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Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.

Es war zu erwarten, dass das Projekt einer europäischen Einlagensicherung nach der Bundestagswahl wiederbelebt werden würde. Auch Wolfgang Schäuble war ja schon vor der Wahl für diese Ideen aufgeschlossen gewesen. Er hatte lediglich darauf bestanden, dass die Zeit noch nicht reif sei und dass dafür eine Vertragsänderung nötig sei. Nun hat Peter Altmaier als geschäftsführender Finanzminister und ehemaliger Kommissionsbeamter das Entscheidungsverfahren in Gang gebracht. Er will einen „Fahrplan“ aufstellen. Bis zum Sommer wollen die Finanzminister der Eurozone die Bedingungen festlegen, unter denen die Einlagensicherung beginnen kann und soll. Vier Kriterien sollen darüber Aufschluss geben, ob oder inwieweit die Risiken der Banken in allen Euroländern auf ein vergleichbares Niveau gesunken sind: 1. die notleidenden Kredite, 2. die von den Banken gehaltenen Staatsanleihen, 3. die Angleichung des Insolvenzrechts, 4. die Umsetzung der Bail-in-Vorschriften. Diese vier Konvergenzkriterien sollen näher definiert und dann angewendet werden.

Mangel an Risikovorsorge

Es besteht weithin Einigkeit, dass das Insolvenzrisiko der Banken in Europa heute vor allem vom Umfang der notleidenden Kredite abhängt. In dieser Hinsicht bestehen auch die größten Unterschiede. Notleidende Kredite sind kein Problem für die Einlagensicherung, soweit die Banken sie offen ausweisen und eine angemessene Wertberichtigung und Risikovorsorge vornehmen. Aber das ist oft nicht der Fall. Diejenigen, die die Kredite vergeben haben, sind versucht, Geld nachzuschießen, damit der eigentlich insolvente Kreditnehmer seinen Schuldendienst weiter leisten kann und der eigene Fehler nicht offenbar wird. Solche faulen Kredite wird die europäische Bankenaufsicht nur in den seltensten Fällen entdecken. Man könnte sie anhand gesamtwirtschaftlicher Indikatoren wie Insolvenzquote, Rückgang der Immobilienpreise und Auslastung der Sachkapazitäten schätzen. Aber Peter Altmaier weiß selbst am besten, dass das politisch nicht durchsetzbar ist. Das Problem der verdeckten faulen Kredite ist schlicht nicht lösbar. Das sollte zu denken geben.

Wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt, einen faulen Kredit als notleidend auszuweisen, hat die Bank ein Interesse daran, eine zu geringe Wertberichtigung und Risikovorsorge vorzunehmen, denn die Risikovorsorge geht zu Lasten des Eigenkapitals. Mit kreativer Buchführung ist zu rechnen. Deshalb ist der Umfang der als notleidend ausgewiesenen Kredite ein Indikator der nicht abgedeckten Bankrisiken und sollte sich in den Beitragsätzen der Einlagenversicherung maßgeblich niederschlagen.

Um effizient zu sein müsste die Einlagensicherung Beitragssätze vorsehen, die einigermaßen risikogerecht sind. Wahrscheinlich würde das Insolvenzrisiko so – oder ähnlich – berechnet werden, wie es der Einheitliche Abwicklungsausschuss der Eurozone bereits für seinen Bankenabwicklungsfonds tut. Deshalb ist von erheblichem Interesse, inwieweit das Ausmaß der als notleidend ausgewiesenen Kredite in der Risikokomponente berücksichtigt wird, die der Abwicklungsausschuss bei der Berechnung seiner Beitragssätze zugrunde legt.

Risiken berechnen

Die Risikokomponente – ein Multiplikator – wird als gewichteter Durchschnitt von im Regelfall elf Indikatoren berechnet. Dabei geht es um Kapitalquoten, Liquiditätsquoten, Verschuldungsquoten, Handelsbestände, außerbilanzielle Positionen, Derivate usw. Die notleidenden Kredite sind nicht darunter. Einige wenige Indikatoren – z. B. die Kapitalquoten – hängen zwar unter anderem von den Wertberichtigungen und der Risikovorsorge ab, aber eher schwach und geringer als von anderen Einflüssen. Ihr Gewicht ist nicht sehr groß.

