmer, denn Fehler werden viel früher erkannt als ohne ihn. Das Herausgreifen von Vorteilen und deren Stärkung ist ebenfalls gut und richtig. Auch hier findet ein Lernprozess aller anderen statt. Sie können sich plötzlich an den Besten orientieren und ihnen nacheifern. Plötzlich werden alle zu Rosinenpickern. Die Marktwirtschaft ist im Grunde eine Ordnung des Rosinenpickens. Jeder Unternehmer und jeder Kunde macht tagein tagaus nichts anderes, als Vorteile für sich zu suchen. Warum sollte in einer auf Freiwilligkeit basierenden Ordnung jemand von sich aus bewusst Chancen auslassen und dafür Strafen in Kauf nehmen? Gerade im Steuerrecht basiert vieles auch auf Tradition und Praktikabilität. Warum soll die Slowakei zum Beispiel unser kompliziertes Unternehmensteuerrecht übernehmen müssen? Dort gibt es eine andere Steuertradition als in Deutschland. Schon in Deutschland schaffen es die Finanzbehörden und erst Recht die Unternehmen nicht, das komplizierte Unternehmensteuerrecht zu administrieren. Wie wäre dies in der Slowakei, Rumänien oder Griechenland?

Rosinen picken ist gut und richtig. Aus dieser eigensinnigen Ordnung erwächst nämlich der Fortschritt. Denn Staaten zwingt dieser Systemwettbewerb zu Anpassungen, die sonst nie stattfinden würden. Der Systemwettbewerb diszipliniert den Staat in seinem sonst ungebremsten Wachstum. Denn anders als Unternehmen haben Regierungen und Staaten in der Regel keinen Konjunkturverlauf, der Umsätze steigen und mal wieder einbrechen lässt. Staaten und Regierungen können immer aus dem Vollen schöpfen. Ihre „Umsätze“, die Steuern, steigen von Jahr zu Jahr.

Wenn es schlecht läuft, stagnieren sie vielleicht mal, aber schon im nächsten Jahr steigen sie meist wieder. Deshalb unterliegen Regierungen und Staaten nur selten einem wirklichen Reformdruck. Und wenn dies doch mal der Fall ist, haben sich die Probleme über viele Jahre und Jahrzehnte aufgestaut und können dann häufig nicht mehr mit einfachen Korrekturen bewältigt werden. Die Situation Griechenlands, aber auch Italiens und Spaniens sind gute Beispiele dafür. Wer das Rosinenpicken verhindert, will letztlich, dass es allen gleich schlecht geht. Stattdessen ist es eine Hauptaufgabe des Wettbewerbs, zu zeigen, welche Pläne falsch sind. Osbornes Initiative für niedrige Steuern entfacht diesen Wettbewerb neu – vielleicht dann auch wieder in der Rest-EU. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Erstmals veröffentlicht bei Tichys Einblick.