Es kommt hinzu, dass die Spannweite des Risikomultiplikators künstlich beschränkt wird. Der größtmögliche Wert wird mit 1,5, der geringstmögliche mit 0,8 festgesetzt. Das bedeutet, dass die Risikokomponente für die Banken der höchsten Risikoklasse noch nicht einmal doppelt so groß sein darf wie für die niedrigste Risikoklasse. In der Einlagensicherung der USA (FDIC) kann die höchste Risikokomponente dagegen das 18-fache der niedrigsten betragen. 2017 betrug der Anteil der als notleidend ausgewiesenen Kredite an der gesamten Kreditsumme 47 Prozent in Griechenland, 34 Prozent in Zypern, 18 Prozent in Portugal, 14 Prozent in Slowenien und 12 Prozent in Irland und Italien – aber nur zwei Prozent in Deutschland. Im Durchschnitt der Eurozone liegt der Anteil bei 5,15 Prozent – also ebenfalls deutlich höher als in Deutschland. Vergleicht man die einzelnen Banken in der Eurozone, so ist die Spanne zwischen den riskantesten und den stabilsten noch viel größer. Damit ist klar: die soliden Banken subventionieren von vorneherein die unsoliden.

Rat und Parlament haben die Risikoindikatoren des europäischen Abwicklungsfonds ausgewählt. Die Kommission hat die Gewichte und die Spanne im Rahmen einer delegierten Verordnung (2015/63) mit einfacher Mehrheit festgelegt. Sie kann die Gewichte und die Spanne auch mit einfacher Mehrheit ändern. Sie könnte zum Beispiel die Spanne weiter komprimieren, um die Banken in den exponiertesten Ländern (auf Kosten der anderen) noch stärker zu entlasten. Der Rat kann die Delegation nur mit qualifizierter Mehrheit widerrufen (Art. 290 Abs.2 AEUV). Das Übereinkommen über den Abwicklungsfonds (Rat 8457/14) kann zwar bei einer grundlegenden Änderung der Umstände gekündigt werden, aber über die Frage, ob sich die Umstände durch die Novellierung  grundlegend geändert haben, würde der Gerichtshof der Europäischen Union entscheiden (Art. 9 des Übereinkommens). Für die Banken der stabileren Länder und ihre Kunden – die Sparer – lauert hier ein beachtliches Risiko.

Wenn die Beitragssätze nicht risikogerecht sind, womit auch in der europäischen Einlagenversicherung zu rechnen ist, werden die Anreize der Banken verzerrt: sie gehen zu hohe Risiken ein. Wenn der Beitragstopf der Einlagensicherung – wie der Abwicklungsfonds – erst allmählich aufgefüllt wird, womit ebenfalls zu rechnen ist, besteht außerdem ein Anreiz, die Restrukturierung der maroden Banken aufzuschieben, bis der Topf sein endgültiges Volumen erreicht hat und die Kosten der Insolvenzen in größtmöglichem Umfang auf die anderen Euroländer abgewälzt werden können. Beides erhöht die Gefahren.

Abwicklungsfonds und Einlagensicherung werden damit begründet, dass die Risiken in einer größeren Versicherung stärker diversifiziert werden können. Aber es gibt – wie wir sehen – in diesem Fall gewichtigere Gründe, die gegen eine größere Versicherung sprechen. Auch im Markt ist nicht unbedingt die größte Versicherung die beste. Fast immer können sich mehrere Versicherungen halten. Nationale Einlagensicherungen gibt es bereits. Zentralisierung kann schaden.

Frühe Warnung

Schon 2012 haben 279 Wirtschaftsprofessoren davor gewarnt, die Haftungsunion auf den Bankensektor auszudehnen. Die Bundestagsabgeordneten von CDU/CSU und SPD haben die europäische Einlagensicherung am 04.11.15 in einem gemeinsamen Entschließungsantrag strikt abgelehnt. Ihre Parteifreunde im Europäischen Parlament hat das allerdings nicht davon abgehalten, im März 2016 für das Projekt zu stimmen.

Letzten Monat hat eine Gruppe von vierzehn französischen und deutschen Wirtschaftsprofessoren in einer gemeinsamen Erklärung dafür geworben, die europäische Einlagensicherung im Rahmen eines Verhandlungspakets zu beschließen, das auch zwei sinnvolle Reformen enthält: auch für Staaten soll es eine Insolvenzordnung geben, und auch Staatsanleihen sollen von den Banken in gewissem Umfang mit Eigenkapital hinterlegt werden. Diese beiden Reformen würden allen beteiligten Ländern nützen. Sie stellen daher nicht einen Nachteil dar, für den die schwächeren Volkswirtschaften entschädigt werden müssten – zum Beispiel, indem die anderen in einer gemeinsamen Einlagensicherung Haftung übernehmen. Das Paket der Professorengruppe ist daher kein Tauschgeschäft.  Außerdem darf man in der Einlagensicherung nicht nur das Verteilungsproblem sehen. Eine Zwangsversicherung, deren Beitragssätze bei weitem nicht risikogerecht sind, ist ineffizient und gehört daher in kein wie auch immer geartetes Verhandlungspaket.

Dieser Beitrag ist am 03.03.2018 in der Börsen-Zeitung erschienen.

Photo: Eduardo Merille (CC BY-SA 2.0)

Die Informationsflut durch das Internet hat auch ihre Schattenseiten. Oft sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. So ist es auch beim Fortgang der Air-Berlin-Pleite. Im Wahlkampf half die Bundesregierung mit einem Überbrückungskredit von 150 Millionen Euro der Kreditanstalt für Wiederaufbau, der so sicher sein sollte, wie das Amen in der Kirche. Heute ist klar, dass das nicht stimmte. Laut Insolvenzbericht wird der Steuerzahler wohl auf 84,1 Millionen Euro sitzen bleiben. Wer bürgt, wird halt gewürgt. Interessant dabei ist, dass die Beratungsgesellschaft PwC die Werthaltigkeit der Sicherheiten überprüft hat. PwC war in seiner Einschätzung zu dem Ergebnis gekommen, dass die Höhe der zu erwartenden Verkaufserlöse ausreichen müsste, teilte die Bundesregierung noch im Dezember auf meine Anfrage mit. Das traf nach dem gescheiterten Verkauf der österreichischen Tochtergesellschaft Niki an Lufthansa am Ende nicht mehr zu.

Umso mehr erstaunt es, dass PwC laut BamS im Auftrag des Insolvenzverwalters nunmehr prüft, ob eine mögliche Insolvenzverschleppung vorliegt. Mmh, denkt der kritische Betrachter. Warum wird mit diesem Mandat erneut die PwC beauftragt? War die Risikobewertung der Bundesbürgschaft vom August letzten Jahres so gut?

Air Berlin ist ein Lehrstück staatlicher Intervention und gescheiterter Industriepolitik. Dahinter steckt der Glaube, es sei Aufgabe der Regierung, des Wirtschaftsministers oder generell der Politik wirtschaftliche Entwicklungen in einzelnen Unternehmen beeinflussen zu können. Das endet meist im Desaster. Der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück wollte einmal eine zweite Großbank durch die Fusion von Commerzbank und Dresdner Bank in Deutschland schaffen. Deutschland brauche eine zweite Bank mit internationalem Anspruch. Heute gibt es keine mehr. Die Deutsche Bank ist nur noch in der Europaliga, die Dresdner Bank gibt es nicht mehr und die Commerzbank musste mit Steuergeldern gerettet werden.

Ähnlich war es bei Air Berlin. Der Niedergang von Air Berlin sollte die Lufthansa im internationalen Wettbewerb stärken, indem ihr die Filetstücke zugeschustert werden. Ausländische Gesellschaften sollten nicht zum Zug kommen, das könnte ja der heimischen Fluggesellschaft schaden. Deshalb wurde durch den Bürgschaftskredit des Bundes Zeit gewonnen, um der Lufthansa Vorteile zu verschaffen. Eine Pseudotransparenz wurde öffentlich zelebriert, tatsächlich wurde aber im Hinterzimmer des Wirtschaftsministeriums alles mit den Kranichen ausgekungelt.

Dass gerade das Marktwirtschaftsministerium in der Regierung Antreiber war, lässt besonders tief blicken. Man kann dankbar sein, dass diese Kungelwirtschaft erneut gescheitert ist, denn sie würde sonst fortdauernd Nachahmung finden. Jetzt kann und wird der ganze Sachverhalt aufgeklärt. Und da fängt es schon damit an, wer eigentlich die politische Verantwortung trägt. Das Kanzleramt, die zuständige Ministerin? Letztere ist noch geschäftsführend im Amt. Ihr Staatsekretär Matthias Machnig ebenso.

Photo: Joe Gatling from flickr.com (CC BY 2.0)

Es gibt vieles, was man am Koalitionsvertrag von Union und SPD kritisieren kann. Es sind der mangelnde Mut, die fehlende Perspektive und die Reformunfähigkeit, die man mit Recht bemängeln muss. Aber eigentlich ist es das Bild, das von Bürgern und Unternehmen gezeichnet wird, das besonders entlarvend ist. Es ist das Bild des fürsorglichen Staates, der seine Untertanen an die Hand nimmt, ihnen die Lebensrisiken abnehmen und sie behüten und beschützen will. Die Koalitionäre behandeln die Bürger eigentlich wie Schafe. Sie dürfen ab und zu blöken, aber ansonsten werden sie regelmäßig geschoren und eingehegt.

Wer sich nicht benimmt, wird an den Pranger gestellt. So heißt es im Koalitionspapier: „Wir unterstützen eine gerechte Besteuerung großer Konzerne, gerade auch der Internetkonzerne wie Google, Apple, Facebook und Amazon.“ Es mag inzwischen wohlfeil sein, auf die Internetgiganten einzuprügeln. Doch ist es nicht bezeichnend, wenn hier allein US-Konzerne aufgeführt werden? Wenn die angehende Koalition schon Unternehmen wegen ihrer Steuerpraxis kritisiert, dann sollte sie doch erstmal vor der eigenen Haustüre kehren. Der Staatskonzern Airbus hat seinen Unternehmenssitz nicht deshalb in das niederländische Leiden verlegt, weil dort die Innenstadt so schön ist oder der Käse so gut schmeckt, sondern weil der Konzern das attraktive niederländische Steuerrecht anwendet, um seine Steuerlast geschickt auf nahe null zu drücken.

Doch sei es drum – das Steuerrecht leidet letztlich unter dem Anspruch der Einzelfallgerechtigkeit, und es wird von der künftigen Koalition weiter verschlimmbessert werden. Die Koalition erkennt eine vermeintliche Ungerechtigkeit und versucht diese detailreich im Steuerrecht anzupassen. Dieser Wettlauf gegen die Steuerabteilungen der Konzerne ist letztlich ein Hase-und-Igel-Spiel, das immer zulasten der kleineren und mittleren Unternehmen geht, die sich keine großen Steuerberatungskanzleien oder -abteilungen im Unternehmen leisten können oder wollen, sondern anschließend mit dem dann noch komplizierten Steuerrecht leben müssen.

Ein gerechtes Steuerrecht sähe anders aus. Es würde nicht auf den Einzelfall, auf groß oder klein, auf die Herkunft des Unternehmens oder sein Geschäftsmodell schauen. Ein gerechtes Steuerrecht würde allgemeine, abstrakte Regeln schaffen, die für alle gleich sind. Dieser Anspruch müsste Leitbild für das Steuerrecht sein. So ein Steuerrecht würde auch Lobbyinteressen aushebeln. Mittelständler können sich meist teure Vertretungen in der Hauptstadt nicht leisten, sondern nur die großen Konzerne.

Daher sollten insbesondere CDU und CSU Ludwig Erhards „Wohlstand für Alle“ hernehmen. Darin schreibt Erhard sehr eindrücklich über die Sonderinteressen in der Politik: „Das Nachgeben gegenüber einzelnen Forderungen bestimmter Wirtschaftskreise verbietet sich auch wegen der Interdependenz allen wirtschaftlichen Geschehens. Jede einzelne Maßnahme in der Volkswirtschaft hat Fernwirkungen auch in Bereichen, die von den Aktionen gar nicht betroffen werden sollen, ja, von denen niemand bei flüchtiger Beobachtung glauben möchte, dass sie von den Ausstrahlungen berührt werden.“ Hier gilt es anzusetzen, wenn man den Anspruch hat, Wohlstand für alle zu ermöglichen.

Erstmals veröffentlicht bei der Ludwig-Erhard-Stiftung.

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Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Florian Hartjen, Head of Strategy & Development bei Prometheus das Freiheitsinstitut.

Es ist ein häufig geäußertes Vorurteil, dass sich Verfechter einer offenen Marktwirtschaft für etablierte Unternehmen einsetzen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Fürsprecher einer offenen Marktwirtschaft wünschen sich, dass Verbraucher in den Genuss möglichst vieler Angebote kommen – auch und vor allem von noch nicht etablierten Unternehmen. Alteingesessene Unternehmen haben offensichtlich gute Gründe, ihnen dienliche staatliche Eingriffe zu befürworten. Freunde der offenen Marktwirtschaft hingegen sprechen sich gegen derartige Bevorteilungen etablierter Anbieter aus, um bessere Voraussetzungen für Kooperation, Innovation und einen sinnvollen Ressourceneinsatz zu schaffen; vor allem zum Vorteil der Verbraucher.

Wider offene Märkte: Privilegien für etablierte Unternehmen

Etablierte Unternehmen erhalten regelmäßig viel politische Aufmerksamkeit. Gerät ein großes deutsches Unternehmen nach jahrelanger oder gar jahrzehntelanger Misswirtschaft ins Wanken, ruft dies immer wieder die Politik auf den Plan. Landesregierungen, Bundeswirtschaftsminister und häufig auch das Kanzleramt verfallen in hektischen Aktionismus, um eine in akute Schwierigkeiten geratene „Ikone der deutschen Wirtschaft“ zu retten. Air Berlin ist kein Einzelfall. Die lange Liste derartiger Interventionen umfasst Opel, Holzmann sowie die Commerzbank auf Bundesebene; Beiersdorf, Hapag-Lloyd und Salzgitter auf Landesebene.

Man könnte den Eindruck gewinnen, es sei Aufgabe einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Wirtschaftspolitik Unternehmen zu schützen. Nicht zuletzt deshalb ist es ein häufiges Vorurteil, dass eine offene Marktwirtschaft zuvorderst den etablierten Unternehmen dienen würde. Doch staatliche Rettungsaktionen für Unternehmen und andere wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen sind mit der Idee einer offenen Marktwirtschaft gerade nicht vereinbar.

Offene Marktwirtschaft: Kooperation, Allokation und Innovation

Eine Marktwirtschaft bietet die Möglichkeit zu vielfältigen freiwilligen Kooperationen zwischen Marktteilnehmern. Seien es Transaktionen zwischen Unternehmen und Konsumenten oder das gemeinsame Arbeiten an einem Ziel innerhalb eines Unternehmens – Menschen, die auf Märkten und in Unternehmen arbeitsteilig kooperieren, können Dinge leisten, zu denen der Einzelne nicht im Stande wäre. Eine offene Marktwirtschaft zeichnet sich zudem dadurch aus, dass Käufer, Verkäufer, Arbeitgeber und Arbeitnehmer frei entscheiden können, welche Leistungen sie erbringen und mit wem sie einen Vertrag schließen. Staatliche Markteintrittsbarrieren, die einigen Marktteilnehmer die freiwillige Kooperation verwehren, unterminieren die offene Marktwirtschaft.

Gleichzeit verringert die offene Marktwirtschaft negative Auswirkungen von Fehleinschätzungen. Setzt ein Unternehmen Ressourcen auf eine Weise ein, die von Verbrauchern nicht ausreichend gutgeheißen wird, erzielt es Verluste. In der offenen Marktwirtschaft werden solche Unternehmen früher oder später durch jene ersetzt, die durch Gewinne von ihren Kunden das Signal gesandt bekommen, dass sie den Ressourceneinsatz des Unternehmens befürworten. Dieser fortwährende Auswahlprozess, maßgeblich gelenkt durch die Verbraucher, mindert den verschwenderischen Umgang mit Ressourcen. Erhält der Staat durch seine Maßnahmen Unternehmen am Leben, deren Produkte von den Verbrauchern nicht mehr in ausreichender Weise nachgefragt werden, bleiben Ressourcen weiterhin an diese Unternehmen gebunden und werden nicht bestmöglich eingesetzt.

Die offene Marktwirtschaft minimiert durch das Ausscheiden ineffizienter Unternehmen nicht nur die Verschwendung von Ressourcen. Sie ist gleichfalls ein Innovationsgarant, da sie den Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Lösungen für ein Problem ermöglicht. Der Wettbewerb zwischen Unternehmen um Konsumenten ähnelt einer endlosen Casting-Show, bei der die Konsumenten die besten Kooperationspartner suchen und Unternehmen fortwährend als Kandidaten in die Show einsteigen können. Nur wer mit guter Produktqualität und angemessenen Preisen Konsumenten von den Vorteilen seiner Güter überzeugen kann, ist als Kooperationspartner interessant. Innovationen durch etablierte Unternehmen und Marktneulinge werden so angeregt.

Regulierungen: Häufig im Interesse etablierter Unternehmen

Nicht nur in Notsituationen können sich etablierte Unternehmen regelmäßig auf die Hilfe des Staates verlassen. Auch in ruhigen Zeiten setzen, wie schon Adam Smith zu berichten wusste, insbesondere etablierte Unternehmen auf den Staat, um den für sie unangenehmen Druck durch Konkurrenten zu mindern. Um zu verhindern, dass ihre Kunden bessere Kooperationsangebote anderer Unternehmen erhalten, sind sie versucht, staatliche Regulierung dahingehend zu beeinflussen, dass ihre Marktposition geschützt wird. Wieso stehen Ihre Chancen diesbezüglich nicht schlecht?

Die simple Logik: Gut organisierte und kleine Interessengruppen sind besonders schlagkräftig. Beispielsweise ist ein Verband, der einige weniger oder ein paar hundert Unternehmen vertritt, gut organisiert im Vergleich zu den Millionen Kunden dieser Unternehmen und den Steuerzahlern. In Verbänden organisierte Unternehmen können sich recht schnell auf gemeinsame Positionen einigen und ihre Koordination erfordert relativ wenig Aufwand. Eine gemeinsame Position der Verbraucher zu ermitteln und wirkungsvoll zu koordinieren, ist nahezu aussichtslos.

Fronten, die so entstehen, sind mitunter erstaunlich. So setzt sich beispielsweise eine Arbeitsgemeinschaft kleiner und mittlerer Unternehmen gegen die Freihandelsabkommen CETA und TTIP ein, während sich der BDI für TTIP ausspricht. Die kleinen und mittleren Unternehmen fürchten die Konkurrenz ausländischer Unternehmen auf ihren Heimatmärkten. Doch es ist gerade die Konkurrenz unter Unternehmen, die zum Wohle von Verbrauchern wirkt.

Konkrete Beispiele staatlich durchgesetzter Interessenpolitik finden sich viele. Prominent sind in Deutschland das Verbot von Fahrdienstleistern wie Uber und die Preisbindung für Bücher oder Medikamente. Immer wieder wird Verbrauchern der Zugang zu Kooperationspartnern verwehrt, die ihnen gegebenenfalls bessere Angebot machen könnten – häufig mit Hinweisen auf den Schutz der Verbraucher selbst.

„Für offene Märkte“ nicht „für Unternehmen“

Eine durch offene Märkte geprägte Wirtschaftsordnung gibt Marktteilnehmer die Freiheit, zwischen Kooperationspartnern zu wählen. Wer als Kooperationspartner zu unattraktiv ist, hat das Nachsehen. Anders als im Falle Air Berlins geschehen, sollte der Staat etablierten Unternehmen, auch wenn sie straucheln, nicht helfend zur Seite stehen. Wer für offene Märkte eintritt, steht deshalb in vielen Fällen nicht auf der Seite alteingesessener Unternehmen. Vielmehr stellt er sich den Interessen etablierter Unternehmen entgegen, die von etwaigen Wettbewerbsbarrieren profitieren.

Der offene Markt ist gerade kein Raum, in dem Unternehmen wie Haifische und unterstützt von Marktbefürwortern wehrlose Verbraucher ausnehmen. Ist ein Markt offen, werden Kooperation, Innovation und der effiziente Ressourceneinsatz von Unternehmen befördert. Von der Teilnahme an diesem Positivsummenspiel profitieren in ihren Rollen als Konsumenten, Arbeitnehmer und Unternehmer am Ende alle Mitglieder der Gesellschaft.

Erstmals veröffentlicht bei IREF.

Photo: AmberAvalona from pixabay (CC 0)

Martin Schulz ist sehr stolz auf das von ihm federführend formulierte Europa-Kapitel des nun vorliegenden Koalitionsvertrags. Das kann er auch sein, trägt es doch im Wesentlichen seine Handschrift. Doch ist dieses Kapitel wirklich europafreundlich? Trägt es dazu bei, dass die EU wirtschaftlich mit anderen Regionen dieser Welt mithalten kann?

Um diese Frage zu beantworten, muss frei von Europalyrik definiert werden, was überhaupt europafreundlich ist? Was macht die Europäische Union, wie es im Koalitionsvertrag heißt, zu einem „historisch einzigartigen Friedens- und Erfolgsprojekt“? Warum schlagen sich Franzosen und Deutsche nicht mehr die Köpfe ein? Warum machen Holländer im Sauerland Urlaub und Deutsche am Ijsselmeer? Warum fahren deutsche Schüler zum Austausch nach England und englische Schüler nach Deutschland? Es sind sicherlich die schlimmen historischen Erfahrungen bis Mitte des letzten Jahrhunderts, die die Europäer zur Vernunft gebracht haben. Und es ist die Neugier auf beiden Seiten, die Kultur und die Tradition des jeweils anderen kennenzulernen. Es ist aber vor allem auch, die Förderung der Kooperation und die Nichtbehinderung durch den jeweiligen Staat. Das hat viel mit dem immer noch vorherrschenden Wirtschaftssystem, der Marktwirtschaft, zu tun. Zwar gibt es unterschiedliche Traditionen in Großbritannien, in Osteuropa, in Deutschland, in Frankreich oder in Südeuropa, aber die Europäische Union hat diese marktwirtschaftliche Ordnung bislang eher gefördert, als gehemmt. Handelsschranken wurden eher ab- als aufgebaut. Der Schutz der heimische Industrie oder von Dienstleistungsunternehmen gegenüber europäischer Wettbewerbern wurde eher ab- als aufgebaut. Und die EU-Wettbewerbskommission in Brüssel war bei der Durchsetzung des diskriminierungsfreien Zugangs zu den Märkten der jeweiligen Mitgliedsstaaten eher progressiv als defensiv.

Doch jetzt droht durch die Debatte um die EU-Entsenderichtlinie eine marktfeindliche Gegenbewegung. Diese hat ihren Ursprung zwar nicht in Deutschland und bei der SPD, sondern bei Emmanuel Macron, sie kann aber nur durch die große Koalition in Berlin tatsächlich durchgesetzt werden. Bislang galt schon, dass Unternehmen, die in einem anderen Land mit eigenen Mitarbeitern eine Dienstleistung erbringen zu den dortigen Mindestlöhnen bezahlt werden müssen. Das war bereits das Einfallstor für nationale Abschottung. Denn sämtliche Länder in der EU haben eine enorme Bürokratie aufgebaut, die es Unternehmen sehr schwer machen, in einem anderen Land Dienstleistungen zu erbringen. Denn das Land, in dem die Dienstleitung erbracht wurde, muss ja schließlich kontrollieren, ob der Mindestlohn auch bezahlt wird, ob die Arbeitszeitgesetze eingehalten werden und getrennte Toiletten vorhanden sind. Bald wird dieses Prinzip auf die Spitze getrieben. „Das Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Ort in der EU wollen wir in einem Sozialpakt stärken“, heißt es jetzt im Koalitionsvertrag. Das ist Eins-zu-Eins auch das Ansinnen von Macron. Doch ist das wirklich sozial? Wozu führt dieses Prinzip?

Führt es zu Wohlstand und zur Reduktion der hohen Arbeitslosigkeit in Frankreich und anderswo? Sicher nicht. Unternehmen, die in Griechenland, Portugal oder auch Slowenien beheimatet und heute in Paris, nächste Woche in Amsterdam und übernächste Woche in Tallin tätig sind, müssen den gleichen Mitarbeitern jede Woche ein anderes Gehalt bezahlen und dies gegenüber den örtlichen Behörden nachweisen. Entwickelte Länder in der EU bauen so Eintrittshürden auf, um ihre Dienstleistungsmärkte gegenüber ausländischen Anbietern abzuschotten. Es sind Handelsschranken, die die reichen gegenüber den ärmeren Ländern aufbauen und damit den Geist des Binnenmarktes untergraben. Es ist doch ein Treppenwitz, wenn die Entfaltungsmöglichkeiten in den ärmeren Ländern erst durch eine verschärfte Entsenderichtlinie gehemmt und verhindert werden und anschließend Deutschland seinen Beitrag in den EU-Haushalt großzügig erhöht, um Transferleistungen für die hohe Arbeitslosigkeit im Süden Europas zu finanzieren.

Der Denkfehler dabei ist, den Binnenmarkt wie einen statischen Kuchen zu betrachten, der immer gleich groß ist. Dabei wächst der zu verteilende Kuchen in einer Marktwirtschaft. Er wird größer, bunter und schöner. Am Ende sind die Stücke für jeden größer und besser, wenn sich beide Seiten darauf einlassen. Einlassen heißt dabei, dass dies nicht automatisch passiert, sondern dass offene Märkte Anpassungen und Veränderungen erforderlich machen, ansonsten fallen Länder ökonomisch zurück. Mangelnde Anpassung kann aber nicht durch eine Verschärfung der Entsenderichtlinie verhindert werden, sondern die Fallhöhe steigt durch das Hinausschieben nur um so mehr. Wer dies nicht erkennt, akzeptiert, dass der Kuchen klein und hässlich bleibt, vielleicht sogar noch kleiner wird.

Das muss sich die SPD vorwerfen lassen. Sie will nicht wirklich, dass der Kuchen in der EU größer wird. Sie will ihr Klientel schützen. Und die Union muss sich vorwerfen lassen, dass sie dies zulässt und sich damit am Erbe von Ludwig Erhard versündigt.

Erstmals veröffentlicht bei Tichys Einblick.